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Gegner oder Gesprächspartner?

Die Mehrheit der Deutschen lehnt ein militärisches Engagement in Afghanistan ab. Nichtsdestotrotz wird Deutschland mehr Soldaten und mehr Polizisten nach Afghanistan schicken - um damit den Einstieg zum Ausstieg zu besiegeln: 2011 beginnt der internationale Truppenabzug aus Afghanistan. Aber erst einmal aber geht der Krieg gegen die Taliban weiter.

Von Sandra Petersmann und Marc Thörner | 26.02.2010
    Der 13. Februar ist gerade angebrochen. Helikopter landen in tiefster Dunkelheit und setzen Soldaten ab. Es ist der Beginn der Operation Mushtarak in der umkämpften, südafghanischen Provinz Helmand.

    Die Großoffensive ist Teil der neuen NATO-Strategie für Afghanistan, zu der auch der erweiterte Einsatz der Bundeswehr gehört. Das von den USA vorgegebene Konzept sieht eine Truppenaufstockung auf insgesamt rund 130.000 Soldaten vor. Die NATO-Truppen sollen Seite an Seite mit den afghanischen Sicherheitskräft´en kämpfen und dauerhaft Präsenz zeigen. Sie sollen die Taliban verjagen und isolieren, die Herzen der Zivilbevölkerung gewinnen und den Boden für Aufbau und Entwicklung im ganzen Land bereiten. Die militärische Machtdemonstration soll "den Feind" letztendlich zum Reden zwingen, gibt der afghanische Verteidigungsminister Abdul Rahim Wardak zu:


    "Die Taliban können diesen Krieg mit ihrem Terror nicht gewinnen. Und wenn sie erkennen, dass sie verlieren, dann müssen sie sich anders entscheiden. Das beste wäre, sie würden sich reintegrieren und versöhnen und am politischen Prozess teilnehmen."

    Operation Mushtarak, was in der Landessprache Dari gemeinsam bedeutet, ist der erste große Test für die neue Strategie. Die Offensive findet in paschtunischem Stammesgebiet statt. Die Paschtunen sind die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe im ethnisch zerrissenen Afghanistan. Aus ihnen sind die Taliban hervorgegangen. Die Paschtunen sind tief religiös und lehnen viele westliche Werte ab. Sie leben vor allem im Süden und Osten des Landes - entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze, die ihr Siedlungsgebiet zerschneidet. Keine andere Bevölkerungsgruppe hat seit dem Sturz des Taliban-Regimes im November 2001 mehr unter der Gewalt im Land gelitten. Keine hat weniger von Aufbau und Entwicklung profitiert. Und ausgerechnet im Süden soll das Reintegrationsprogramm für die Mitläufer greifen? Ja, sagt Marc Sedwill, der zivile Repräsentant der NATO in Afghanistan:

    "Man muss die Komplexität dieses Aufstands verstehen. Rund zwei Drittel der Männer kämpfen nur wenige Kilometer von zu Hause entfernt. Wir glauben, dass wir sie zurückholen und in den politischen und ökonomischen Prozess eingliedern können. Diese Kämpfer haben sich aus den unterschiedlichsten, lokalen Gründen den Taliban angeschlossen. Sie kämpfen zwar mit, aber nicht für die Taliban."

    Aber es sind Paschtunen wie die Taliban. Es geht um Männer, viele jung und ohne Schulbildung, die sich den Taliban anschließen, um Geld zu verdienen. Oder weil sie den Tod eines Verwandten oder Freundes rächen wollen. Oder weil sie sich vom Distriktchef oder den lokalen Polizisten drangsaliert fühlen:

    "Präsident Karsai hat seine beiden wichtigsten Vorbedingungen für die Reintegration deutlich formuliert. Die Kämpfer müssen die afghanische Verfassung respektieren, was die Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten einschließt. Sie müssen sich von Gewalt und terroristischen Gruppen wie El Kaida lossagen. Wenn sie bereit sind, das zu tun, gibt es für sie einen ehrenhaften Weg zurück in die Gesellschaft. Aber wenn sie weiter die afghanische Regierung bekämpfen und an ihrer Ideologie festhalten wollen, dann gibt es keinen Platz für sie und wir werden sie weiter entschlossen militärisch verfolgen."

