Musik ist ein Instrument der Emotionen. Aus den Tönen entstehen unmittelbar Gefühle. Sie lassen den Hörer abschweifen, euphorisch oder traurig werden, er verspürt Wut oder Melancholie, er träumt oder versinkt in sich selbst.
So gern sich der Mensch seinen Gefühlen auch überlässt, ob beim Musikhören oder anderen Gelegenheiten - zum kühlen Denken jedoch scheinen sie nicht geeignet.
Gefühl und Verstand sind nicht miteinander vereinbar. Diese Auffassung liegt auch der Lehre vom Menschen als einem animal rationale zu Grunde. Der Mensch ist im Kern ein rationales Tier, Gefühle sind nur zweitrangig. Diese Lehre findet sich nicht nur in altehrwürdigen philosophischen Büchern, sondern liegt auch den klassischen Kognitionswissenschaften zu Grunde. Für sie ist der Mensch ein System, das nach rein logischen Regeln Informationen verarbeitet. Diese Idee, so der Philosoph Achim Stephan von der Universität Osnabrück, hat sich sogar in manch populärem Fernsehserienhelden niedergeschlagen.
" Im herkömmlichen Sinn wäre also der klassische kognitive Akteur ein Mister Spock, der alles Wesentliche wahrnimmt, ohne irgendwelchen Einfluss von Gefühlen Überlegungen anstellt und natürlich dann zu den richtigen Handlungen kommt. Das wäre der klassische kognitive Akteur. Der emotionale wäre jemand, der mitunter auch sorgfältiges Nachdenken überspringt, sich von seinen Gefühlen leiten lässt, aus dem Bauch heraus das eine oder andere tut. Das sind so die Schablonen unter denen man dies fasst. "
Allerdings hält sich heute kaum mehr jemand sklavisch an diese Schablonen. Man lässt sich am Schreibtisch von angenehmer Musik berieseln, um in die richtige Denk-Stimmung zum zu kommen. Man weiß, dass man auch auf seine emotionale Intelligenz bauen muss, also die eigenen und die Gefühle anderer Menschen verstehen soll. Und sogar die klassischen Kognitionswissenschafter haben inzwischen gelernt: Wenn man informationsverarbeitende Systeme bauen will, die autonom ihre Umwelt erkunden sollen, dann müsse diese nicht nur logisch denken könne, sondern auch so etwas wie Emotionen haben.
Nun erhalten solche Tendenzen auch ihre philosophischen Weihen: "Animal emotionale" - unter diesem Titel hat Achim Stephan zusammen mit anderen Philosophen der Universität Osnabrück und mit Neurowissenschaftlern der Universität Bonn ein mehrjähriges Forschungsprojekt gestartet, das von der Volkswagenstiftung gefördert wird. Der Mensch soll nicht mehr vordringlich als rationales, sondern als emotionales Tier verstanden werden. Damit ist jedoch kein neues Dogma gemeint, welches verkündet: Früher war der Verstand das allein Entscheidende, heute ist es das Gefühl.
" Das wäre natürlich die falsche Botschaft. Die Idee, weshalb wir das Projekt "animal emotionale" genannt haben - natürlich greift es den Begriff "animal rationale" auf und grenzt sich davon ab - aber es war nicht das Bestreben, eine neue Definition vorzuschlagen, sondern den Augenmerk auf ein Merkmal zu richten, das bisher zu wenig beachtet wurde.
Die Wissenschaftler möchten jedoch zeigen, dass kaum eine der Eigenschaften, mit denen der Mensch in der Geistesgeschichte bisher charakterisiert wurde, ohne Emotion auskommt. Zum Beispiel, wenn der Mensch als intentionales Wesen gekennzeichnet wird. "
Intentionalität bedeutet: Der Mensch ist ein Wesen, das sich immer auf Sachverhalte der Welt bezieht. Wenn er urteilt, dann urteilt er über etwas, wenn er spricht, dann spricht er über etwas, immer richtet er sich auf etwas als Gegenstand.
Schon der Begriff der Intentionalität, so Achim Stephan, sei aber ohne Emotion eigentlich gar nicht denkbar. Denn wir beziehen uns ja eben nicht nur distanziert und rein gedanklich auf die Welt. Vielmehr stehen wir immer schon als ganzes Subjekt in bestimmten Situationen und erleben diese auch emotional.
