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Gegenwartsgeschichte
Die enttäuschten Erwartungen der Moderne

Hass, Gewalt und Terror: Für den Soziologen Pankaj Mishra sind diese Phänomene Ausdruck einer gemeinsamen Erfahrung. "Das Zeitalter des Zorns" erzählt von den Enttäuschten und Frustrierten der Moderne, deren Erlebnisse und Reaktionen sich nun in allen Teilen der Welt auf ähnliche Weise wiederholen.

Von Sandra Pfister |
    Der Autor Pankaj Mishra gilt als der "Intellektuelle der Globalisierung".
    Der Autor Pankaj Mishra gilt als der "Intellektuelle der Globalisierung". (Deutschlandradio / Oranus Mahmoodi)
    Pankaj Mishra präsentiert sein Buch im Untertitel als eine Geschichte der Gegenwart. Vielmehr aber meint er: "It’s history repeating" – die Geschichte wiederholt sich gerade. Er zieht Parallelen zwischen kriegsverherrlichenden und Frauen verachtenden Franzosen, Deutschen und Russen im 19. und frühen 20. Jahrhundert und den Pegida-Anhängern heute. Er vergleicht Nationalisten, Anarchisten und Terroristen damaliger Prägung mit Rechtsnationalisten und IS-Anhängern heute: So weit diese auch auseinanderliegen mögen, behauptet er, ihre Ressentiments speisten sich aus einem ähnlichen Gefühl:
    "[...] dem Missverhältnis zwischen persönlichen Erwartungen, verschärft durch einen traumatischen Bruch mit der Vergangenheit, und der grausam unerbittlichen Realität langsamen Wandels. Die Menschen waren in der Theorie vom Stillstand der Tradition befreit worden, damit sie ihre Fähigkeiten entfalten, sich frei bewegen, ihren Beruf wählen [...] konnten. Aber die meisten Menschen mussten erkennen, dass Individualismus und soziale Mobilität sich in der Praxis nicht verwirklichen ließen."
    Die Globalisierungsverlierer unserer Zeit - sowohl im Westen als auch in den arabischen Staaten - wiederholen demnach nur die Traumata und geistige Heimatlosigkeit, die die Entwurzelten des ersten Modernisierungsschubes nach der Französischen Revolution und der Industriellen Revolution erlebt haben.
    Das westliche Lebensmodell als falsches Heilsversprechen
    Das Versprechen – in einer aufgeklärten Marktwirtschaft kann jeder etwas aus sich machen – schürte hohe Erwartungen; Erwartungen, die viele nicht erfüllen konnten. Deren Enttäuschung und Selbsthass hätten früher traditionelle Puffer wie Familie oder Religion abgefedert; aber diese waren nun selbst geschwächt. Das führte regelmäßig zu Revolten, Aufständen, heute würde man sagen: Terrorismus. Der Westen, argumentiert der Autor, habe diese blutige, brutale Initiation in die politische und ökonomische Moderne längst verdrängt; stattdessen versuche er rechthaberisch, dem Rest der Welt genau diese Richtung als die allein seligmachende vorzuschreiben.
    "In Wirklichkeit aber gab es kaum etwas in der intellektuellen und politischen Geschichte Europas, das die Annahme stützte, die liberalen Institutionen des atlantischen Westens würden sich nach Osten ausbreiten. [...] Krieg, Verschwörungen, gewalttätige Ausschreitungen, Repression und autoritäre Herrschaft bestimmten in Europa die ersten sechs Jahrzehnte nach der Erklärung der Menschenrechte (1789)."
    Mishra schlägt die Brücke zur heutigen Zeit: "Es gibt weit mehr Sehnsüchte, als sich im Zeitalter der Freiheit und des Unternehmertums legitim verwirklichen lassen; [...] mehr Unzufriedenheit, als Politik oder traditionelle Therapien zu beschwichtigen vermöchten. [...] Und so schwanken die Twitter-Trolle und die auf den IS Hereingefallenen zwischen Ohnmachtsgefühlen und Gewaltphantasien."
    Mishra verurteilt die Führungsschichten in westlichen Demokratien dafür, dass sie nach 1989 dachten, alle Welt werde sich die Finger lecken nach ihrem Lebensmodell. Der Selbsthass derjenigen, die dem Druck der Moderne nicht standhalten, verkehre sich nach wie vor in Ressentiments gegen die Erfolgreichen. Ein Ventil sei Terrorismus – der werde immer noch viel zu leicht als importierte Gewalt abgetan; er wachse aber in der Mitte unserer Gesellschaft.
