Archiv


"Gefühle sind ein störendes Moment beim Fußball"

2004 wacht der Fußballer Martin Bengtsson, der auch im Nachwuchsteam bei Inter Mailand spielte, nach einem Suizidversuch auf. Drei Jahre später erscheint seine Biografie in Schweden, jetzt in Deutschland: Es ist aufrüttelnder Appell gegen die Leistungsfixierung im (Nachwuchs)Sport.

Von Karin Hahn |
    Seit seinem neunten Lebensjahr verbringt Martin Bengtsson jede freie Minute mit dem Fußball, denn bereits als Kind weiß er, Talent allein reicht nicht aus, um ganz nach oben zu kommen. Wenn Martin Bengtsson seine Fußballschuhe trägt und dem runden Leder hinterherstürmt, weiß er, wer er ist. Doch wer ist er außerhalb des Fußballplatzes?

    Am 23. September 2004 wacht Martin Bengtsson nach einem Suizidversuch, er hatte sich die Pulsadern mit Rasierklingen aufgeschlitzt, auf der Intensivstation eines Mailänder Krankenhauses auf. Drei Jahre später erscheinen seine biografischen Aufzeichnungen in Schweden, jetzt liegt die deutsche Übersetzung vor.

    "Ich bin sehr froh über den 19-Jährigen in mir, der gesagt hat, okay, diese Geschichte will ich schreiben. Sicher, es war alles sehr früh, aber es war gut, dass ich es so schnell mit den Worten und den Gefühlen einer jungen Person geschrieben habe. Das verbindet mich mit jungen Lesern. Es würde nicht funktionieren, wenn es von einer älteren Person geschrieben worden wäre, dann hätte es etwas Lehrhaftes. Ich will nicht belehren, nur erzählen, was passiert ist.
    Und das aus zwei Gründen: Der erste war, ich wollte erzählen, was mir passiert ist. In Schweden haben viele Leute, auch die Presse, mir erzählt, was mir geschehen ist, zum Beispiel dass ich den Druck nicht ausgehalten habe und mental zu schwach war. Ich wollte aber für mich selbst reden und die Wahrheit berichten. Und ich hatte das Gefühl, das ist eine Geschichte, die noch nie erzählt wurde, eine Geschichte über einen Fußballer, der nicht so erfolgreich war. Ich wollte eine breitere Perspektive über die Welt des Fußballs präsentieren."


    Martin Bengtsson fächert seine Erinnerungen von der Kindheit im schwedischen Örebro bis hin zur Profizeit im Mailänder Verein in Rückblenden auf. Bevor er jedoch von sich erzählt, betont er, dass es sich bei seinem Buch um die Darstellung eines persönlichen Einzelschicksals handelt und keine Parabel auf die unerbittliche Gier des Sportbusiness sein soll. Was aber nicht heißt, dass er sich mit Kritik an den Vereinen zurückhält.

    "Über das Innenleben eines Sportlers herrscht heutzutage eine klare Vorstellung: Gefühle soll man gefälligst ablegen. Gefühle sind ein störendes Moment beim Fußball. Dadurch wird man aber daran gehindert, sich vollständig zu entwickeln. Um sich entwickeln zu können, muss man Dinge austesten und auch Fehler machen dürfen, man sollte sich auflehnen können und es wagen, etwas infrage zu stellen; man muss weinen dürfen, damit man sich freuen kann, all das ist ein natürlicher und selbstverständlicher Teil des Erwachsenwerdens."

    Als Kind einer Künstlerfamilie, so Martin Bengtssons Beobachtung, wird nur derjenige erst richtig wahrgenommen, der die Hauptrolle spielt. Und so widmet er sich jeder Sache, die ihn intensiv beschäftigt, mit allen Sinnen, kompromisslos bis an die Schmerzgrenze. Mag zu Beginn das Fußballspiel noch nach einer Nebenrolle ausgesehen haben, so wurde es später ein selbstbewusst vertretener, zielstrebig fast manisch verfolgter Lebenstraum. Martin will Profi in Italien werden.

    "Als ich jung war, dachte ich, ich befinde mich in einem Wettbewerb mit anderen Kindern. Ich war relativ klein, schüchtern und sehr still. Auf dem Fußballplatz hatte ich dann die Gelegenheit, mich mit anderen Jungen zu messen. Ich hatte verstanden, man muss nicht stark sein, man kann auch clever sein, um Technik und Taktik auszubauen."

