Archiv


Gegen das Vergessen

Wenn man sich erinnern kann, kann man aus der Geschichte lernen. Das steht gewissermaßen als Motto über der Arbeit der Hamburger Werkstatt der Erinnerung. Das Archiv umfasst mehr als 2000 Interviews mit Zeitzeugen des vergangenen Jahrhunderts. Gegründet wurde es 1989, als die Wissenschaft die Oral History als Forschungsfeld entdeckte.

Von Ursula Storost |
    "Und ich weiß noch, der Briefträger kam. Wir wohnten ja in der Grindelallee, und meine Mutter bekam die Post und hatte das berühmte Siegel mit dem Hakenkreuz, war sehr amtlich. Und da hat sie den gleich im Treppenhaus aufgemacht. Und da fing sie an zu schreien: Jetzt haben sie ihn umgebracht! Die Schweine haben ihn getötet!"

    So erinnerte sich Frau Wecker an das Jahr 1941. Sie war 17 Jahre alt, als sie erfuhr, dass ihr Vater Opfer der Euthanasie geworden war.

    "Da habe ich meine Mutter noch reingezogen, habe ihr den Mund zugehalten, habe gesagt: Mutti, hör' auf, hör' auf! Du weißt nicht, was du tust. Und bloß die Haustür zu."

    Dass diese Erzählung auch noch in Jahrzehnten gehört werden kann, ist der Werkstatt der Erinnerung zu verdanken. Gegründet wurde sie im Jahr 1989 auf Beschluss der Hamburger Bürgerschaft, als eine Abteilung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Die Hamburger Wissenschaftssenatorin Dorothee Stapelfeld, damals eine der Initiatorinnen, erinnerte sich.

    "Zunächst mal ging es darum, eine Einrichtung zu schaffen, die sich wirklich mit den Verbrechen des NS auseinandersetzen sollte. Und zwar mit der Geschichte der Stadt Hamburg und allem, was dazu gehört."

    Das bis heute deutschlandweit einmalige Projekt wird geleitet von der Historikerin Dr. Linde Apel. Sie schließt die Tür eines schlichten Büroraums auf.

    "So, jetzt befinden wir uns hier im Herzen der Werkstatt der Erinnerung. Das ist das Archiv. Hier in diesen zahllosen Schränken befinden sich die Dossiers zu den Interviews. Und ich zieh jetzt mal eine Schublade auf und wir gucken uns mal irgendetwas an."

    Linde Apel zieht die Registerkarte von Peter Goetz hervor. Der damals junge Mann ließ es sich auch in den 30er-Jahren nicht nehmen, sein Leben zu genießen.

    "Und hatte Freundinnen zuhauf. Und die Eltern einer seiner Freundinnen haben ihn denunziert als Juden und er kriegte ein Rasseschandeverfahren. Und daraufhin landete er im KZ, nämlich in Dachau und in Buchenwald."

    Der Werkstatt der Erinnerung erzählte Goetz, der später nach Amerika emigrierte:

    "Buchenwald war schon ziemlich hart. Für den Bau eines neuen Appellplatzes musste ich Felsbrocken aus einem Steinbruch herausschleppen. Und wir wurden sehr schlecht behandelt. Ein Drittel Brotlaib am Tag. Die Verpflegung war katastrophal. Eine undefinierbare Suppe. Und die harte Arbeit."

    Lernmaterial für zukünftige Generationen
    Die Lebensgeschichten, die in der Werkstatt der Erinnerung gesammelt sind, so Linde Apel, sollen auch Lernmaterial für zukünftige Generationen sein. Man muss aber bedenken, so die Historikerin: Was hier erzählt wird, ist nicht objektive Geschichte, sondern subjektiv Erlebtes.

    "Warum waren bestimmte Ereignisse wichtig und andere weniger wichtig. Und da findet man sehr viel raus natürlich auch über bestimmte Ereignisse, aber doch viel mehr darüber, was als wichtig erachtet wird und was worüber auch gesprochen wurde in der Familie. Denn man kann sich nur an etwas erinnern, was immer wieder mal auch thematisiert wurde."

