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Gefühlte Benachteiligung
"Wer sich zum Opfer erklärt, mauert sich ein"

Neben dem klassischen Opfer habe sich eine neue Variante etabliert, sagte Matthias Lohre im Dlf. Man bezeichne sich als "Opfer", obwohl einem Handlungsmöglichkeiten offen stünden. Auf einen Opferstatus zu pochen, sei im linken wie im rechten politischen Spektrum angesagt - und eine gefährliche Entwicklung.

Matthias Lohre im Gespräch mit Christiane Florin | 23.12.2019
Journalist und Buchautor Matthias Lohre
Journalist und Buchautor Matthias Lohre findet: sich als Opfer zu bezeichnen, in Wirklichkeit aber Handlungsmöglichkeiten zu haben, sei eine gefährliche Entwicklung. (Random House Verlag / René Riis)
Christiane Florin: Ob Donald Trump Tag für Tag hört, wissen wir nicht. Hätte er den ersten Beitrag unserer heutigen Sendung gehört, so sähe er sich vermutlich als Opfer linkschristlicher Aktivisten. Selbstviktimierung heißt diese Taktik. Das ist keine Spezialität von Rechtspopulisten, sagt der Journalist Matthias Lohre. Opfer sein zu wollen, liege im Trend, rechts wie links, schreibt er in seinem Buch "Das Opfer ist der Held". Wir haben vor der Sendung miteinander über diese kühne These gesprochen und ich habe Matthias Lohre zunächst gefragt: Wer ist Opfer?
Matthias Lohre: Für mich gibt es zwei Arten von Opfern. Es gibt die klassische Art, die wir alle meinen, wenn wir das Wort aussprechen, nämlich die Opfer, die tatsächlich ohnmächtig sind, die Gewalt erfahren haben, die irgendeiner Weise falsch behandelt worden sind und dafür nichts können. Es gibt Gewaltopfer, Opfer von Naturkatastrophen, es gibt auch Menschen, denen nie die Freiheit gegeben worden ist, selber entscheiden zu können, was sie denn machen möchten. Das sind wahre Opfer meiner Meinung nach und auch Opfer im umgangssprachlichen Sinne.
Dann gibt es die neuen Opfer. Davon handelt mein Buch. Es gibt Menschen, die sich als Opfer bezeichnen, obwohl sie es nach herkömmlicher Meinung gar nicht sind, sind Menschen, die sehr wohl Handlungsmöglichkeiten haben, die gar nicht ohnmächtig sind, aber trotzdem Opfer sein wollen. Das ist etwas Neues.
Florin: Sie haben von "wahren Opfern" gesprochen. Wie unterscheiden Sie zwischen "wahren Opfern" und Jammerlappen, die wie Auserwählte aussehen wollen?
Lohre: Letztlich werden wir alle als Opfer geboren. Das heißt, wir sind unfähig, uns selbst am Leben zu erhalten. Wir sind darauf angewiesen, dass Menschen uns mit Zuneigung entgegentreten. Wir können unser Schicksal nicht selbst bestimmen. Das versuchen wir dann schrittweise in unserem Leben hinter uns zu lassen, dieses Gefühl der Ohnmacht. Das gelingt uns ja auch in vielen Fällen. Ein Baby kann zum größeren Opfer werden, als die meisten erwachsenen Menschen das werden können, weil wir Erwachsene Mittel und Wege gefunden haben, uns zu wehren, auch Gefahren aus dem Weg zu gehen.
Florin: Und die unechten Opfer sind zu faul, um die Möglichkeiten, die sie haben, einzusetzen,
Lohre: Zu faul da, das ist schon wieder so eine Wertung.
Florin: Sie haben ja auch gewertet.
