Radlerinnen und Radler hatten nicht viel zu melden und durften um Fahrzeuge sowie Fußgänger herumfahren. Das war mal galant, mal halsbrecherisch. So zumindest hat es Johannes Ullmaier erlebt. Auf der Straße als Zwerg unter stählernen Riesen und, Fußgänger umkurvend, als Riese unter Zwergen. Das heißt für alle Radfahrenden: sich möglichst unsichtbar machen als ein verkehrstechnisches Zwitterwesen in einem Umfeld, das gefühlt recht- und regellos war. Noch einmal lässt Johannes Ullmaier eine typische Fahrt von A nach B in diesem Essay auferstehen.
Der Literaturwissenschaftler Johannes Ullmaier ist Akademischer Rat am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Seine Spezialgebiete sind die Literatur des 20. Jahrhunderts, Avantgardebewegungen sowie die akustische Literatur (Lautpoesie, Hörspiel, Lesung und Spoken Word).
Phase Rot: Gestern
Ich muss von A nach B und gehe zu meinem Rad. Es lehnt im Hinterhof an der Garagenwand. Eine Verwandte hat es mir vor Kurzem freundlich überlassen, nachdem das vorige, das ich für 20 Mark vom Flohmarkt hatte (und der Händler von wer weiß wo), mir gestohlen wurde - und das davor, das Rennrad meiner Jugend, endgültig zu Bruch gegangen war.
Dieses ist ein Alu-Damenrad, noch ziemlich gut in Schuss. Es ist nicht abgesperrt, aber um den Lenker hängt ein Zahlenschloss. Im Losrollen schwinge ich mich auf den Sattel und fahre durch das offene Gittertor der Hofeinfahrt - über den gerade freien Bürgersteig - auf die, wie meist am frühen Vormittag, wenig befahrene Straße.
Vor mir der gewohnte Weg zu meiner Ausbildungs- bzw. Bildungsstätte, je nach Perspektive. Eine Nutzfahrt quer durch eine durchschnittliche deutsche Mittelstadt, ein Parcours mit allem, was dazugehört: Kreuzungen, mit oder ohne Ampel, ein Wohngebiet mit Durchgangsstraße, Zebrastreifen, Kopfsteinpflaster, auch ein kurzes Radwegstück; eine mehrspurige Hauptstraße; eine Steigung, eine Baustelle und eine Abfahrt, die in eine Kreuzung mündet.
Schließlich ein großer Platz, wo das Gedränge der gesamten Stadt sich ballt - alles emsig frequentiert von anderen Verkehrsteilnehmern: Autos, Mofas, Motorrädern, Lastern, Bussen, Straßenbahnen und Passanten. Auch Züge, Schiffe, Flugzeuge sind unterwegs, mir jedoch gottlob noch nie direkt begegnet.
Bremsen, schlucken, rationalisieren: "Überleben geht vor Rechtbehalten"
Anders als der schwarze BMW, der jetzt von links hinter dem jede Sicht zuparkenden Speditionswagen herausdonnert und mir die Vorfahrt nimmt. Bremsen. Schlucken. Rationalisieren. "Überleben geht vor Rechtbehalten." Die Zwangsmoral der Ohnmacht, des geringeren Impulses. Leider auch Brutstätte für Spießer-Paranoia: "Immer komme ich zu kurz! Nie zu meinem Recht!"
Dann lieber eine kurze therapeutische Besinnung auf Murphys Stadtradfahr-Gesetze: "Wenn am Tag bloß einer um die Ecke kommt, dann exakt im selben Augenblick wie du." Als habe er dort auf dich gewartet. Auch die nächsten Meter zementieren Murphys Law: "Ein am Gehsteigufer ruhendes Auto-Krokodil gleitet höchstwahrscheinlich genau dann in den Straßenfluss, wenn du vorbeikommst." Kuck doch!
"Oder verbaut dir wenigstens mit einer unvermittelt ausgestreckten Tür‑Pranke den Weg." War das jetzt Absicht? Allgemein gefasst: "In jeder Situation tut jeder andere Verkehrsteilnehmer immer das Dümmstmögliche." Oder noch allgemeiner: "Alle außer dir sind grundlos unterwegs. So wie du für sie." Und verschärfend: "Jedes einmal eingetretene Schlamassel steigert die Wahrscheinlichkeit für weitere."