    Subjektiven Erinnerungen aus der Zeit des Nationalsozialismus hat die Lüneburger Studentin Gesa Trojan ihre Magisterarbeit in vergleichender Kulturwissenschaft gewidmet. Angeregt durch ein Praktikum in der Werkstatt der Erinnerung, untersuchte sie, wie sich die Neuengammer Bevölkerung heute an das frühere Konzentrationslager im Ort erinnert. Gesa Trojan, 28 Jahre alt, stammt selbst aus dem Dorf bei Hamburg. Über das ehemalige Lager wurde bei ihr zu Hause nie gesprochen. Jetzt fragte sie ihre Großelterngeneration danach.

    "Die haben das auch eben aus ihrer damaligen Kindersicht berichtet. Haben berichtet, dass sie Häftlinge gesehen, die gestreifte Kleidung getragen haben, die sie Zebras genannt haben. Und dass sie gesehen haben, dass die sehr schlecht behandelt werden. Dass sie einen sehr schlechten körperlichen Zustand hatten. Dass sie teilweise auch Gewalt beobachtet haben vonseiten der SS-Männer oder auch der Kapos."

    Die Erwachsenen sprachen damals mit ihren Kinder nicht über das Lager.

    "Außer, dass ihnen eben gesagt wurde, ihr sollt da nicht darüber reden oder ihr sollt da nicht hingehen."

    Auch nach 1945 wurde in den Familien nicht über das Konzentrationslager und die früheren Erlebnisse gesprochen. Und trotzdem, so Gesa Trojan, wurde etwas weitergegeben.

    "Allerdings keine konkreten Geschichten sondern eher so eine Art Verhaltensmuster. In dem Sinne, dass der Ort gemieden wird, dass die Jüngeren nicht zu diesem Ort fahren. Und dass mit diesem Ort so ein Unbehagen verbunden ist und dass dieser Ort als außen wahrgenommen wird."

    Wir basteln uns unsere Erinnerungen
    Objektive wissenschaftliche Erkenntnisse kann man aus Zeitzeugeninterviews allerdings nicht ziehen, sagt Dr. Malte Thießen. Der Juniorprofessor am historischen Seminar der Universität Oldenburg beschäftigt sich mit Erinnerungskultur.

    "Man kann feststellen, dass Erinnerungen geprägt sind von der Gesellschaft. Ein Forscher hat das mal gesagt, es gibt keine Erinnerungen außerhalb des sozialen Bezugsrahmens. Das heißt wir basteln uns unsere Erinnerung zusammen aus Eindrücken von anderen und späteren Erfahrungen."

    Beispiel: Zeitzeugen, die sich heute an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnern, reden nicht mehr vom Zusammenbruch des Nationalsozialismus. Sondern von der Befreiung.

    "Diese neuen Befreiungsdeutungen kommen daher, dass in den 80er-, 90er-Jahren in der Gesellschaft, in der Politik eben neue Deutungen des Kriegsendes, auch in den Medien neue Deutungen des Kriegsendes populär sind. Und dass die Zeitzeugen dann eben diese fremden Erinnerungen einbauen in ihre Lebensgeschichte."

    Dementsprechend ist auch die Tradierung der Erinnerung geprägt von Überlagerungen und heutigen Sichtweisen, erklärt Malte Thießen. Wenn die älteren Menschen überhaupt von früher erzählen, richten sie sich nach den Erwartungen der Umgebung.

    "Konkret ist zum Beispiel häufig, dass bei Familienfeiern über die Familiengeschichte gesprochen wird. Und nun ist so eine Familienfeier ein Anlass, an dem man eher die netten Dinge erzählen möchte. Und das führt dazu, dass in Familien, wenn über solche Ereignisse gesprochen wird, oft eben so kleine Heldengeschichten zum Beispiel vom Krieg berichtet werden. Oder die Aufbaugeschichten. Wie man zusammengehalten hat und dann aus dem Nichts sozusagen wieder eine Zukunft erschaffen hat."