    Mit diesem extremen Perfektionismus, den Martins Eltern mit Sorge verfolgen, stößt er an seine Grenzen, als sein Körper die Belastungen nicht mehr aushält. Körperlich als zu leicht befunden, wird sich dieses Muster bei Martin Bengtsson in der schwedischen U16-Nationalelf bis hin zum Nachwuchsteam bei Inter Mailand wiederholen. Trotz großem Ziel findet er in seiner Rolle als Spitzensportler keine innerliche Ruhe, er fühlt sich zwar spielerisch herausgefordert, aber als Mensch nur fremdbestimmt.
    In seinem Freiheitsdrang, dem sehnlichen Wunsch, wie ein Erwachsener zu wirken, lässt sich Martin Bengtsson flippige Dreadlocks machen und wechselt seine Idole von Marco van Basten zu David Bowie.

    "Mein Selbstvertrauen war am Boden. Ich litt an einer Art Bestätigungsabstinenz, wo niemand mehr auf mein Fußballspiel achtete, weder der Trainer, die Medien noch sonst jemand. Meine destruktive Rettung war Sex. Ich ging langsam unter. Diese Sucht nach Bestätigung und Nähe wurde für mich zu einer ähnlichen Abhängigkeit wie Alkohol und Drogen."

    In dieser schwierigen Phase als 17-Jähriger erhält er den für ihn wichtigsten Anruf. Bei Inter Mailand jedoch fühlt er sich, auch bedingt durch die sprachliche Isolation, eingeengt und er spürt die drohende Angst vor einem sinnentleerten Dasein. Verletzungspausen werden ihn mehr und mehr aus der Bahn werfen. Auf der Suche nach sich selbst driftet er immer mehr in depressive Stimmungen ab, beginnt eigene Texte zu schreiben und Gitarre zu spielen.

    "Am Morgen fuhr ich zu meinem Rehatraining. Auf dem Laufband zerbrach ich mir den Kopf darüber, wer sich da in mir verbarg und sich immer lauter Gehör zu verschaffen suchte. Wie sah dieser Mensch aus?"

    Martin Bengtsson hält sich mit biografischen Fußtritten zurück, schildert nur einige Szenen, in denen er von Mitspielern oder von Trainern gedemütigt wurde. Neben den Lobgesängen auf diejenigen, die seinen sportlichen Werdegang gefördert haben, wiederholt er vehement seine Kritik am Verlust der individuellen Persönlichkeit junger Spieler, die wie Marionetten, die von den Vereinen vorgegebenen, ausgeleierten Standardsätze, öffentlich herunterbeten, nie sie selbst sein dürfen. Und so ist sein Tatsachenbericht auch gedacht als Lektüre für Trainer.

    "Auf jeden Fall. In Schweden wird mein Buch oft von Trainern für die Arbeit mit der Mannschaft, aber auch in der Ausbildung genutzt. Was ich meine, wenn ich davon rede, dass die Spieler 24 Stunden nur an ihr Fußballspiel denken sollen, dann heißt das, es geht immer nur um Benimm- und Maßregelsätze, zum Beispiel in der Nationalmannschaft. Es geht darum, du musst abwechslungsreich essen, Alkohol schadet der Gesundheit, aber das war alles nur heiße Luft. Ich habe bei Lesungen mit meinem Buch bemerkt, dass die Trainer diese Standardsätze in den letzten Jahren nicht so viel wie früher nutzen. Sie haben begonnen zu verstehen, dass Spieler auch ein abwechslungsreiches Leben haben müssen, als Quelle für neue Energie. Wenn man sich nur auf ein Thema fokussiert, verliert man Energie. Erst der Abstand verleiht mehr Kreativität und Freude."

    Martin Bengtsson schreibt weder abgeklärt, noch benötigt er eine zu bedeutend geratene Tragik, um das einzufangen, was jedem Jugendlichen vertraut ist: die Suche nach Identität.

    Der junge Schwede hat sich, wie immer bei allem, was er anpackt, intensiv und schonungslos mit seinen tiefen physischen und psychischen Verunsicherungen auseinandergesetzt. Ein Prozess, der in seiner kreativen Laufbahn als Musiker, Autor und Performance-Künstler weiterhin eine Rolle spielen könnte.

    Martin Bengtsson: Freistoß ins Leben. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein und Max Stadler, TB, bloomsbury, Berlin 2012, 199 Seiten, Euro7,95

    ISBN 978-3-8333-5090-0