Doch auch: "Es ist noch meistens gutgegangen." Quod erat demonstrandum. Es folgt ein relativ entspanntes Stück. Ich fahre nicht ungern Rad. Bin aber weder Profi noch Fanatiker. Einige betreiben Radfahren als Sport, Extremerfahrung, Masochismus oder Fetischismus (so wie andere das Laufen oder Autofahren).
Eher Pragmatiker als cooler Desperado im Asphaltdschungel
Andere wollen auf dem Fahrrad Wind und Wetter, die Natur oder sich selbst erfahren, flanieren, meditieren, den Planeten retten oder eine Revolution anzetteln. In San Francisco zelebrieren Anarchisten Bike-Paraden, reklamieren die Straße temporär für sich. Sagenhaft. Aber sowas ginge hier, wenn überhaupt, höchstens um drei Uhr früh. Zumal ich mich als Stadtradfahrer hierzulande kaum als Teil einer Gemeinschaft oder gar Bewegung sehen kann, sondern tendenziell vereinzelt bin.
So wie jetzt. Und zwar nicht als cooler Desperado im Asphaltdschungel, sondern als Pragmatiker, der halbwegs schnell und ungeschoren von A nach B möchte - und froh ist, wenn er ankommt. Als Radfahrer in einer Autowelt braucht man die Extremerfahrung nicht zu suchen. Sie findet einen täglich ganz von selbst.
Ein Hund rennt auf die Straße. Kein Problem. Ich rolle ohnehin verlangsamt. Auf die rote Ampel zu. Natürlich werde ich als Radfahrer nicht ernstgenommen. Aber darauf kommt es unter den gegebenen Verhältnissen auch gar nicht an. Im Gegenteil liegt hier gerade meine Überlebenschance.
Ich habe keinen Führerschein. Nicht mal das legendäre "Fußgängerdiplom". Und wenn ich jemals eine Radprüfung gemacht habe, dann weiß ich es nicht mehr. Meine Führerscheinverweigerung mag ursprünglich ein Akt der Rebellion gewesen sein, eine kleine Volte aus dem Strom des Konformismus. Doch statt "Venceremos!" oder "Volksverräter!" hab ich dafür meist nur Häme, Mitleid oder Fassungslosigkeit geerntet: "Fünfmal durchgefallen, was?" "Reicht es jetzt nicht einmal für ein gebrauchtes?" "Kein Führerschein? Wie jetzt?"
Der allgemeinen Raserei so elegant wie möglich ausweichen
Die Idee, mit Rad und Bahn durchs Leben zu gelangen, wirkt auf die große Mehrzahl so bestürzend und bizarr, dass sie mich für unzurechnungsfähig hält. In dem so entstehenden Narrenfreiheitsraum habe ich mich jedoch mittlerweile ganz gut eingerichtet. Hier zählt vor allem die hohe Kunst, der allgemeinen Raserei von Fall zu Fall so elegant wie möglich auszuweichen oder meine Lücke darin zu entdecken und geschickt hindurch zu schlüpfen.
Am besten ist, wenn niemand merkt, dass ich je da war. Am zweitbesten, wenn ich schon wieder weg bin, bevor die Anderen sich zu mir verhalten müssen. Am drittbesten, wenn Andere mich zwar beachten müssen, aber nicht durch mich gestört werden. Am viertbesten, wenn ich zwar störe, aber schon verschwunden bin, bevor jemand zum Meckern kommt. Und am fünftbesten, wenn sich die sechst- und siebtbesten Fälle gerade noch verhindern lassen.
In der an mir vorbeidüsenden Blechlawine gibt es freilich keine Lücken. Da hilft nur stoische Kontemplation. Deutschland ist ein Autoland: mit Autobahnen, Autostädten, Automarken, Autopolitikern, Autolobbyisten, ja selbst Auto-Autogegnern. Vor jedes Wort kann man das Präfix "Auto-" setzen. Automatisch trifft es zu. Und wo das zu Verwerfungen führt - Verkehrstoten, Luftverschmutzung, Umweltschäden, Lärm, Zersiedelung sowie zur Mästung ominöser Ölbarone -, da kann die Lösung stets bloß lauten: "Noch mehr Autos! Noch mehr Autobahnen!"