    Für das Aussteigerprogramm stellen die NATO-Staaten viele Millionen Dollar bereit - auch wenn die entscheidenden Details noch zu klären sind. Etwa, wer die Aussteiger, so es sie gibt, vor Racheakten schützt? Oder wer kontrolliert, dass die Aussteiger auch wirklich Aussteiger sind und es auch bleiben? Oder wer das Geld an wen auszahlt, ohne Betrug und Korruption zu fördern? NATO und ISAF schätzen die Stärke ihres Gegners auf 25.000 bis 36.000 Kämpfer. Dazu rund 900 Kommandeure. Für Marc Sedwill, den zivilen Repräsentanten des westlichen Verteidigungsbündnisses in Kabul, ist die Reintegration der Mitläufer ein großer Schritt auf dem Weg zu einem Friedensprozess mit den Taliban - wenn es gelingt, einen Keil zwischen Zivilbevölkerung und Mitläufer auf der einen und die Führung der radikalen Islamisten auf der anderen Seite zu treiben. Afghanistans Präsident Hamid Karsai ist selber Paschtune und betont seit Jahren, dass er mit den Taliban verhandeln will. Als er im vergangenen November nach einer hoch umstrittenen Wahl seine zweite Amtszeit antrat, kündigte er an:

    "Wir werden unsere Anstrengungen verstärken, all diejenigen Afghanen in die Gesellschaft zurückzuholen, die sich aus den verschiedensten Gründen entschieden haben, gegen ihr Land zu kämpfen. Wir werden auf nationaler und internationaler Ebene Gespräche darüber führen. Ich strebe eine Regierung der Einheit für alle Afghanen an. Ich nehme kein Individuum und keine Gruppe als meinen Gegner wahr. Alle, die mit mir zusammenarbeiten wollen, sind herzlich willkommen."

    Spätestens seit der Londoner Afghanistan-Konferenz Ende Januar ist klar, dass der Westen Gespräche der afghanischen Regierung mit Vertretern der Taliban unterstützt. Nach mehr als acht zermürbenden Jahren am Hindukush hat sich überall die Erkenntnis durchgesetzt, dass es in diesem Krieg keinen Sieger geben wird, zumal die Uhr tickt. US-Präsident Barack Obama hat öffentlich angekündigt, dass er im Sommer 2011 mit dem Abzug seiner Soldaten beginnen will. Westliche Politiker sprechen oft von moderaten Taliban, mit denen verhandelt werden soll. Kai Eide, der scheidende Sondergesandte der Vereinten Nationen in Afghanistan, benutzt diesen Begriff nicht:

    "Es ist doch ganz klar, dass das Reintegrationsprogramm von einem politischen Versöhnungsprozess begleitet werden muss. Das eine hat ohne das andere keine Chance. Solche Prozesse brauchen Zeit. Das sehen wir im Nahen Osten und auf dem Balkan. Aber jeder politische Prozess braucht einen Anfang. Ich habe deshalb vorgeschlagen, einzelne Namen von der Sanktionsliste zu streichen. Das ist ein symbolischer und politisch wichtiger Schritt. Auch die Liste der Gefangenen im US-Stützpunkt Bagram ist veröffentlicht. Die sollten wir jetzt kritisch durchschauen und gucken, ob die Verhafteten wirklich alle nach Bagram gehören. Das wären zwei wichtige, vertrauensbildende Maßnahmen, um den Prozess zu starten."

    Und nach den vertrauensbildenden Maßnahmen? Wer sind die Ansprechpartner auf Seiten der Taliban? Kai Eide nennt keine Namen:

    "Wenn wir von der anderen Seite Signale empfangen, können wir politisch über den Frieden sprechen. Mit wem wir dann reden? Wenn wir relevante Ergebnisse wollen, müssen wir mit den relevanten Personen sprechen, die Autorität haben."

    Für Maulawi Arsala Rahmani ist klar, wer diese Personen mit Autorität sind. Rahmani war unter den Taliban Religionsminister und sitzt heute als Senator im Oberhaus des afghanischen Parlaments. Er war dabei, als die afghanische Regierung auf Initiative Saudi-Arabiens erste, ergebnislose Geheim-Gespräche mit den Taliban geführt hat:

    "Wenn ich Taliban sage, dann meine ich die Quetta Shura, also die Führer um Mullah Omar. Sie entscheiden. Die Kämpfer können nichts entscheiden."