" Indem wir emotional empfinden, ist es in der Regel immer etwas, ein Ereignis, ein Vorgang, ein Sachverhalt in der Welt, der die Emotion in uns auslöst. Und zugleich beziehen wir uns in dieser Emotion auf uns selbst, nämlich: wie es für uns ist, die wir dieser Situation ausgesetzt sind. Ein und dasselbe Vorkommnis mag in dem einen Freude und in dem anderen Ärger auslösen oder Schadenfreude und Trauer. Also das hängt sozusagen davon ab, welche Wünsche, welche Überzeugungen derjenige, dem dieses zustößt, hat, wie es das für ihn ist, in dieser Situation zu sein und diese Art von Bezug auf die Welt ist keine neutrale. Die ist immer mit einer bestimmten Wertigkeit für uns verbunden. "
Die Wissenschaftler des animal- emotionale- Projekts sprechen daher dezidiert von einer affektiven Intentionalität, von einem grundlegenden emotionalen Weltbezug des Menschen. Gefühle, so der Osnabrücker Philosoph Jan Slaby, sind generell für die Qualität unseres Lebens verantwortlich - und zwar auch dann, wenn wir gar nicht glauben, besonders emotional erregt zu sein.
" Stellen sie sich vor, sie hätten gar keine Gefühle, was wäre dann? Alles wäre einerlei, wäre grau und neutral. Es wäre dann fraglich, ob sich überhaupt noch von Lebensqualität sprechen ließe. Und wenn man das bedenkt, dann sieht man, was für eine zentrale Rolle Gefühle spielen und hier sind nicht nur die Gefühle gemeint, die so große Gefühlswallungen sind, die man ab und zu hat, wenn man sich mal tierisch aufregt oder wenn was tolles passiert und man euphorisch ist, sondern eben auch die ständigen Hintergrundgefühle, die alltäglichen Gefühle, die Gefühle, die einem insgesamt die Welt erschließen, sei es positiv oder negativ und das wurde oft unterschätzt, weil man sich immer wieder auf diese Ausbrüche konzentriert hat. "
Die Bedeutung dieser Hintergrundgefühle und Stimmungen wird einem meist erst dann bewusst, wenn sie gestört sind oder destruktiv werden.
Depressive Menschen etwa nehmen plötzlich alles nur noch unter einem Schleier von Trauer wahr. Schizophrene fühlen sich als unbelebte Körper, die in einer irrealen, bedrohlichen Welt leben. Menschen, die unter der so genannten Capras-Störung leiden, glauben gar, ihre Lebenspartner oder ihre Eltern seien durch Doppelgänger ersetzt worden. Diese Menschen haben alle das emotionale Grundvertrauen in die Welt verloren, das uns normalerweise trägt.
Die emotionalen Grundlagen psychischer Störungen, meint daher Henrik Walter von der Universität Bonn, sind kaum zu überschätzen. Der Psychiater, Neurowissenschaftler und Philosoph ist neben Achim Stephan der zweite Leiter des Projekts "animal emotionale".
" Es ist ganz typisch, dass vor einem Wahn eigentlich eine Wahnstimmung steht, das bedeutet, es ist alles irgendwie verändert, alles ist irgendwie anders, unheimlich, gewisse Dinge haben eine besondere Bedeutung und man fragt sich oder die Patienten fragen sich die ganze Zeit. Was ist hier los, was ist hier passiert? Und man erklärt sich eigentlich heutzutage die Wahnentstehung so, dass man aus einer solchen Stimmung heraus an sich zufälligen Ereignissen eine Bedeutung zu misst, dafür ein Erklärung sucht und diese Erklärung ist dann nachher das, was wir Wahn nennen. Zum Beispiel, dass man das Gefühl hat, das, was man denkt, gehört nicht mehr einem selber, da versucht man dann eine Erklärung, und die Erklärung wäre dann zum Beispiel: der CIA hat eine Elektrode ins Gehirn eingepflanzt. "
Im Alltagsleben haben Emotionen natürlich vor allem auch eine positive Funktion: sie vermitteln zwischen Kognition und Handeln, zwischen Erkennen und Tun. Stephan:
" Im Menschen ist es einfach so, dass uns Emotionen erlauben, blitzschnell Orientierung zu erhalten über komplexe Situationen: wir verspüren eine Atmosphäre, wir spüren die Veränderung einer Atmosphäre. Insofern sind Emotionen für uns auch sehr wichtige Ratgeber, wenn wir dann die Situation reflektieren wollen. Zugleich bietet sich in vielen Situationen auch noch eine Handlungssteuerung an. Also es wird auch eine Handlungsbereitschaft mit der Emotion erworben. Wenn in uns große Angst entsteht, wird man nämlich geneigt sein, zu gucken, wie können wir der Situation ausweichen, wie können wir der entgehen, vielleicht wegrennen oder es schlägt um in Aggression, wenn man den Eindruck hat, man ist der Situation gewachsen, und es ist besser jetzt, entgegenzutreten. Das wären unterschiedliche Handlungsbereitschaften, die mit diesem Empfinden zugleich zur Verfügung gestellt werden. "
Versucht man zusammenzufassen, welche Rolle Gefühle für den Menschen spielen können, dann kommt nach alldem eine eindrucksvolle Liste zustande.