Wer zu diesem autokratischen Regime Distanz hält, kriegt kein Zuckerbrot: keine Steuergeschenke, keine Dienstfahrzeuge, keine autorisierten Wege. Doch zum Ausgleich dafür Feinstaub, Kohlenmonoxyd und Kohlendioxyd, kaputte Atemwege und erhöhtes Unfallrisiko. Radfahren ist verkehrslogistisch nicht mehr vorgesehen. Ein Rudiment aus früherer Zeit. Zu dulden allenfalls noch als Passion, im Doppelsinn von Leidenschaft und Leidensweg.
Das Generalproblem ist der Verkehr
Ich sehe unverändert rot. Auf der anderen Seite hat das Autofahren zugegeben große Vorteile. Wenn die Deutschen ihre Kriege mittlerweile auf den Autobahnen austragen, ist das sicherlich ein Fortschritt. Auch haben Autofahrer bislang nie eine Revolution gemacht (das Lenkrad stört einfach). Und natürlich ist das Auto als Erfindung im Prinzip ein Segen: schnell, bequem und wetterfest, für viele gar identitätsstiftend und lustbesetzt. Und teils schier unverzichtbar: bei Umzügen, in Notfällen, auf dem Land oder im Alter.
Auch fahre ich selber gern gelegentlich bei anderen mit. Es wäre deshalb Heuchelei, mich als Auto-Abstinenzler aufspielen zu wollen. Im Gegenteil bewundere ich die Autofahrer. Und zwar nicht bloß jene, die mich generös als Tramper mitnehmen, sondern sie alle, die mit diesem potenziellen Mordwerkzeug - ob aus Güte, Umsicht, Eigeninteresse oder andressiertem Zwang - in aller Regel unfassbar vernünftig umgehen.
Selbst Leute, denen ich außerhalb des Autos nicht das Geringste oder Schlimmstes zutrauen würde, genießen hier im Grunde mein Vertrauen. Andernfalls müsste ich mich sofort panisch in Deckung bringen. Das Generalproblem ist nicht das Auto. Das Generalproblem sind nicht die Autofahrer. Das Generalproblem ist der Verkehr.
Die Ampel springt auf grün. Ich rolle los. Was aber ist denn eigentlich Verkehr? Verkehr im schwachen Sinn ist jede Fortbewegung (übrigens auch für grüne Rad-Apostel) auf dafür vorgebahnten Wegen, die miteinander topologisch in Beziehung stehen. Verkehr im starken Sinne, wie ich ihn erlebe, ist dagegen durch das Ausmaß definiert, in dem die Anzahl und Frequenz der aktuellen Verkehrsobjekte jeweils Koordination und Kooperation erfordern, um das Chaos und den Kollaps zu verhindern. Der Verkehr ist das Gedränge.
Zum Beweis preschen zwei Limousinen scharf an mir vorbei. Die Grenzen des totalen Verkehrs sind:
A) im Paradies: der Höflichkeits-Infarkt. "Sie zuerst!" "Nein, bitte Sie!" "Nein, Sie!" Bis alles steht. B) im Purgatorium: die bürokratische Verzettelung. "Moment, ich muss erst im Gesetz nachschauen, wie das da geregelt ist." "In Paragraf x steht..." "Ja, aber in Anhang b..." Bis alles zum Erliegen kommt. Und C) in der Hölle: der finale Crash. "Ich zuerst!" "Nein, ich!" "Nein, ich!" Alle rasen blindlings ineinander. Wer überlebt, schlägt sich noch weiter um die Vorfahrt. Bis sich nichts mehr rührt.
Die aktuelle StVO kann nicht das letzte Wort sein
Das rechte Maß muss irgendwo dazwischen liegen. Aber wo genau? Verschiedene Länder haben hier - von Dänemark bis nach Ägypten - sehr verschiedene Kulturen ausgebildet. Hinter mir der Lärm von einem aufgebohrten Mofa. Was ist es, das da in uns fährt?