"Böse Mächte wollen das nicht"
Lohre: Die Opfer, die ich meine, sind Menschen, die subjektiv wahrscheinlich selber denken, sie seien Opfer, aber die nicht den objektiven Blick auf sich haben. Sie glauben tatsächlich, sie seien Verfolgte von großen, übermächtigen Kräften, die sie verfogen und klein halten wollen. Aber das ist meist nicht der Fall. Sagen wir zum Beispiel Donald Trump: Der behauptet ernsthaft, er sei ein "Victim", ein Opfer der bösen, liberalen Medien. Wenn wir das von außen betrachten, sehen wir, dass das ist natürlich nicht der Fall ist. Er ist sehr wohl in der Lage, sein Leben zu bestimmen. Er ist überhaupt kein Opfer, sondern lebt so, wie er es möchte.
Florin: Sie teilen nach rechts wie nach links aus. Warum ist Ihnen das wichtig?
Lohre: Die neuen Opfer sind nun mal nicht nach Linken und Rechten unterteilbar, sondern dahinter steckt meiner Meinung nach ein psychologisches Bedürfnis. Das ist Linken wie Rechten eigen. Viele Menschen haben das Gefühl, dass das moderne Leben sie überfordert. Viele Menschen möchten diesen Anspruch und dieses Schuldgefühl, das daraus erwächst, abstreifen. Sie haben das Gefühl, dass sie zu viele Sachen leisten müssten, dass sie zu viel Verantwortung tragen müssen. Das kann man abstreifen, indem man sagt: "Die Karten sind gezinkt, ich kann nichts dafür, dass das Leben so schwer ist. Ich würde ja sehr gerne ein erfolgreiches, glückliches Leben führen. Aber, aber die bösen Mächte, die wollen das nicht." Und das gibt es bei Linken wie Rechten.
Die Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin mit dem Gedicht von Eugen Gomringer. In der Zeile heißt es: "Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer".
Das Gedicht "Avenidas" an der Fassade der Alice Salomon Hochschule (dpa-Zentralbild)
Florin: Ich möchte die Unterscheidung links und rechts beibehalten, obwohl Sie gerade sagte, es läuft eigentlich gar nicht so. Aber Sie machen diese Unterscheidung im Buch auch. Nehmen wir das Beispiel der Mikro-Aggression. Das heißt: Jemand fühlt sich verletzt, diskriminiert durch eine bestimmte Handlung oder durch bestimmte Worte. Das bekannteste Beispiel ist die Entfernung eines Gedichts an der Wand der Alice-Salomon-Hochschule. Wie läuft der linke Opferdiskurs?
Sieg der Ignoranz
Mit der Entscheidung der Alice-Salomon-Hochschule, das Gedicht des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer an ihrer Fassade zu überstreichen, habe man sich selbst geschadet, kommentiert Tobias Wenzel. Der Vorwurf, das Gedicht sei sexistisch, zeige die Ignoranz, mit der man Kunst begegne.
Lohre: Der linke Opferdiskurs läuft anhand der Sprache des Traumas. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Trauma als Begriff in unserer Umgangssprache festgesetzt. Das bezeichnet im Kern eine psychische Verletzung, die nicht heilen kann, die so tief in uns verwoben ist, dass wir uns davon nicht befreien können und dass sie uns jeden Tag prägt. Das sind im Extremfall Vergewaltigungen, auch Überlebende von Naturkatastrophen oder Kriegen. Diese Menschen können nicht mehr selbstbestimmt handeln, weil dieses Trauma ihr Leben bestimmt. Dieses Konzept Trauma haben viele Linke für sich verwendet, um für sich in Anspruch zu nehmen, dass sie doch auch traumatisiert werden können durch - im Extremfall - Worte an einer Hauswand.
Dieses Gedicht an der Hauswand der Alice Salomon Hochschule in Berlin haben sie verstanden als sexuelle Belästigung. Da geht es um ein Mann, der die Blumen und auch die Frauen betrachtet und sich darüber freut, dass doch wieder Frühling ist und Sommer. Das war vom Poeten so gemeint, dass er sagte: Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es darum, irgendwie wieder eine Sprache zu finden, die einfach die Freude am Leben darstellt, ohne die mythologisch überhöhten Formulierung der Faschisten zu nutzen. Und da musste man eine neue Sprache finden.