    Die sogenannte oral history, die erzählte Geschichte von Zeitzeugen, wurde erst in den späten 80er-Jahren von Historikern als wissenschaftlicher Quellenfundus entdeckt, berichtet Malte Thießen. Seitdem feilen die Forscher an ihrer Interviewtechnik.

    "Wenn man sich die Interviews aus den 80er-Jahren anguckt oder aus den frühen 90er-Jahren, dann werden sie merken, dass es ganz andere Interviews sind als die, die wir heute führen. In den 80er-Jahren ist der Umgang mit Zeitzeugen zum Teil noch sehr im Anklageton gehalten."

    Heute weiß man, dass Menschen am meisten von sich preisgeben, wenn sie sogenannte offene Fragen gestellt bekommen.

    "Man kann ganz banal fragen: Erzählen sie mir von ihrem Leben. Je offener Sie Fragen stellen, umso mehr haben sie auch die Möglichkeiten, dass sie an Dinge herankommen, auf die sie sonst nie gekommen wären. Beispielsweise ist es tatsächlich nachvollziehbar, dass viele Zeitzeugen, die im Dritten Reich durchaus dem Nationalsozialismus positiv gegenüber standen, davon heute nicht unbedingt so gern berichten. Aber wenn man über andere Dinge redet, bekommt man eben auch solche Passagen dann en passant berichtet und erzählt."

    Alltäglicher Faschismus offenbart sich
    Wer offen fragt, kann oft mehr über den ganz alltäglichen Faschismus erfahren. So wie von Frau A. Die 1923 geborene ehemalige Luftwaffenhelferin erlebte im nationalsozialistischen Deutschland die beste Zeit ihres Lebens.

    "Das waren alles schöne Sachen. Und mit 'Kraft durch Freude', dass die Menschen auf so einem großen Schiff nach Madeira konnten, ohne Geld diese Reisen ermöglicht wurden. Und denn die Mädchen, Glaube und Schönheit, da hab ich ja jedes Bild ausgeschnitten und aufbewahrt. Und die Olympiade, oh, hab ich gedacht, also so willst du werden. (lacht) Die Schwimmerinnen und oh nein, und Leni Riefenstahl, die schönen Filme. Also dafür konnte ich mich ja begeistern, nicht. Ja."

    Zeitzeugen zuzuhören ist faszinierend, sagt die 24-jährige Hamburger Geschichtsstudentin Carmen Ludwig.

    "Denn wenn wir einfach irgendwelche Quellen, Erlasse oder sonstige Quellen aus der Zeit uns anschauen, ist es auch mal eine ganz andere Sichtweise, als wenn ein Zeitzeuge über die Folgen dieser Erlasse berichtet."

    Carmen Ludwig arbeitet mit Jugendlichen an Projekten über den Nationalsozialismus. Ihre Erfahrung dabei ist: Wenn Zeitzeugen erzählen, bekommt Geschichte für die jungen Menschen eine andere Dimension.

    "Die Jugendlichen haben im Nachhinein immer wieder betont, wie bewegend dieses Zeitzeugeninterview für sie war. Und das ist letztendlich auch in der weitergehenden Arbeit immer wieder deutlich geworden, dass sie einfach das Bedürfnis des Berührt-werden-wollens haben. So'n bisschen Geschichte zum Anfassen vielleicht."

    Geschichte zum Anfassen, die aber eben sehr subjektiv ist, sagt der Historiker Dr. Malte Thießen von der Universität Oldenburg.

    "Erinnerungen sind Schnappschüsse. Ein Schnappschuss zeigt eine ganz bestimmte Perspektive auf ein Erlebnis. Die Perspektive, die man selbst wählt, um einen Ausschnitt zu inszenieren. Und das ist mit Erinnerungen eigentlich ganz ähnlich. Erinnerungen präsentieren nie die ganze Geschichte. Sie präsentieren einen subjektiven, inszenierten, selbst gewählten Ausschnitt von der Geschichte."