In Deutschland muss selbstverständlich alles nach Gesetz und Vorschrift gehen. Derzeit also nach der StVO-Novelle von 1980 - die gleichwohl (wie die vorigen) von Autofahrern und zum Autofahren gemacht ist. Genau wie die Verkehrsführung. Als Radfahrer bin ich hier in aller Regel gar nicht existent.
Das merke ich umso deutlicher, wo es - wie hier - einmal ein kurzes Stückchen sogenannten Radweg gibt: Es ist so gedacht, dass ich die darauf überall herumstehenden Lieferwagen, PKW und Mülltonnen-Ensembles hurtig überspringe, so wie die Hundehaufen, Baumwurzeln und Baulöcher. Und wenn ich mich dabei verletze, bin ich laut Gesetz meist selber schuld. Ferner ist es so gedacht, dass ich mich kurz vor der Bushaltestelle de- und nachher wieder re-materialisiere. Oder vorschriftsmäßig absteige und mit der einsteigenden Menschenmasse samt Rad in den Bus gespült werde.
Schließlich ist gedacht, dass ich dort, wo sich der Radweg plötzlich zwischen Bürgersteig und Schnellstraße verliert, hundert Meter rückwärts fliege, absteige, auf dem einzigen legalen Weg als radschiebender Fußgänger die Straße überquere und den Radweg auf der anderen Seite in die falsche Richtung nehme, wo ich immerhin bloß andere Radfahrer und hochnervöse Parkhaus-Ausfahrer fertigmache.
So ist es gedacht. Es ist kurzum an nichts gedacht. Zumindest nicht an Radfahrer. Tant pis. Hätte ich mich - als solcherart Nicht-Vorgesehener - immer stets an alle Vorschriften gehalten, führe ich meinem Leben jetzt schon Jahre hinterher, wäre vielleicht noch auf dem Schulweg - oder, wahrscheinlicher, längst tot. Dabei hatte ich bisher weder einen schlimmeren Unfall noch je Ärger mit der Polizei.
Das legt den Schluss nah, dass die aktuelle StVO, so unerlässlich sie als nominelle Basis und in vielen Einzelfällen ist, doch nicht das letzte Wort sein kann. Hinter ihrer prinzipiellen realen Begrenztheit und strukturellen Schieflage zugunsten der je herrschenden Ideologie (momentan dem Kfz‑Kult) muss es noch etwas anderes geben.
"Fahren und fahren lassen": eine Art kategorischer Verkehrsimperativ
Eine Art kategorischen Verkehrsimperativ, der lauten könnte: "Bewege dich so fort, dass alle - der Planet, die Anderen und du - dabei möglichst wenig Schaden nehmen." Oder einfach: "Fahren und fahren lassen." Und selbst hinter dieser fast schon leeren Abstraktion wohnt in der Realität noch allerlei Kinetik und Dynamik, Psychologie und Intuition, Statistik und vor allem: Kasuistik.
Jetzt zum Beispiel muss ich mich, auch wenn gerade weit und breit nichts kommt, ausnahmsweise sichtbar machen und als personifizierte Regel vor der roten Ampel warten. Auf der anderen Seite steht ein Kind. An der nächsten Kreuzung kann es freilich wieder völlig anders aussehen ...
Wollte ich die kategorischen Verhaltensgründe näher aufdröseln, so käme ich ungefähr zu folgendem Organigramm: Unverrückbar an der Spitze steht als absoluter Wert die Nichtberührung als Prinzip und Praxis; darunter gleichgeordnet die Minimierung der Wegstrecken und die Maximierung der Geschwindigkeiten; und darunter schließlich optional: Bequemlichkeit, Interessantheit oder Eleganz der Wege oder Akte.
Im Ganzen geht es also, kurz gesagt, um ein für alle möglichst umsichtiges und effizientes, gegebenenfalls gar schönes Abstandsmanagement. StVOs sind hier kein Wert an sich, sondern nur so hilfreich, wie sie dabei helfen.