Emotionen drücken aus, wie wir bestimmte Situationen erleben; sie bewerten Sachverhalte; sie geben uns schnelle Orientierungen; sie bereiten Handlungen vor und vermitteln zwischen Erkennen und Handeln.
Wie aber kann man Bedeutung der Gefühle auf den Punkt bringen, wenn es um die Beziehung zwischen Kognition und Emotion geht? Die Wissenschaftler des animal-emotionale-Projekts gehen folgender These nach: Emotionen sind mehr sind als eine bloße Ergänzung der menschlichen Rationalität. Jan Slaby:
" In den Gefühlen selber steckt Kognition drin, aber nicht als separate Komponente, sondern als etwas, was ein Gefühl als solches ausmacht. Und ich würde wirklich eher sagen: Gefühle sind Erkenntnisse, eben Erkenntnisse mit integrierter subjektiver Bewertung, aber man muss hier sprachlich aufpassen, weil es klingt immer so, als würde man hier verschiedene Komponenten annehmen, aber man muss einfach sagen: es ist ein einheitlicher Prozess, in dem das einfach drinsteckt. Nehmen wir Empörung. wenn ich empört bin, dann betrachte ich die Handlung eines anderen als ungerecht, vielleicht als moralisch verwerflich, dazu muss ich natürlich diese Handlung erkennen und irgendwie einschätzen. Das ist ein kognitiver Prozess, aber dieser Prozess ist eben in diesem Fall der Empörung das Gefühl selbst und dann steckt da unmittelbar ein Bewertung drin, und oft bin ich dann auch direkt motiviert, einzugreifen, mich zu beschweren, den anderen zur Rede zu stellen oder anzuzeigen etc. Insofern sind Emotionen immer auch schon Kognitionen. Emotionen ohne jeglichen Anteil von Kognitionen wären einfach blinde Impulse, die mag es geben, aber das ist eben nicht typisch für menschliche Emotion. "
Wenn man den Emotionen selbst kognitiven Gehalt zuschreibt, bringt man natürlich das bisher klar gegliederte Begriffsfeld von Verstand und Gefühl völlig durcheinander. Und Sieht sich einem Berg neuer und komplizierter Fragen gegenüber:
Wenn Gefühle kognitiv sind, wirken sie dann auch schon wie Begriffe? Worin besteht dann überhaupt der Unterschied zwischen Kognition, Erkennen, Rationalität und Emotionalität? Kann man überhaupt noch von einer Wechselbeziehung von Kognition und Emotion sprechen, sind sie nicht beide vielmehr nur zwei Aspekte eines einheitlichen Ganzen?
Die Wissenschaftler des animal-emotionale-Projekts glauben nicht, den Knäuel dieser Fragen rasch in einer umfassenden Theorie der Emotion auflösen zu können. Aber sie möchten damit beginnen, die Begriffe genauer zu erklären und zu differenzieren. Dem dient auch der interdisziplinäre Ansatz des Projekts. Das von der Neurowissenschaftlergruppe um Henrik Walter in Bonn beigesteuerte Wissen über das Gehirn soll dabei helfen, die komplizierten Fragen über die Beziehung zwischen Kognition und Emotion anzugehen. Denn auch in der Hirnforschung hat sich in Bezug auf dieses Thema in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen. So gab es lange Zeit die Vorstellung, dass Rationalität und Emotionalität auch im Gehirn klar voneinander getrennt seien: der hinter der Stirn liegende präfrontalen Kortex sei für die höhere Denkleistungen zuständig, das so genannte Limbische System dagegen für die reinen Gefühle. Ein Irrtum, so Henrik Walter.
" Die reine Emotion gibt es gar nicht, auch neuroanatomisch nicht, wenn wir z.B. emotionale Zustände erfahren und dann gucken wir was im Gehirn passiert, dann ist der präfrontale Kortex meistens daran beteiligt, wahrscheinlich in Form dessen, dass er diese Limbischen Systeme hoch- oder runterreguliert, aber es gibt manche Leute, die sagen, es gibt gar keine Emotionserfahrung ohne Emotionsregulation, dass das also notwendigerweise immer miteinander vermischt passiert. "
Solche Vermischungen von Kognition und Emotion lassen sich auch in speziellen Hirnsystemen beobachten.