Die Frauen, die sich da als sexuell diskriminiert wahrgenommen haben, haben gesagt: Andere Frauen könnten sich dadurch als sexuelles Objekt dargestellt fühlen, und das wäre sexuell übergriffig. Sie hatten nicht einmal gesagt, dass sie selber traumatische Erfahrungen gemacht haben, aber allein daraus, dass sie selbst auch Frauen sind und dass Frauen sexuelle Diskriminierung erleiden, haben sie den Anspruch abgeleitet, dass dieses Gedicht wegmuss.
"Opferstatus als etwas Dauerhaftes - dagegen möchte ich mich aussprechen"
Florin: Und dann sagen Sie: Die soll sich mal nicht so anstellen?
Lohre: Nein, "Die sollen sie nicht so anstellen", das sage ich nicht. Es geht mir darum zu sagen: Schauen wir genauer hin, ob wirklich jemand traumatisiert wird.
Florin: Wenn die Frauen selber die traumatisierenden Erfahrungen gemacht hätte, dann wäre es für Sie ein anderer Diskurs, mit der selben Konsequenz, aber anders begründet? Also: Das Gedicht würde entfernt, das wäre dann richtig, nachvollziehbar?
Lohre: Natürlich kann jede Hochschule und können auch Studierende entscheiden darüber, was an ihrem Hauswänden steht. Das können Sie alles selber machen. Und natürlich möchte ich nicht bestreiten, dass Frauen sich diskriminiert oder sexuell belästigt fühlen. Das passiert alles. Das passiert täglich, und das ist schlimm. Was ich bloß betonen möchte ist: Es ist ein Unterschied zu sagen: "Ich habe Opfererfahrungen gemacht, ich habe auch vielleicht traumatisierende Erfahrungen gemacht." Das andere ist, sich als Opfer zu definieren, als ein Mensch, der nichts anderes ist als Opfer. Wir alle haben Opfererfahrungen gemacht und machen auch Tätererfahrungen in unserem Leben. Aber heutzutage beanspruchen viele Menschen den Opferstatus als etwas Dauerhaftes und Stabiles, das sie selbst definiert. Dagegen möchte ich mich aussprechen.
Florin: Wie läuft der rechte Opferdiskurs?
Lohre: Der rechte Opferdiskurs sagt etwas Anderes als die Linken. Die Linken sagen: Wir brauchen universelle Gleichheit. Während Rechte eher sagen: Wir brauchen Gleichheit bei Gleichgesinnten. Das heißt, da gibt es den rechten Diskurs, der sagt: Wir als die Deutschen würden unterdrückt. Wir als die Europäer würden unterdrückt, wir als heterosexuelle Männer würden unterdrückt. Es gibt immer Gruppen, die zusammengeführt werden und die sich dann als Opfer sehen. Es sind halt meist erstaunlicherweise gesellschaftlich dominante Gruppen, oft sogar Mehrheiten, die sich von einer bösen Minderheit diskriminiert sehen, also umgekehrt als bei Linken.
Verführerische Machtlosigkeit
Florin: Gemeinhin gilt jemand als Macher, der Macht hat, der diese Macht auch haben will, der eher einem Siegertypen entspricht. Was ist das Verführerische daran, sich als Opfer zu präsentieren und gleichzeitig ja doch Macher zu sein, ein Mächtiger zu sein?