Ich passiere eine öffentliche Uhr. Noch ganz gut in der Zeit ... Die öffentlichen Uhren gehen, wenn auch alle etwas anders. An der nächsten Ampelkreuzung schlängle ich mich entlang der Autowarteschlange vor. Jemand hupt. Wegen mir jetzt? Weil er meint, das sei verboten? Weil es seine Männlichkeit gefährdet, rechts im Stehen von einem Fahrrad überholt zu werden? Oder mehr aus Freude? Weil er eine Hupe hat? Und immer testen muss, ob sie noch geht?
Ich weiß es nicht, die Scheiben sind verdunkelt. Ich weiß bloß, dass ich keine Hupe habe. Nur eine Klingel, die jedoch, selbst wenn sie - Mist! - nicht gerade klemmen würde, wenig Sinn hätte. Natürlich könnte ich jetzt durchdrehen und rumbrüllen, allerdings erwartbar mehr zur eigenen Triebabfuhr oder Verstörung schuldloser Passanten als zu irgendeiner Klärung.
Drinnen Slapstick - draußen Standard
Eine kurz imaginierte Panzerfaust löst das Problem viel effizienter und dezenter. Letztlich aber zeigt all das doch wieder nur, wie asymmetrisch, ja unmöglich Kommunikation über die Speziesgrenzen ist. Und wie restringiert, sobald das Mensch-zu-Blech-Verhältnis unter 1 zu 10 sinkt.
Überhaupt die Fortbewegungsevolution: Natürlich ist es onto- wie phylogenetisch einleuchtend, von einer Abfolge aus Kriechen, Krabbeln, Vierbeinig- und Aufrechtgehen, Reiten, Fahren und Fliegen auszugehen. Bis zu gewissem Grad auch, sie mit diversen Tieren, Kindern, Fußgängern, Reittieren, Kutschen, Fahrrädern, Motorrädern, Autos, Flugzeugen und Raumschiffen zu korrelieren.
Fatal ist allerdings, wenn daraus eine Rangfolge gezimmert wird, eine Art Fortbewegungs‑Ständeordnung, die die Dialektik dieser Speziesgenesen einebnet und leugnet - ihr filigranes Wechselspiel von Spezialisierung und Verkümmerung, Zugewinnen und Verlusten. Und die für ein dumpfes "Höher! Schneller! Weiter!" tendenziell auch alle internen Entwicklungen - vom Stelzengehen bis zum Krückengehen, vom Hochrad bis zum Vierer-Tandem und von der Isetta bis zum Muldenkipper - ignoriert. Vor allem aber die jeweilige Umwelt.
Ich komme in ein älteres Wohnviertel mit schmalen Straßen. Unversöhnlich kämpfen dort zwei Auto-Monster um den einen Parkplatz, den sie jeder für sich zuerst entdeckt haben. Dabei malträtieren und blockieren sie vor allem jene, die mit ihrem Showdown nichts zu tun haben: ein Kind mit seinem Gokart, ein paar ältere Fußgänger und mich.
Dass die beiden Blechberserker sich dabei so rabiat aufführen, pointiert indes nur die monströse Norm. So oder so wären sie in einer menschlicheren Welt hier fehl am Platz: Als würde man zuhause stets in schwerer Ritterrüstung durch die Wohnung scheppern; dabei alles ruinieren und jedes Mal Minuten brauchen, bis man sich am anderen krachend durch die Tür vorbeigezwängt hätte. Drinnen ist das offensichtlich Slapstick. Draußen jedoch offensichtlich Standard.
Straßen ohne Autos: ein stadt-utopischer Moment
Einmal im Jahr, zu Karneval, werden hier am Tag vorm großen Umzug alle Autos abgeschleppt. Und für einmal zeigt sich, was für eine wunderbare Stadt mit wunderbaren Straßen unter dem Blech-Ausschlag verborgen läge. Kleine Kinder trauen sich - erst ungläubig, dann immer fröhlicher - hervor und malen auf der Fahrbahn. Auch andere Leute, die man sonst nie sieht, kommen allmählich aus der Deckung. Menschen, Tiere, Bäume erleben einen kurzen stadt-utopischen Moment - bis die Eltern der entführten Autos eintreffen und ihn mit ihrem Wehgeschrei beenden.