" Als ein typisch emotionales System würde man das Belohnungssystem ansehen, was man stimulieren kann mit Verhaltensweisen oder mit Kokain oder bei Ratten mit Elektroden und das hat man früher als Lustzentrum bezeichnet. Nun weiß man heute, dass man neurobiologisch trennen kann zwei Funktionen dieses Systems, nämlich einmal dieses Lustempfinden und das Belohnungssystem ist außerdem eigentlich damit beschäftigt, Vorhersagen zu machen, und das ist ein kognitive Funktion, d.h. es macht Vorhersagen über die Welt, über Ereignisse in der Welt und vergleicht dann, ob diese Ereignisse eingetroffen sind und wenn sie nicht eingetroffen sind oder besser sind als erwartet, gibt es eine Meldung. "
Henrik Walters Schlussfolgerung aus den Erkenntnissen der Hirnforschung lautet daher:
" Also man kann eher sagen, dass es Kognition ohne Emotion gibt als umgekehrt. "
Alle Emotionen bewerten und analysieren immer schon, sie machen also kognitive Aussagen über Sachverhalte. Umgekehrt sind zwar auch kognitive Leistungen stark mit Emotionen verbunden, sie können sich dieser aber auf einer höheren, abstrakten Ebene tendenziell entledigen.
Etwa wenn man abstrakte Kategorien anwendet, um Sachverhalte zu klassifizieren. Oder wenn man sich - etwa vor Gericht - an strikte Verhaltensregeln hält. Oder wenn man sein Handeln an allgemeinen Prinzipien ausrichtet, zum Beispiel am kategorischen Imperativ von Immanuel Kant: Handle immer so, dass die Maxime deines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann.
Es gibt also Stufen im Verhältnis zwischen Emotion und Kognition: Von kognitiven Emotionen über emotionale Kognition bis hin zu nahezu emotionsfreien rationalen Kognitionen. Aber selbst bei letzteren ist fraglich, ob sie wirklich völlig emotionsfrei sind. Denn auch wenn es etwa um rationales moralisches Handeln geht, so Henrik Walter, spielen Gefühle eine wichtige Rolle.
" Also Emotionen spielen in der Moral sicherlich eine Rolle bei der Festlegung, d.h. es gibt gewisse Dinge, auf die man sich verpflichtet innerlich. Und zu spüren, dass man auf etwas innerlich verpflichtet ist, dafür spielt Emotion eine Rolle. Selbst bei Kant im Übrigen, obwohl Kant versucht, die Emotion völlig aus der Moralphilosophie herauszudrängen, schleichen sie sich durch die Hintertür wieder ein, nämlich in der Achtung vor dem Moralgesetz. "
Neurowissenschaftler legten Probanden alte moralische Streitfragen vor und beobachteten mit so genannten bildgebenden Verfahren, was dabei in ihrem Gehirn geschieht. Verblüffend waren die Ergebnisse dabei vor allem bei den Versuchspersonen, die eher einer kategorischen Vernunftethik verpflichtet waren, also nach ehernen rationalen Prinzipien urteilten. Walter:
" Also wenn sie zum Beispiel sagen, okay, ich könnte jetzt, indem ich einen Menschen umbringe, hundert retten, würde der Kantianer sagen: "Nein". Und die meisten Leute, die sagen "Nein" bei denen sind diese emotionalen, intuitiven, nach innen gerichteten Areale aktiv. Das ist erst einmal ein kontraintuitiver Befund, der weiterer Erklärung und Aufklärung bedarf, eine Sache, die wir zum Beispiel gerade untersuchen. "
Ist das nur die Achtung vor dem moralischen Gesetz, die hier die emotionalen Areale arbeiten lässt? Oder ist prinzipienhaftes moralisches Handeln insgesamt noch viel emotionaler, als man bisher glaubte? Es gibt viele Fragen, denen das Projekt animal emotionale bis zum Jahr 2008 nachspüren wird. Die praktische Stoßrichtung des Projekts ist aber jetzt schon klar:
Die Maxime des animal emotionale heißt: Erstens: Lerne, auf Deine Gefühle zu achten.
" Aber auch das muss man natürlich trainieren, weil erstaunlicherweise viele Leute ihre Gefühle gar nicht richtig einschätzen können. Das heißt, man kann Angst haben und hält das für Ekel, man kann glauben, dass man aggressiv ist, obwohl man in Wirklichkeit traurig ist, d. h. dieses Horchen auf die Gefühle, dieses Kennenlernen und dieses Differenzieren der Gefühle selber ist eine kognitive Leistung, die trainiert werden muss. "
Und zweitens: Lerne, Gefühl und Verstand immer wieder neu aufeinander zu beziehen, wenn du eine Entscheidung treffe sollst.
" Das wäre so eine Art Gleichgewicht, wo sowohl die Art und Weise, wie sich eine Entscheidung selber anfühlt, als Korrektiv auftreten kann, aber umgekehrt dieses Gefühl wiederum zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden kann. Und wenn sich das in ein ausgewogenes Gleichgewicht bringen lässt, dann glaube ich, hat man eine gute Entscheidung getroffen, die man jederzeit auch verteidigen kann, egal welche Einwände dann kommen. "
So gern sich der Mensch seinen Gefühlen auch überlässt, ob beim Musikhören oder anderen Gelegenheiten - zum kühlen Denken jedoch scheinen sie nicht geeignet.