    "Deshalb reicht es nicht länger aus zu fragen: 'Warum hassen sie uns?' [...] Der globale Bürgerkrieg steckt tief in uns selbst; seine Maginot-Linie läuft quer durch unsere Herzen und unsere Seele. Wir müssen unsere eigene Rolle innerhalb einer Kultur überprüfen, die unstillbare Eitelkeit und platten Narzissmus fördert. [...] Vor allem müssen wir intensiver nachdenken über unsere eigene Verwicklung in alltägliche Formen der Gewalt und Enteignung."
    Andere Verlierer der Moderne suchen – laut Mishra – ihr Heil in einem starken Führer, im Chauvinismus und Nationalismus. Wer selbst nicht aufsteige, brauche dafür einen Schuldigen – Fremde, Ausländer, andere Nationen.
    Die Fehler der Moderne
    Als Zeitzeugen für die Blaupause unserer heutigen Anti-Modernisierungs-Ressentiments zitiert der Autor ausgiebig Dostojewski, deutsche Romantiker und vor allem Jean-Jacques Rousseau. Rousseau, im schicken aufgeklärten Paris damals ein provinzieller Außenseiter, stänkerte gegen die kosmopolitisch abgehobene Großstadt-Elite, der er sich unterlegen fühlte. Er steht in den Augen Mishras für eine Urerfahrung der Moderne: das Nicht-Dazugehören. Er sei der...
    "[...] entwurzelte Außenseiter, der in der Metropole des Kommerzes nach einem Platz für sich sucht und mit komplexen Gefühlen wie Neid, Faszination, Ekel und Zurückweisung zu kämpfen hat. Unermüdlich spricht er über seine intensiven persönlichen Empfindungen der Angst, der Verwirrung, der Einsamkeit und des Verlusts – spirituelle Qualen, unter denen heute Millionen von Menschen aus aller Welt leiden."
    Mishra sympathisiert so sehr mit Rousseau und seinem Antimodernismus, dass er zum einen übersieht, wie befreiend die Moderne gerade für viele in den unteren und bürgerlichen Schichten war. Und zum zweiten verschweigt er, wie sehr diese konservativen Tendenzen Rousseau und andere Anhänger des Althergebrachten zu Kriegstreibern und Ausländerfeinden gemacht haben.
    Der blinde Fleck in seiner Wahrnehmung erstreckt sich nicht nur auf Rousseau, sondern auf die komplette Moderne: Er übersieht schlichtweg alle ihre positiven Aspekte: dass es auf der Welt noch nie so wenige Arme gab wie jetzt, noch nie so wenige Unterdrückte und noch nie so wenige Krankheiten, das würde seine nur pseudo-stringente Argumentation durchlöchern. Den Begriff Demokratie gebraucht er fast synonym mit Neoliberalismus und falschen Heilsversprechen.
    Der Bogen zur Gegenwart ist unvollendet
    Abgesehen davon überzeugt Mishras eloquenter Nachweis einer historischen Vorlage für die Ressentiments unserer Zeit. Und sein engagierter Stil – für angelsächsische Autoren durchaus nicht unüblich – verrät: Er teilt die Wut, die er beschreibt. Und er beschreibt sie fesselnd.
    Das kompensiert partiell das eigentliche Manko des Buches: Dass sich Mishra zu sehr auf der Beschreibung der historischen Vorlage ausruht. Ständig dreht er noch eine weitere Schleife zu Rousseau oder Dostojewski, statt endlich einen erhellenden Bogen zur Globalisierung oder zum IS zu schlagen.
    Wo Mishra tatsächlich hin will, wenn der liberale Geist des Westens so viele Verlierer hervorgebracht hat, das verrät er nicht. Das weiß er vermutlich auch nicht, denn sonst hätte er ein politisches Rezept für die große politische Vertrauenskrise unserer Zeit. Aber sein Denkanstoß, dass der Westen sich endlich auseinandersetzen muss mit seinen Unzufriedenen, der ist die Lektüre allemal wert.
    Pankaj Mishra: "Das Zeitalter des Zorns - Eine Geschichte der Gegenwart"
    S. Fischer Verlag, 416 Seiten, 24 Euro.