Weiter über pittoreskes Kopfsteinpflaster. Ich höre die Gehirnzellen aus meinem Schädel purzeln. Also besser schnell da durch. Das Fahrrad quietscht und ächzt. Als echter Radler müsste ich jetzt solidarisch mitleiden. Und kenne solches Mitleid auch: Wenn das Rad samt Ständer umfällt (fiese Schrägen); wenn es trüb im Regen steht (das böse Wetter); oder wenn die Kette knarrt, weil der Besitzer sie nie schmiert (der faule Hund).
Doch das Kopfsteinpflaster perforiert nicht nur das Hirn, sondern auch jedes Sentiment. Mit den verbliebenen Hirnzellen wechsle ich auf den betonierten, hier fast vier Meter breiten und - so weit ich sehe - gerade leeren Bürgersteig. Nein, halt, da vorn kommt doch ein einzelner Mann. Ich weiche seiner Gehlinie so früh und weit wie möglich aus. Doch schon aus 20 Metern fängt er völlig haltlos an zu brüllen: "Das ist kein Radweg hier! Hier ist der Bürgersteig! Das ist verboten!"
Durch die geschlossene Parkfront komme ich jetzt nicht mehr auf die Straße. Unaufhörlich gellt es weiter: "Bürgersteig! Verboten!" Alles, was im Leben dieses Menschen schiefgegangen ist (und das ist offenbar nicht wenig), muss jetzt, wo er einmal recht hat, raus. Rechthaben rechtfertigt jeden Terror, jede Aggression. "Nichts zu suchen!"
Ist dieses Hass-Rohr auf zwei Beinen meine Nemesis? Für sämtliche Vergehen an Fußgängern der letzten, sagen wir, zehn Jahre? Oder ein Unnaturereignis? Oder muss ich mich nur tief genug in ihn hineinfühlen? Ist seine Tobsucht doch im Letzten zu verstehen? Mit letzter Not komme ich irgendwie an ihm vorbei.
Wie ein Hamster auf der Autobahn
Schlagfertig wie ich bin, weiß ich schon zwei Minuten später, was ich hätte zurückbrüllen sollen. Kehre aber deswegen nicht um. Sein Glück. Und meins. Lieber schnell noch einen Brief einwerfen. Ich schwebe an den Briefkasten heran, halte mich mit einer Hand kurz daran fest: flups - und weiter. In der gesamten Weltgeschichte wird das mit keinem Fortbewegungsmittel je besser zu machen sein.
Gleichwohl bewegt man sich als Radler fortbewegungsevolutionär sonst eher im Mittelfeld: ob bei der Schnelligkeit, Wendigkeit, Prothesenabhängigkeit wie auch sozial. Eigentlich eine gute Beobachterposition - sowohl auf andere Spezies wie aufs große Ganze. Je weniger ich allerdings als Radler vorgesehen bin, umso mehr werde ich notgedrungen auch zum teilnehmenden Beobachter.
Besteht die zentrale Umweltanpassungsstrategie dann doch gerade in der Amphibie - nämlich der Behändigkeit, mit der man unablässig mal zum Auto, mal zum Fußgänger mutieren muss, um durchzukommen. Nun wird es freilich ernst. Unvermeidlich muss ich auf die vierspurige Hauptverkehrsader. Doch mit etwas Glück reicht für mein kurzes Wegstück eine Ampelflaute zwischen zwei Verkehrsstürmen.
Es sieht ganz gut aus - aber nein: Etwas zu früh bekommt die scharrende Autoherde hinter mir schon grün und brettert los. Reifenquietschen, Motorheulen, Stampede! Eskalierendes Gehupe - doch zu glauben, es gälte mir, wäre jetzt tragische Hybris. Außer dem Spurkampf aller gegen alle kennt die Stampede nichts und niemanden. Mein Status ist jetzt der eines Hamsters auf der Autobahn. Keine Chance.
Ich flüchte auf den Bürgersteig, der hier wie immer leer ist. Ein Reservat, das von seiner Stammspezies, dem Bürger, schon vor Zeiten aufgegeben wurde. Und von mir unberechtigt invadiert wird. Lieber illegal als letal. Kaum zwei Meter weiter, doch in sicherem Nischenabstand, tobt jetzt die Stampede in den nächsten Ampelstau. Muss jede Evolutionsstufe sich erst zu Tode siegen, bevor zwischen den Spezies wieder verhandelt werden kann?