    Die abgetauchte Spitze der afghanischen Islamisten um Mullah Omar wird im pakistanischen Quetta vermutet. Der militärische Führer der Bewegung, Mullah Baradar, ist Anfang Februar in der südpakistanischen Hafenstadt Karachi gefasst worden. Senator Rahmani ist sich vollkommen im Klaren darüber, dass sich die Taliban-Führung vom El Kaida-Netzwerk lossagen muss, um in offizielle Friedensgespräche einzusteigen. Er würde die Trennung ausdrücklich begrüßen, damit die Taliban wieder eine rein afghanische Bewegung werden. Aber für den ehemaligen Religionsminister ist das erst der zweite Schritt. Vorher muss es den Taliban seiner Meinung nach erlaubt sein, eine offizielle und von den Vereinten Nationen geschützte Repräsentanz zu eröffnen:

    "Den Taliban muss Straffreiheit garantiert werden. Ihre Namen müssen von den Terrorlisten gestrichen und die Sanktionen müssen aufgehoben werden."

    Und sobald ein Abzugstermin für alle ausländischen Truppen feststeht, können für Maulawi Rahmani die politischen Gespräche beginnen:

    "Dann muss es um die Frage gehen, ob Afghanistan ein Königreich, ein Emirat oder eine präsidiale Demokratie sein soll und welche Rolle die Taliban-Bewegung in der Regierung spielen wird. Wenn die Führer den guten Willen der Ausländer, speziell der Amerikaner, und ehrliche Schritte auf Seiten der afghanischen Regierung sehen, dann werden sie gesprächsbereit sein. Da bin ich mir sicher."

    Quo vadis Afghanistan? Niemand vermag diese Frage heute zu beantworten. Die neue NATO-Strategie setzt ganz offensichtlich vor allem auf die Warlords - die Stammeschefs - als Gegengewicht zu den Rebellen der Taliban. Marc Thörner war in Kundus und hatte die seltene Gelegenheit mit einem Taliban-Kämpfer und El Kaida-Mitglied zu sprechen:

    "Hier gibt es schon aus früheren Zeiten sehr viele Paschtunen, die also hier ansässig sind - ursprünglich - dann vertrieben, während des Bürgerkrieges. Und die sind jetzt zurückgekommen, zum Teil jedenfalls, radikalisiert aus Pakistan, zumindest einige, und machen uns das Leben schwer."

    Im deutschen Feldlager Kundus steht ein Offizier vor einer Karte und zeigt mit einem Kugelschreiber auf die unterschiedlich eingefärbten Regionen. Hier wohnen Tadschiken, dort Usbeken, da eine Gruppe von Hazara. Alles keine Problemzonen. Kritisch wird es aus Sicht der Bundeswehr in der Regel dort, wo die Paschtunen siedeln. Da könnten sich die Aufständischen am besten einnisten. Als die ebenfalls paschtunischen Taliban während des afghanischen Bürgerkriegs in den 1990er-Jahren die Tadschiken- und Usbekengebiete eroberten, gingen sie mit besonderer Härte gegen andere Ethnien vor und richteten Massaker an. Insbesondere unter den schiitischen Hazara, die sie pauschal als Ungläubige verunglimpften. Im Oktober 2001 wendete sich das Blatt. Die Kämpfer der Nordallianz, einem Bündnis aus Tadschiken und Usbeken, leiteten vom Boden aus die Luftschläge der amerikanischen B 52-Bomber ins Ziel und besiegte die Taliban dank der Hilfe von US-Spezialkräften. Usbekengeneral Dostum ließ sich als Sieger feiern. Bis heute ist General Dostum in der Region einer der mächtigsten Akteure. Jahrelang hat die Bush-Administration alle Anstrengungen vereitelt, durch Kommissionen die Morde der mit ihr verbündeten Nordallianz zu untersuchen. Solche Altlasten, solch unbewältigte Konflikte zwischen Ethnien, solche Verbrechen, die noch immer unter dem Teppich gehalten werden, prägen im afghanischen Norden viele Aufständische. Einer von ihnen, sowohl Mitglied der El Kaida als auch der lokalen Taliban, sucht Ende 2009 das Gespräch mit dem Deutschlandfunk.