Gefühl und Verstand sind nicht miteinander vereinbar. Diese Auffassung liegt auch der Lehre vom Menschen als einem animal rationale zu Grunde. Der Mensch ist im Kern ein rationales Tier, Gefühle sind nur zweitrangig. Diese Lehre findet sich nicht nur in altehrwürdigen philosophischen Büchern, sondern liegt auch den klassischen Kognitionswissenschaften zu Grunde. Für sie ist der Mensch ein System, das nach rein logischen Regeln Informationen verarbeitet. Diese Idee, so der Philosoph Achim Stephan von der Universität Osnabrück, hat sich sogar in manch populärem Fernsehserienhelden niedergeschlagen.
" Im herkömmlichen Sinn wäre also der klassische kognitive Akteur ein Mister Spock, der alles Wesentliche wahrnimmt, ohne irgendwelchen Einfluss von Gefühlen Überlegungen anstellt und natürlich dann zu den richtigen Handlungen kommt. Das wäre der klassische kognitive Akteur. Der emotionale wäre jemand, der mitunter auch sorgfältiges Nachdenken überspringt, sich von seinen Gefühlen leiten lässt, aus dem Bauch heraus das eine oder andere tut. Das sind so die Schablonen unter denen man dies fasst. "
Allerdings hält sich heute kaum mehr jemand sklavisch an diese Schablonen. Man lässt sich am Schreibtisch von angenehmer Musik berieseln, um in die richtige Denk-Stimmung zum zu kommen. Man weiß, dass man auch auf seine emotionale Intelligenz bauen muss, also die eigenen und die Gefühle anderer Menschen verstehen soll. Und sogar die klassischen Kognitionswissenschafter haben inzwischen gelernt: Wenn man informationsverarbeitende Systeme bauen will, die autonom ihre Umwelt erkunden sollen, dann müsse diese nicht nur logisch denken könne, sondern auch so etwas wie Emotionen haben.
Nun erhalten solche Tendenzen auch ihre philosophischen Weihen: "Animal emotionale" - unter diesem Titel hat Achim Stephan zusammen mit anderen Philosophen der Universität Osnabrück und mit Neurowissenschaftlern der Universität Bonn ein mehrjähriges Forschungsprojekt gestartet, das von der Volkswagenstiftung gefördert wird. Der Mensch soll nicht mehr vordringlich als rationales, sondern als emotionales Tier verstanden werden. Damit ist jedoch kein neues Dogma gemeint, welches verkündet: Früher war der Verstand das allein Entscheidende, heute ist es das Gefühl.
" Das wäre natürlich die falsche Botschaft. Die Idee, weshalb wir das Projekt "animal emotionale" genannt haben - natürlich greift es den Begriff "animal rationale" auf und grenzt sich davon ab - aber es war nicht das Bestreben, eine neue Definition vorzuschlagen, sondern den Augenmerk auf ein Merkmal zu richten, das bisher zu wenig beachtet wurde.
Die Wissenschaftler möchten jedoch zeigen, dass kaum eine der Eigenschaften, mit denen der Mensch in der Geistesgeschichte bisher charakterisiert wurde, ohne Emotion auskommt. Zum Beispiel, wenn der Mensch als intentionales Wesen gekennzeichnet wird. "
Intentionalität bedeutet: Der Mensch ist ein Wesen, das sich immer auf Sachverhalte der Welt bezieht. Wenn er urteilt, dann urteilt er über etwas, wenn er spricht, dann spricht er über etwas, immer richtet er sich auf etwas als Gegenstand.
Schon der Begriff der Intentionalität, so Achim Stephan, sei aber ohne Emotion eigentlich gar nicht denkbar. Denn wir beziehen uns ja eben nicht nur distanziert und rein gedanklich auf die Welt. Vielmehr stehen wir immer schon als ganzes Subjekt in bestimmten Situationen und erleben diese auch emotional.