Auf meinen illegalen Fahrtstücken frage ich mich bisweilen, was wäre, wenn mir - als Führerscheinlosem - mal der Führerschein entzogen würde. Hätte ich dann minus einen? Müsste ich dann einen machen, damit ich wieder keinen hätte? Auch die folgende Etappe fordert Fitness: ein paar hundert Meter Steigung rauf zum Stadthügel. Nicht unbedingt die Tour de France, aber Runterschalten wäre hier schon sinnvoll.
Möglichst störungsfrei und effizient durchs Räderwerk der Stadt gleiten
Allerdings stößt das Hochstrampeln, so wie das Stadtradfahren insgesamt, hier an einen sozialen Limes. Denn schnieke und geschniegelt bleiben kann ich dabei nur bedingt. Immer etwas zu verschwitzt und zu zerzaust, bleibt mir die Zufahrt zu den Hochplateaus der Aus-dem-Ei-Gepellten prinzipiell verwehrt. Der Verlust hält sich jedoch beidseits in Grenzen.
Am Gipfel wartet eine repräsentative Großbaustelle. Mit einer Umleitungslogistik wie von M. C. Escher. Ich schließe mich so gut es geht den Autos an. Und schon beginnt wieder die Abfahrt. Für dieses Rad, ohne zu bremsen, sogar relativ rasant. Mit dem Adrenalin kommt die Erinnerung an jugendliche Mutproben: volle Pulle! - freihändig! - und jetzt die Augen zu! - Wie lange traust du dich? - nicht blinzeln! - Patsch! - Damals kein Malheur. Doch jetzt?
Manchmal frage ich mich, ob Radfahren in der Stadt nicht nur etwas für junge Menschen, vielleicht sogar nur für junge Männer ist, die mehr oder weniger bewusst auf Todesnähe und Rodeo abfahren. Wie lange werde ich hier so runterheizen können? Unten eröffnet sich vor mir die dichtbefahrene, unfallträchtige, mir aber wohlbekannte Ampelkreuzung. Lagecheck: Akteure? Ampelphase? Wege und Geschwindigkeiten?
Paradoxerweise geht mein hominider Ehrgeiz - mit wachsendem Freiheitsgrad meiner Verkehrshandlungsoptionen - überwiegend dahin, wie eine optimal gesteuerte Maschine zu agieren, also möglichst störungsfrei und effizient durchs Räderwerk der Stadt zu gleiten. Mehrere hundert Meter lang bremse ich deshalb gerade so, dass ich den Beginn der Grünphase voraussichtlich mit maximalem Schwung erreiche.
Dazu fortwährender Check-Up: Rollen von irgendwo gerade potenzielle Rechtsabbieger an, die ignorieren könnten, dass sie gleich Rot haben werden? Fremde Kennzeichen? Verrückte? Nein. Stehen unten an der Ampel Wartende, die mir den Weg verstellen oder sonst etwas Fatales tun könnten? Nein. Also zack und durch. Es klappt. Auf die Sekunde. Naja, fast. Und nun - als Grand Finale - noch wie jeden Tag: die Überquerung. Zu überqueren ist, mit abschüssigem Schwung, der Bahnhofsvorplatz.
Wunden, Schrammen, schwindelige Birne
Und damit der Ort, wo sämtliche Verkehrsadern der Stadt zusammenlaufen: der öffentliche Nah- und Fernverkehr in Gestalt von (zum Glück auf Schienen separierten) Zügen, doch eben auch diversen Straßenbahn- und Buslinien mit etwa zehn verschiedenen Haltestellen; dazu private Fernbusse mit eigenen Stationen, der Taxistand, die Polizeistation mit Motorrädern, Streifen- und Mannschaftswagen; dazu jede Menge Lieferwagen, forsche und verirrte PKW, vereinzelt andere Radler, Skater, Fußgänger sowie bloß kurz zu Fuß gehende Pendler, Reisende mit großen Koffern, Geschäftsleute, Mütter, Kinder, Kinderwagen, Hundehalter, Obdachlose, Punks in vorzeitlichen Sitzrunden.
