Hunderttausende wurden ermordet und vertrieben. Selbst im 20. Jahrhundert spielte der religiöse Antisemitismus noch eine Rolle, obwohl er längst durch rassistische Konstruktionen ergänzt worden war. Der biologistische Rassismus, hergeleitet aus der Übertragung der darwinistischen Naturlehre auf die Gesellschaft, konstruiert die jüdische Minderheit als eigenständige, minderwertige Rasse. Angereichert wird dieser Rassismus mit Weltverschwörungsphantasien. Noch heute gilt rechtsradikalen Antisemiten die vom russischen Geheimdienst verfassten "Protokolle der Weisen von Zion" als authentisch. Für Wolfgang Benz ist dies ein Beleg dafür, wie auch plumpe Antisemitismen aus der Vergangenheit Einfluss auf gesellschaftliche Wahrnehmungen in der Gegenwart haben. Und dennoch, trotz der weit über tausend jährigen Geschichte von Judenverfolgungen im Westen, verwahrt sich Wolfgang Benz gegenüber einer weithin rezipierten Vorstellung, die in der Gesellschaft einen "Ewigen Antisemitismus" verankert glaubt. Benz erkennt darin zu Recht ein weiteres Stigma, das Juden in eine "teleologische Opferrolle" zwingt, die "nur einen Weg kennt, den vom Vorurteil zum Völkermord, und keine andere Ursache als die Juden selbst".
Doch wer meint, damit wäre das Thema Antisemitismus in der Gegenwart abgeschlossen, der verkennt die schier unglaubliche Wandlungsfähigkeit antisemitischer Vorurteile. Wer vom "Schlussstrich" unter die deutsche Geschichte redet, eine Forderung die häufig mit der populistischen Behauptung verbunden wird, Antisemitismus sei nur noch ein Phänomen am rechten Rand des politischen Spektrums, gerät in Gefahr, einem der aktuell gängigsten Antisemitismen zu erliegen, nämlich der Umkehrung von "Opfern" und "Tätern". Denn solche Behauptungen lassen, bewusst oder unbewusst, zweierlei außer Acht. Erstens: Dass der Antisemitismus, als wahrscheinlich "ältestes soziales, kulturelles, religiöses und politisches Vorurteil der Menschheit", bis in die Gegenwart hinein existiert. Damit also auch Bestandteil der wiedervereinigten deutsch sich definierenden Mehrheitsgesellschaft ist. Was nicht zuletzt die jüngsten Wahlerfolge rechtsnationalistischer Parteien im Saarland und in Sachsen-Anhalt belegen. Und Zweitens: Dass sich die Feindschaft gegen Juden in jeglicher Form und Variante unreflektiert von Generation zu Generation überliefert hat. Und als "alltägliches Vorurteil der Mehrheit gegen die Minderheit" in rechthaberischer, unreflektierter Art und Weise von ansonsten unverdächtigen Bürgern benutzt wird. Wolfgang Benz zeigt dies exemplarisch, indem er Briefe von Bürgern auswertet, die zwischen 2000 und 2003 an den Zentralrat der Juden geschrieben wurden. Die "Signale aus dem Publikum", wie Benz es nennt, belegen, wie verbreitet antisemitische Stigmata noch heute sind. Den Juden wird klischeehaft "Geschäftstüchtigkeit, Reichtum, politischer Einfluss und Selbstbezogenheit" vorgeworfen. Oft mündet dies in den Vorwurf, "Juden seien selbst daran schuld, dass man sie nicht mag". Eine Diplom-Sozialpädagogin aus Köln schreibt, dass ihr, nachdem sie eine Fernsehdiskussion von Günther Gaus mit dem jüdischen Zentralratspräsidenten Paul Spiegel gesehen hatte, eingefallen sei, dass Paul Spiegel, "…als Jude geschächtetes Fleisch essen würde,...und da waren Sie mir direkt unsympathisch." Ein anderer schreibt 2003, dass er wissen möchte, "…wie viele Millionen Euro jährlich von unseren Krankenkassen nach Israel fließen…", und weiter, dass "man über diesen Sachverhalt ja nicht berichten dürfe, da dieses Thema in den Medien ja tabuisiert sei." Womit der Verfasser des Briefes antizipiert, Juden würden Kontrolle über die Medien ausüben. Ein lange tradiertes Vorurteil, das existiert, seit es Massenmedien gibt.