Lohre: Sehr verführerisch es ist für die Anhänger eines Menschen, der sagt "Ich bin ein Vertreter von Opfern", wie zum Beispiel mit Donald Trump, zu sagen: "Ich bin machtlos, aber da gibt es jemanden, der kämpft, für mich." Wenn ich selbst sage, ich sei machtlos, dann befreit das von vielen Schuldgefühlen, von dem Gefühl, komplett eigenständig für das eigene Leben verantwortlich zu sein. Wenn man sich als Opfer definiert, muss man auch nicht die gesamten gesellschaftlichen Regeln befolgen, sondern man handelt in Notwehr. Zumindest glaubt man das. Das erlaubt Menschen, über die Regeln hinauszugehen und auch Regeln zu brechen.
Florin: Das Opfer hat Narrenfreiheit...
Lohre: Ja, das Opfer hat Narrenfreiheit. Aus seiner Sicht ist die große Verletzung bereits geschehen. Es ist zum Opfer degradiert worden. Und jetzt hat es nur noch die Möglichkeit, seine letzten Kräfte zusammen zur raufen und sich dagegen aufzulehnen. In einem Überlebenskampf – so wie das Opfer es versteht - ist alles erlaubt.
"Victim" und "Sacrifice"
Florin: Noch gar nicht gesprochen haben, wir über die Bedeutung, die das Wort Opfer in Religionen hat, in vielen verschiedenen Religionen. Es werden Tieropfer den Göttern dargebracht. Abraham wird geprüft, ob er bereit ist, seinen Sohn zu opfern. Gott schickt laut christlicher Botschaft seinen Sohn in die Welt, der opfert sich, um von Sünden zu erlösen. Ist da ein religiöser Begriff in die politische Diskussion, in den gesellschaftspolitischen Diskurs eingewandert?
Lohre: Natürlich haben 2000 Jahre Opferdiskurs auch ihren Niederschlag gefunden in der heutigen Definition des Opfers. Wenn wir 2000 Jahre lang gehört haben, dass Jesus das größte Opfer der Menschheit gebracht hat, dann fließt bewusst oder unbewusst auch etwas in den heutigen Begriff "Opfer" davon ein. Ein wichtiger Teil zum Beispiel ist das Verständnis des Opfers als jemandem, der eine ungerechte Gesellschaft anklagt. Jesus ist nach biblischem Verständnis auch jemand gewesen, der von der jüdischen Gemeinde Jerusalems den bösen Besatzern zum Opfer gebracht wurde, damit doch der gesellschaftliche Frieden gewahrt wird. Also er ist von einer ungerechten Gesellschaft zum Opfer gebracht worden. Das ist ein Aspekt des Opfertums von Jesus. Das andere ist natürlich ein freiwilliges Opfer, so wie es nach kirchlicher Lehre verstanden wird, nämlich Jesus hat sich zum Opfer gebracht, um die Menschheit zu erlösen. Die beiden Elemente, Victim und Sacrifice, das passive Gewaltopfer und das sich darbringende Opfer für höhere Ideale, das fließt beides in den heutigen Opfer Begriff ein.
Das Gemälde "Die Opferung Isaaks" ist eines der frühen Werke Rembrandts und zeigt den Engel, der Abraham davon abhält, seinen Sohn Isaak zu schlachten
"Die Opferung Isaaks" von Rembrandt (imago images / United Archives/ ©2006 T)
Florin: Inwiefern hilft Glaube, inwiefern hilft eigene Religiosität, um Verletzungen zu kompensieren, um damit klarzukommen, dass man, wie Sie vorhin gesagt haben, ein wahres Opfer einer Gewalttat, einer Straftat oder auch einer gesellschaftlichen Ungerechtigkeit geworden ist.