" Indem wir emotional empfinden, ist es in der Regel immer etwas, ein Ereignis, ein Vorgang, ein Sachverhalt in der Welt, der die Emotion in uns auslöst. Und zugleich beziehen wir uns in dieser Emotion auf uns selbst, nämlich: wie es für uns ist, die wir dieser Situation ausgesetzt sind. Ein und dasselbe Vorkommnis mag in dem einen Freude und in dem anderen Ärger auslösen oder Schadenfreude und Trauer. Also das hängt sozusagen davon ab, welche Wünsche, welche Überzeugungen derjenige, dem dieses zustößt, hat, wie es das für ihn ist, in dieser Situation zu sein und diese Art von Bezug auf die Welt ist keine neutrale. Die ist immer mit einer bestimmten Wertigkeit für uns verbunden. "
Die Wissenschaftler des animal- emotionale- Projekts sprechen daher dezidiert von einer affektiven Intentionalität, von einem grundlegenden emotionalen Weltbezug des Menschen. Gefühle, so der Osnabrücker Philosoph Jan Slaby, sind generell für die Qualität unseres Lebens verantwortlich - und zwar auch dann, wenn wir gar nicht glauben, besonders emotional erregt zu sein.
" Stellen sie sich vor, sie hätten gar keine Gefühle, was wäre dann? Alles wäre einerlei, wäre grau und neutral. Es wäre dann fraglich, ob sich überhaupt noch von Lebensqualität sprechen ließe. Und wenn man das bedenkt, dann sieht man, was für eine zentrale Rolle Gefühle spielen und hier sind nicht nur die Gefühle gemeint, die so große Gefühlswallungen sind, die man ab und zu hat, wenn man sich mal tierisch aufregt oder wenn was tolles passiert und man euphorisch ist, sondern eben auch die ständigen Hintergrundgefühle, die alltäglichen Gefühle, die Gefühle, die einem insgesamt die Welt erschließen, sei es positiv oder negativ und das wurde oft unterschätzt, weil man sich immer wieder auf diese Ausbrüche konzentriert hat. "
Die Bedeutung dieser Hintergrundgefühle und Stimmungen wird einem meist erst dann bewusst, wenn sie gestört sind oder destruktiv werden.
Depressive Menschen etwa nehmen plötzlich alles nur noch unter einem Schleier von Trauer wahr. Schizophrene fühlen sich als unbelebte Körper, die in einer irrealen, bedrohlichen Welt leben. Menschen, die unter der so genannten Capras-Störung leiden, glauben gar, ihre Lebenspartner oder ihre Eltern seien durch Doppelgänger ersetzt worden. Diese Menschen haben alle das emotionale Grundvertrauen in die Welt verloren, das uns normalerweise trägt.
Die emotionalen Grundlagen psychischer Störungen, meint daher Henrik Walter von der Universität Bonn, sind kaum zu überschätzen. Der Psychiater, Neurowissenschaftler und Philosoph ist neben Achim Stephan der zweite Leiter des Projekts "animal emotionale".
" Es ist ganz typisch, dass vor einem Wahn eigentlich eine Wahnstimmung steht, das bedeutet, es ist alles irgendwie verändert, alles ist irgendwie anders, unheimlich, gewisse Dinge haben eine besondere Bedeutung und man fragt sich oder die Patienten fragen sich die ganze Zeit. Was ist hier los, was ist hier passiert? Und man erklärt sich eigentlich heutzutage die Wahnentstehung so, dass man aus einer solchen Stimmung heraus an sich zufälligen Ereignissen eine Bedeutung zu misst, dafür ein Erklärung sucht und diese Erklärung ist dann nachher das, was wir Wahn nennen. Zum Beispiel, dass man das Gefühl hat, das, was man denkt, gehört nicht mehr einem selber, da versucht man dann eine Erklärung, und die Erklärung wäre dann zum Beispiel: der CIA hat eine Elektrode ins Gehirn eingepflanzt. "
Im Alltagsleben haben Emotionen natürlich vor allem auch eine positive Funktion: sie vermitteln zwischen Kognition und Handeln, zwischen Erkennen und Tun. Stephan:
" Im Menschen ist es einfach so, dass uns Emotionen erlauben, blitzschnell Orientierung zu erhalten über komplexe Situationen: wir verspüren eine Atmosphäre, wir spüren die Veränderung einer Atmosphäre. Insofern sind Emotionen für uns auch sehr wichtige Ratgeber, wenn wir dann die Situation reflektieren wollen. Zugleich bietet sich in vielen Situationen auch noch eine Handlungssteuerung an. Also es wird auch eine Handlungsbereitschaft mit der Emotion erworben. Wenn in uns große Angst entsteht, wird man nämlich geneigt sein, zu gucken, wie können wir der Situation ausweichen, wie können wir der entgehen, vielleicht wegrennen oder es schlägt um in Aggression, wenn man den Eindruck hat, man ist der Situation gewachsen, und es ist besser jetzt, entgegenzutreten. Das wären unterschiedliche Handlungsbereitschaften, die mit diesem Empfinden zugleich zur Verfügung gestellt werden. "
Versucht man zusammenzufassen, welche Rolle Gefühle für den Menschen spielen können, dann kommt nach alldem eine eindrucksvolle Liste zustande.