Ein Szenario mit vielen unklar definierten Zonen, wo die Spezies wild durcheinanderwuseln. Alle mit ihren jeweiligen psychischen und physikalischen Impulsen, ihren unvorhersehbaren Richtungs- und Geschwindigkeitsveränderungen. Sich da durchzumogeln, ist jedes Mal eine Herausforderung, eine komplexe Mischaufgabe aus höherer Kinetik, Rad‑Artistik, Billard, Lotterie und Flipper - wobei es gerade darauf ankommt, nicht zu treffen!
Doch da zeigt sie sich, die Lücke. Jetzt oder nie! Krawusch! - Doch, hä? Wupp. Patsch. [Programmstörung. Wir bitten um Verständnis.] Über mir erscheint ein stoppeliges Kinn. "Was ist? Biste kaputt?" "Kaputt?", erkundigt sich mein Mund. Meine Ohren hören jedoch bloß tonloses Geröchel.
Bevor ich irgendwas kapieren oder reagieren konnte, muss mein Vorderreifen in eine der Straßenbahnschienen geraten sein und dort blockiert haben, während das übrige Gefährt samt mir in vollem Flug darüber abgehoben und sich überschlagen haben muss. Zu meinem unfassbaren Glück kamen gerade keine Autos, Busse oder Straßenbahnen daher. Die Verkehrsjustiz kennt hierfür den Begriff "Alleinunfall".
Puh, der Hinterkopf, der Steiß, die Fußballen, die linke Schulter, auch das Schulterblatt. Wo tut es denn nicht weh? Was für eine Scheiße ... "Das Rad kannste vergessen." "Kannst du aufstehen?" Andere Leute kommen hinzu. "Ist was passiert?"
Wenig später stehe ich - zehn Meter weiter, neben einem Imbiss-Stand - schon wieder auf den Beinen, die Hände beiderseits am Lenker abgestützt. Diverse Leute haben mir aufgeholfen, sich gekümmert, mich gerettet. Auch scheint dem Körper, wie man mir erzählt, im Flug noch eine Judo-Rolle aus der Kindheit wieder eingefallen zu sein.
Wunden, Schrammen, schwindelige Birne. Doch ich bin wieder im Gleichgewicht. Auch die Stimme meldet sich langsam zurück. Das Rad ist eine Achtundachtzig, lässt sich aber schieben. So weit, so gut. Offenbar bin ich nicht unverwundbar. Aber auch nicht so leicht totzukriegen. "Geht es auch wirklich?" "Klar." "Bist du sicher?" "Danke, kein Problem."
Ankunft, Ziel, geschafft
Einträchtig verbeult und ramponiert eiern das Rad und ich die letzten Meter über den Platz. Mein Urvertrauen in die Welt und ihre Menschen ist jetzt größer als zuvor. Ankunft. Ziel. Geschafft.
So erlebte ich das Stadtradfahren in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Und so erlebe ich es mit einigen Verkehrsteilnehmern und in manchen Städten, Vierteln, Straßen heute noch. Immer noch stößt man hier und da auf stehende, gehende und rasende Denkmäler dieser versinkenden Verkehrsepoche. Doch die Gegenwart des Stadtradfahrens sieht mittlerweile anders aus. Wir erfahren sie beim nächsten Mal.
Über den Autor:
Johannes Ullmaier schreibt außer Essays für das Radio Beiträge zur Popgeschichte und gab im Suhrkamp Verlag das Buch "Schicht! Arbeitsreportagen für die Endzeit" heraus. Die Wahrnehmung des Radfahrers im städtischen Verkehr gestern, heute und in Zukunft steht im Mittelpunkt eines neuen dreiteiligen Essays für den Deutschlandfunk.
Johannes Ullmaier schreibt außer Essays für das Radio Beiträge zur Popgeschichte und gab im Suhrkamp Verlag das Buch "Schicht! Arbeitsreportagen für die Endzeit" heraus. Die Wahrnehmung des Radfahrers im städtischen Verkehr gestern, heute und in Zukunft steht im Mittelpunkt eines neuen dreiteiligen Essays für den Deutschlandfunk.