Lohre: Ein Aspekt von Religion ist auch der, dass er Menschen, die glauben, die Fähigkeit gibt zu verzeihen, sowohl anderen als auch sich selbst. Das ist etwas sehr Schweres. Wir merken ja, wie schwer es ist, uns selbst Fehler einzugestehen, uns Mangelhaftigkeit einzugestehen und die zu verzeihen, wie schwer es ist, auch anderen Menschen zu verzeihen, die uns etwas getan haben. Da kann natürlich Religion helfen, sich nicht als Opfer zu sehen, nicht im passiven Sinne, sondern als jemand der sagt: Ja, ich habe eine Gewalterfahrungen gemacht, aber ich bin in einer Lage, diese Gewalterfahrung hinter mir zu lassen, weil ich sage: "Diese Erfahrung definiert mich nicht. Ich bin nicht dazu gezwungen, mein Leben lang dem Täter hinterherzulaufen und ihm seine Schuld vorzuhalten, sondern ich kann vergeben." Das ist ein sehr wichtiger Aspekt von Religion.
Florin: Ich hab mich journalistisch stark mit sexualisierter Gewalt beschäftigt. Die "Opfer" möchten lieber als Betroffene oder als Überlebende bezeichnet werden und nicht als Opfer. Trotzdem haben mir viele gesagt, sie empfinden diese Erwartung, dass sie den Tätern verzeihen können, als unmenschlich. Es ist doch ein legitimes Anliegen, Gerechtigkeit zu bekommen, in dem Sinne, dass wenn eine Straftat vorliegt, der Täter bestraft wird. Da muss doch nicht derjenige, der Opfer dieser Straftat wurde, dem Täter verzeihen.
Lohre: Wer behauptet das denn?
Florin: Es klang vorhin so.
"Der Status bringt nur kurzfristig Vorteile"
Lohre: Nein. Das haben Sie so verstanden. Aber das habe ich nicht so gemeint. Ich möchte niemandem vorschreiben, wie er oder sie mit einer Gewalterfahrung umzugehen hat, geschweige dann möchte ich jemanden dazu auffordern, jemandem zu verzeihen, dem man nicht verzeihen möchte. Mein Punkt war nur zu sagen, dass es ein Aspekt von Religionen sein kann, dass es Menschen hilft, jemandem zu verzeihen. Das ist alles. Das heißt nicht, dass ich irgendjemanden auffordere, etwas zu tun, was er oder sie nicht möchte.
Florin: Wenn wir die wahren Opfer hinter uns lassen und über diejenigen sprechen, von denen Sie sagen, die wollten dauerhaft einen Opferstatus haben, obwohl sie Mittel hätten, sich zu wehren. Wie kommen diese Opfer aus ihrem Status raus?
Lohre: Der erste Schritt ist meiner Meinung nach zu erkennen, dass der Opferstatus nur kurzfristig einen Vorteil bringt. Denn mittel- und langfristig sperren wir uns selbst im Opferstatus ein. Was heißt das? Es heißt: Wer sich als Opfer sieht, der darf seinen Status nicht wieder aufgeben, weil viele Menschen sich deshalb als Opfer sehen, weil sie öffentliche Aufmerksamkeit und Zuneigung bekommen. Wenn sie diesen Opferstatus aufgeben, so fürchten sie, dann verlieren sie wieder die Zuneigung. Aber mittel- und langfristig mauern wir uns dann ein. Wenn wir sagen: Wir sind Opfer, dann heißt das, wir können uns nicht aus dem Status herausbewegen. Wir können nicht unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten, die wir auch haben, trotz allem nutzen. Das ist, glaube ich, der erste Schritt, um zu erkennen, dass der Opferstatus nicht hilft. Der zweite Schritt wäre zu erkennen: Was sind denn meine Handlungsmöglichkeiten? Was kann ich denn? Ich muss zu unterscheiden lernen, was ich beeinflussen kann und was sich nicht beeinflussen kann. Also letztlich müssten wir dann, verkürzt gesagt, erwachsen werden
"Das vererbte Schweigen über seelische Nöte in der DDR hat zu emotionaler Härte geführt"
Florin: Erreichen Sie mit diesen Buch Menschen, von denen Sie sagen: Die bezeichnen sich zu Unrecht als Opfer?