In einem anderen Kapitel stellt Wolfgang Benz die brisante Frage nach dem Zusammenhang von Israelkritik und Antisemitismus. Hier wird auch der Sachverhalt des so genannten "linken Antisemitismus" berührt. Also, "Wie viel Israelkritik ist erlaubt?" Benz greift zur Erläuterung die mediale Verwendung der alttestamentarischen Metapher "Auge um Auge, Zahn um Zahn" heraus. Durch die gewollte Verknüpfung dieses allgemein bekannten Satzes aus dem Alten Testament mit dem Nahostkonflikt würden "Stereotypen zur Stimulierung negativer Assoziationen wie Rachsucht, Auserwähltsein und religiöse Exklusivität" beim Leser erzeugt. Ein antisemitisches Vorurteil, dass, kritisiert man es, meist zu der Aussage führt, "Israel dürfe man ja nicht kritisieren". Solche Äußerungen finden sich aber gerade bei denjenigen wieder, die das "das Existenzrecht des Staates Israel bestreiten, und mit einer Diffamierung seiner Bürger argumentieren". Wolfgang Benz definiert das als "Antisemitismus ohne Antisemiten". Er glaubt, dass sich die Sprecher über den impliziten Antisemitismus in ihren Aussagen nicht bewusst sind. Allerdings ist hinzuzufügen, dass politische und journalistische Eliten, aber auch linke Palästinaunterstützer, werden sie auf diesen Sachverhalt hingewiesen, äußerst lernresistent sind. Ja manchmal auch aus populistischem Machtkalkül mit juden- und ausländfeindlichen Aussagen hantieren. Mit verheerenden Folgen, wie wissenschaftliche Forschungen zum Eliterassismus, zum Beispiel des Holländers Teun A. van Dijk oder der österreichischen Linguistin Ruth Wodak, gezeigt haben. Dennoch sind die Ursachen des alltäglichen Antisemitismus äußerst komplex und schwer eindeutig zu definieren. Der so genannte "sekundäre Antisemitismus" nach Auschwitz kommt in harmlos klingen Sätzen daher. Mit der Frage "Wie lange sollen wir noch büßen?" beispielsweise, unterstellt der Fragende, Juden würden sich an Wiedergutmachungen bereichern. Benz schlägt zur Klärung der Ursachen des Antisemitismus vor, sowohl Ergebnisse aus der Rassismusforschung als auch aus der Psychologie und Psychoanalyse hinzuzuziehen. Nur mit Aufklärung glaubt der Autor kompliziert verschlüsselten antisemitischen Vorurteilen entgegentreten zu können. Eine breite Front aufgeklärter Bürger soll verhindern, dass antijüdische Ressentiments in einer scheinbar harmlosen Sprache unbewusst weitergegeben werden. Wolfgang Benz wirbt denn auch um die Unterstützung durch den Leser und fordert ihn unmissverständlich auf, sich der besonderen Erscheinungsform des Antisemitismus in Deutschland bewusst zu werden. Juden müssen aber, auch das zeigt Wolfgang Benz am Beispiel anderer europäischer Länder, nicht nur in Deutschland, als Projektionsfläche für das Ausagieren beliebiger Vorurteile herhalten. Aber gerade in Deutschland, wie auch in Österreich, hat sich der Antisemitismus in einer besonders heimtückischen Art und Weise verkapselt. Ein besonderer Hinweis darauf, wie Traditionen in der christlich geprägten abendländischen Kultur weitertransportiert werden. Jedenfalls sollte es niemanden verwundern, dass der Historiker Benz eine besondere Verantwortung der Deutschen bei der Bekämpfung des Antisemitismus einfordert. Denn dem zu beobachtenden Herausschieben der Akzeptanzgrenze eines ganz alltäglichen Rassismus und Antisemitismus innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft muss etwas entgegengehalten werden. Wolfgang Benz liefert dazu die schlagenden Argumente.