Auf dem zentralen Platz von Évry Courcouronnes steht eine Gruppe von Frauen. Dunkle, fröhliche Gesichter strahlen Michel Serfaty entgegen, er ist hier kein Unbekannter.
"Nun, das ist ein extrem sensibler Stadtteil hier. Da hinten, wenn ich alleine in den Wohnblock gehe, sehe ich an den Fenstern die Blicke 'Aha, der Rabbiner ist da', gut. Wenn ich aber mit meinen Leibwächtern reingehe, höre ich die warnenden Pfiffe: 'Achtung, die Bullen kommen'."
Evry liegt südöstlich von Paris. Als Frankreich von islamistisch motivierten Attentaten getroffen wurde, kamen einige der Täter und Hintermänner aus dieser Gegend.
"Es gibt hier drei ultra-sensible Stadtviertel im Großraum Évry. "Les Pyramides" "Les Tarterêts" in Corbeille und "La Grande Borne" in Grigny. Das sind – in Anführungsstrichen – die Hochburgen der Bandenkriminalität, Waffen, Drogen und Prostitution. Die Polizei kämpft jeden Tag gegen die Jugend dieser Stadtteile und seit 30 Jahren bekommt die Polizei sie nicht in den Griff. Die Polizei schafft es nicht, das einzudämmen. Es sind immer wieder verschiedene Strategien versucht worden, aber insgesamt ist es eine Niederlage".
"Linie 402" - Lebensadern zwischen den Stadtteilen
Zu den Problemfällen der Polizei gehörte auch die Buslinie 402. Sie verbindet die schwierigen Stadtteile untereinander, ist aber für viele das einzige Transportmittel zur Schule, zum Krankenhaus, zur Schnellbahnverbindung Richtung Paris: Wer den Bus regelmäßig nahm, erlebte Zerstörung, Gewalt, immer wieder streikten die Busfahrer und verlangten Polizeischutz. Als alles nichts nutzte, griffen die Mütter ein.
"Eines Tages haben die Damen sich zusammengetan und gesagt, wir werden den jungen Leuten helfen, sich besser zu benehmen" und sie haben den Verein "Linie 402" gegründet. Monatelang sind sie abwechselnd mitgefahren, haben die Jugend beobachtet und gemaßregelt, wenn nötig, ja, ja das sind die Mütter aus diesen Stadtteilen."
Den Müttern war klar: Funktionierende Buslinien sind wie Lebensadern, ohne Transportverbindungen nimmt das, was sie hier Ghettobildung nennen, noch weiter zu. Der Druck im Kessel ist enorm, die Arbeitslosigkeit der 15- bis 24-Jährigen liegt bei mehr als 35 Prozent.
Ein evangelischer Pfarrer von der Elfenbeinküste gesellt sich zur Gruppe. Eine kurze Abfrage ergibt: eine Katholikin ist dabei, eine Atheistin, die Mehrheit ist muslimisch, die Familien der meisten Frauen stammen aus Mali, Guadeloupe, von der Elfenbeinküste.
Weil die öffentlichen Verkehrsmittel an diesem Tag streiken, ist der Rabbiner mit seinem Bus gekommen, und holt die Gruppe eigens ab. Vom Platz mitten in Évry geht die Fahrt nach Ris-Orangis, in die Räume der Moschee und des jüdisch-muslimischen Freundschaftsvereins.
Es geht um Humanität und Menschlichkeit
In der ersten Etage, im Gebetsraum der Frauen, hängen Porträtfotos. 42 Gesichter, lachende Frauen, Männer, die Sonne beleuchtet die Bilder von hinten. Dass es 21 Juden und 21 Muslime sind, wird erst später aufgeklärt. Die Botschaft der Journalistin Eva Tapiero soll sein: Es geht in erster Linie um Humanität, um Menschlichkeit, die Religionszugehörigkeit ist zweitrangig.
Die Mütter aus Évry stehen im Halbkreis, die muslimischen und nicht-muslimischen Mitarbeiter des Rabbiners führen durch die kleine Ausstellung, auf dem Boden liegen Zettel mit Sätzen: Das sind die Vorurteile, erklärt Michel Serfaty, und diese Vorurteile liegen nicht zufällig auf dem Boden.
"Man kann darüber laufen, sie zertreten, man muss sich der Vorurteile entledigen."
Im Untergeschoss beginnt das Mittagsgebet, der Lautsprecher im Flur überträgt in die erste Etage. Niemand stört sich daran.
Marie-Paule Bouyika hat sich in einen Nebenraum zurückgezogen, Sie hält die organisatorischen Fäden zusammen im Kampf gegen die Kriminalität in den Stadtvierteln und im Bemühen der Mütter um Hilfe für die Jugend. Marie-Paule berät die Lokalpolitik, ist aktiv in vielen Vereinen.
"Es gibt einen Krieg der "Ghettos", der Quartiers, die arbeiten nicht zusammen. Man spricht meistens nur von der Zusammenarbeit der Städte, der Bürgermeister, aber so denken die Leute in den Stadtteilen nicht, und das führt zur Ghettobildung. Wir haben Jugendliche, die fühlen sich im Kampf mit anderen aus unterschiedlichen Gründen und wir versuchen, die zusammenzubringen."
Sogenannte Junior-Diplomaten sollen helfen, zwischen den Stadtteilen Brücken zu bauen. "Gemeinschaftsgefühl versus Feindschaft" ist das Motto.
"Und jetzt sagen die: Wir sind alle aus dem Département Essonne, wir sind alle Bürger der Französischen Republik, und: wir sind Europäer, voilà. ..jetzt reden sie von Europa und sagen, hey, wir sind Europäer, und ich sage, sehr gut! Formidable."