Emotionen drücken aus, wie wir bestimmte Situationen erleben; sie bewerten Sachverhalte; sie geben uns schnelle Orientierungen; sie bereiten Handlungen vor und vermitteln zwischen Erkennen und Handeln.
Wie aber kann man Bedeutung der Gefühle auf den Punkt bringen, wenn es um die Beziehung zwischen Kognition und Emotion geht? Die Wissenschaftler des animal-emotionale-Projekts gehen folgender These nach: Emotionen sind mehr sind als eine bloße Ergänzung der menschlichen Rationalität. Jan Slaby:
" In den Gefühlen selber steckt Kognition drin, aber nicht als separate Komponente, sondern als etwas, was ein Gefühl als solches ausmacht. Und ich würde wirklich eher sagen: Gefühle sind Erkenntnisse, eben Erkenntnisse mit integrierter subjektiver Bewertung, aber man muss hier sprachlich aufpassen, weil es klingt immer so, als würde man hier verschiedene Komponenten annehmen, aber man muss einfach sagen: es ist ein einheitlicher Prozess, in dem das einfach drinsteckt. Nehmen wir Empörung. wenn ich empört bin, dann betrachte ich die Handlung eines anderen als ungerecht, vielleicht als moralisch verwerflich, dazu muss ich natürlich diese Handlung erkennen und irgendwie einschätzen. Das ist ein kognitiver Prozess, aber dieser Prozess ist eben in diesem Fall der Empörung das Gefühl selbst und dann steckt da unmittelbar ein Bewertung drin, und oft bin ich dann auch direkt motiviert, einzugreifen, mich zu beschweren, den anderen zur Rede zu stellen oder anzuzeigen etc. Insofern sind Emotionen immer auch schon Kognitionen. Emotionen ohne jeglichen Anteil von Kognitionen wären einfach blinde Impulse, die mag es geben, aber das ist eben nicht typisch für menschliche Emotion. "
Wenn man den Emotionen selbst kognitiven Gehalt zuschreibt, bringt man natürlich das bisher klar gegliederte Begriffsfeld von Verstand und Gefühl völlig durcheinander. Und Sieht sich einem Berg neuer und komplizierter Fragen gegenüber:
Wenn Gefühle kognitiv sind, wirken sie dann auch schon wie Begriffe? Worin besteht dann überhaupt der Unterschied zwischen Kognition, Erkennen, Rationalität und Emotionalität? Kann man überhaupt noch von einer Wechselbeziehung von Kognition und Emotion sprechen, sind sie nicht beide vielmehr nur zwei Aspekte eines einheitlichen Ganzen?
Die Wissenschaftler des animal-emotionale-Projekts glauben nicht, den Knäuel dieser Fragen rasch in einer umfassenden Theorie der Emotion auflösen zu können. Aber sie möchten damit beginnen, die Begriffe genauer zu erklären und zu differenzieren. Dem dient auch der interdisziplinäre Ansatz des Projekts. Das von der Neurowissenschaftlergruppe um Henrik Walter in Bonn beigesteuerte Wissen über das Gehirn soll dabei helfen, die komplizierten Fragen über die Beziehung zwischen Kognition und Emotion anzugehen. Denn auch in der Hirnforschung hat sich in Bezug auf dieses Thema in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen. So gab es lange Zeit die Vorstellung, dass Rationalität und Emotionalität auch im Gehirn klar voneinander getrennt seien: der hinter der Stirn liegende präfrontalen Kortex sei für die höhere Denkleistungen zuständig, das so genannte Limbische System dagegen für die reinen Gefühle. Ein Irrtum, so Henrik Walter.
" Die reine Emotion gibt es gar nicht, auch neuroanatomisch nicht, wenn wir z.B. emotionale Zustände erfahren und dann gucken wir was im Gehirn passiert, dann ist der präfrontale Kortex meistens daran beteiligt, wahrscheinlich in Form dessen, dass er diese Limbischen Systeme hoch- oder runterreguliert, aber es gibt manche Leute, die sagen, es gibt gar keine Emotionserfahrung ohne Emotionsregulation, dass das also notwendigerweise immer miteinander vermischt passiert. "
Solche Vermischungen von Kognition und Emotion lassen sich auch in speziellen Hirnsystemen beobachten.