Lohre: Es ist sehr schwer. Gerade erschien ein Artikel von mir in einer ostdeutschen Zeitung, in dem ich versuche zu erklären, dass die Wahl der AfD auch mit verborgenen Traumata aus mehreren Generationen zu tun hat. Ein vererbtes Schweigen über seelische Nöte hat zu einer emotionalen Härte geführt bei vielen Menschen im Osten, die sagen: Sie können sich selbst nichts verzeihen und sie können vor allem anderen nichts verzeihen. Dieses Gefühl, dass sie zu kurz gekommen seien, was tatsächlich zu DDR-Zeiten und zu Nazizeiten der Fall war, ist tief in ihnen verankert. Ich bekomme dann viele Zuschriften, die mir sagen: "Wir haben überhaupt kein Problem. Was willst du denn dann überhaupt?"
Da kann und will ich gar nicht gegen angehen. Ich möchte niemanden davon überzeugen, dass jemand seelische Nöte hat, die er oder sie nicht verstanden hat. Es ist sehr schwer, jemandem meine These nahe zu bringen, der sich dadurch gleich angegriffen fühlt, weil er da sie denkt nein: Ich bin doch kein Opfer. Mir geht das wirklich schlecht. Das ist natürlich sehr schwer. Ich möchte niemandem einreden, er sei ein Opfer oder niemandem einreden, er sei kein Opfer, sondern letztlich kommt es immer auf die subjektive Wahrnehmung an und auf die Fähigkeit, von den eigenen Taten und von eigenen Gedanken zu abstrahieren und sie mal von außen zu begucken und zu sagen: "Vielleicht könnte ich das auf eine neue Art betrachten. Vielleicht hab ich Leid erlitten, das ich mir selber anschauen müsste, dessen Folgen ich mir auch mal anschauen müsste."
"Hass macht uns nicht frei"
Florin: Sie erzählen am Schluss die Geschichte eines Mannes, eines Vaters: Dessen Sohn stirbt während eines Urlaubs an einer ungeklärten Ursache beim Schwimmen. Es wird eine Herzerkrankung vermutet. Der Vater gründet eine Stiftung. Was ist daran heldenhaft?
Lohre: Ich sage nicht, dass der Vater ein Held ist, sondern ich sage, dass dieser Vater dem Impuls widerstanden hat, sich als Opfer der bösen Umstände zu sehen. Der erweist sich letztlich als sehr reflektierter, erwachsener Mensch. Ich möchte eben nicht neue Helden küren und behaupten, dass Menschen heldenhaft zu sein haben, sondern ich versuche aufzuzeigen, was möglich ist, was normalen Menschen möglich ist, auch wenn sie sehr schwere Schicksalsschläge erlitten haben. Es geht also immer darum zu sagen: Wir machen Opfererfahrung, aber wir müssen uns deshalb nicht als Opfer sehen. Wer sich als Opfer sieht, der mauert sich ein. In dem Fall hat der Vater dem Impuls widerstanden, alle möglichen Leute zu beschimpfen und zu sagen: Die Ärzte waren schuld, die waren zu spät da, die Leute am Hotel waren zu spät da, es gab halt keinen Defibrillator, oder auch das ägyptische Gesundheitswesen war schuld. Oder, oder, oder. Dieser Unfall geschah ja in Ägypten. Es geht darum zu sehen, dass die Beschuldigung anderer Menschen uns letztlich nicht glücklich macht.
Florin: Wird man dann nicht etwas unkritisch? Es war ja tatsächlich ein Missstand, dass keine medizinische Versorgung da war.
Lohre: Das stimmt, aber was folgt daraus? Werden wir die Menschen, die den Defibrillator am Pool nicht bereitgestellt haben, ein Leben lang hassen? Der Hass macht uns ja nicht frei.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Matthias Lohre: "Das Opfer ist der neue Held: Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben"
Güterloher Verlagshaus 2019. 288 Seiten, 22 Euro.