" Als ein typisch emotionales System würde man das Belohnungssystem ansehen, was man stimulieren kann mit Verhaltensweisen oder mit Kokain oder bei Ratten mit Elektroden und das hat man früher als Lustzentrum bezeichnet. Nun weiß man heute, dass man neurobiologisch trennen kann zwei Funktionen dieses Systems, nämlich einmal dieses Lustempfinden und das Belohnungssystem ist außerdem eigentlich damit beschäftigt, Vorhersagen zu machen, und das ist ein kognitive Funktion, d.h. es macht Vorhersagen über die Welt, über Ereignisse in der Welt und vergleicht dann, ob diese Ereignisse eingetroffen sind und wenn sie nicht eingetroffen sind oder besser sind als erwartet, gibt es eine Meldung. "
Henrik Walters Schlussfolgerung aus den Erkenntnissen der Hirnforschung lautet daher:
" Also man kann eher sagen, dass es Kognition ohne Emotion gibt als umgekehrt. "
Alle Emotionen bewerten und analysieren immer schon, sie machen also kognitive Aussagen über Sachverhalte. Umgekehrt sind zwar auch kognitive Leistungen stark mit Emotionen verbunden, sie können sich dieser aber auf einer höheren, abstrakten Ebene tendenziell entledigen.
Etwa wenn man abstrakte Kategorien anwendet, um Sachverhalte zu klassifizieren. Oder wenn man sich - etwa vor Gericht - an strikte Verhaltensregeln hält. Oder wenn man sein Handeln an allgemeinen Prinzipien ausrichtet, zum Beispiel am kategorischen Imperativ von Immanuel Kant: Handle immer so, dass die Maxime deines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann.
Es gibt also Stufen im Verhältnis zwischen Emotion und Kognition: Von kognitiven Emotionen über emotionale Kognition bis hin zu nahezu emotionsfreien rationalen Kognitionen. Aber selbst bei letzteren ist fraglich, ob sie wirklich völlig emotionsfrei sind. Denn auch wenn es etwa um rationales moralisches Handeln geht, so Henrik Walter, spielen Gefühle eine wichtige Rolle.
" Also Emotionen spielen in der Moral sicherlich eine Rolle bei der Festlegung, d.h. es gibt gewisse Dinge, auf die man sich verpflichtet innerlich. Und zu spüren, dass man auf etwas innerlich verpflichtet ist, dafür spielt Emotion eine Rolle. Selbst bei Kant im Übrigen, obwohl Kant versucht, die Emotion völlig aus der Moralphilosophie herauszudrängen, schleichen sie sich durch die Hintertür wieder ein, nämlich in der Achtung vor dem Moralgesetz. "
Neurowissenschaftler legten Probanden alte moralische Streitfragen vor und beobachteten mit so genannten bildgebenden Verfahren, was dabei in ihrem Gehirn geschieht. Verblüffend waren die Ergebnisse dabei vor allem bei den Versuchspersonen, die eher einer kategorischen Vernunftethik verpflichtet waren, also nach ehernen rationalen Prinzipien urteilten. Walter:
" Also wenn sie zum Beispiel sagen, okay, ich könnte jetzt, indem ich einen Menschen umbringe, hundert retten, würde der Kantianer sagen: "Nein". Und die meisten Leute, die sagen "Nein" bei denen sind diese emotionalen, intuitiven, nach innen gerichteten Areale aktiv. Das ist erst einmal ein kontraintuitiver Befund, der weiterer Erklärung und Aufklärung bedarf, eine Sache, die wir zum Beispiel gerade untersuchen. "
Ist das nur die Achtung vor dem moralischen Gesetz, die hier die emotionalen Areale arbeiten lässt? Oder ist prinzipienhaftes moralisches Handeln insgesamt noch viel emotionaler, als man bisher glaubte? Es gibt viele Fragen, denen das Projekt animal emotionale bis zum Jahr 2008 nachspüren wird. Die praktische Stoßrichtung des Projekts ist aber jetzt schon klar:
Die Maxime des animal emotionale heißt: Erstens: Lerne, auf Deine Gefühle zu achten.
" Aber auch das muss man natürlich trainieren, weil erstaunlicherweise viele Leute ihre Gefühle gar nicht richtig einschätzen können. Das heißt, man kann Angst haben und hält das für Ekel, man kann glauben, dass man aggressiv ist, obwohl man in Wirklichkeit traurig ist, d. h. dieses Horchen auf die Gefühle, dieses Kennenlernen und dieses Differenzieren der Gefühle selber ist eine kognitive Leistung, die trainiert werden muss. "
Und zweitens: Lerne, Gefühl und Verstand immer wieder neu aufeinander zu beziehen, wenn du eine Entscheidung treffe sollst.
" Das wäre so eine Art Gleichgewicht, wo sowohl die Art und Weise, wie sich eine Entscheidung selber anfühlt, als Korrektiv auftreten kann, aber umgekehrt dieses Gefühl wiederum zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden kann. Und wenn sich das in ein ausgewogenes Gleichgewicht bringen lässt, dann glaube ich, hat man eine gute Entscheidung getroffen, die man jederzeit auch verteidigen kann, egal welche Einwände dann kommen. "