    Bedingung der Kontaktaufnahme ist: Das Gespräch müsse in einem fahrenden Auto stattfinden und der El Kaida-Mann bringt seinen eigenen Paschtu-Dolmetscher mit.

    Was er dann über seinen Weg zur Terrororganisation erzählt, spiegelt die Brüche der letzten 30 Jahre ab: Paschtune; unter dem kommunistisch beeinflussten Regime auf der Polizeiakademie; dann zum Hubschrauberpilot ausgebildet; dank seiner Flugkenntnisse in die Miliz des Usbekengenerals Dostum geraten. Im afghanischen Bürgerkrieg Mitte der 90er-Jahre von den Taliban gefangen genommen, in einer pakistanischen Madrassa unter Aufsicht Bin Ladens zum Dschihadisten ausgebildet und bei Untergrundaktionen in Kaschmir eingesetzt.
    Der 11. September, der Sieg der Nordallianz über die Taliban und der Einmarsch ausländischer Truppen in Afghanistan warf sein Leben aufs Neue um. Und nicht nur seins. Anderen nordafghanischen Paschtunen sei es ähnlich gegangen.

    "Nach dem Sturz des Taliban-Regimes wollten wir ursprünglich zu kämpfen aufhören. Aber seit die Nordallianz gesiegt hat und die internationalen Truppen einmarschiert sind, gibt es für uns alle ein großes Problem, mit General Dostum und den Anhängern der Warlords im Norden. Diese Leute bringen unsere Brüder, Onkel und Väter um, und sie nehmen ihnen ihre Häuser weg. Dostum will, dass keine Paschtunen mehr im Norden bleiben. Deshalb fühlen viele sich unter Druck weiterzukämpfen."

    Der Mann, so wird immer deutlicher, gehört zu den wichtigen Akteuren unter den nordafghanischen El Kaida-Leuten. Und ebenso deutlich zeichnet sich ab: Den ehemaligen Hubschrauberpiloten motiviert, anders als andere, weder die Religion noch irgendeine islamistische Ideologie. Seine Leute, so sagt er, kämpften zwar gegen die ausländischen Truppen - und im Norden sei das eben die Bundeswehr. Aber sie führten nur deshalb gegen Deutsche Krieg, weil die aufseiten der Warlords ständen. Über die Presse will er mit der Bundeswehr Verhandlungen anbahnen. Deren Führung müsse eines verstehen.

    "Unseren Kämpfern geht es ausschließlich darum, ihre eigene Bevölkerung, ihre eigenen Familien gegen General Dostum und den Gouverneur der Balkh-Provinz, Mohammed Atta Nur zu beschützen. Aber jetzt haben wir vom Kampf genug. Wir wollen unsere Waffen niederlegen. Vorher benötigen wir klare Garantien. In unserer Gegend sind jetzt Dostum und Atta die Machthaber. Wir brauchen eine Garantie, dass uns trotz dieser beiden Warlords unser Land zurückgegeben wird und alles, was sie uns gestohlen haben."

    So nachvollziehbar dieses Angebot sich anhört - so wenig wahrscheinlich scheint es, dass die Bundeswehr in der Lage wäre, darauf einzugehen, selbst wenn sie wollte.

    Die neue NATO-Strategie setzt immer stärker gerade auf diejenigen, denen die paschtunischen Aufständischen im Norden Landraub und Mord vorwerfen: Auf die alten Warlords der Nordallianz. Vor allem Usbekengeneral Dostum und den Gouverneur der Balkh-Provinz Mohammed Atta Nur. Entsprechende Richtlinien gab das Pentagon längst vor:

    "Am Ende wird es die einzige Lösung sein, mit Stammeschefs und örtlichen Provinzmachthabern zusammenzuarbeiten, um den Taliban eine Schlappe zu bereiten."

    So zitiert der "Council on Foreign Relations", die Denkfabrik des US-Außenministeriums Verteidigungsminister Robert Gates Im Norden bedeutet das: Noch enger als bisher mit den Feinden der paschtunischen Taliban zusammenzuarbeiten, mit Tadschiken-Gouverneur Mohammed Ata Nur und mit Usbeken-General Dostum. Laut Recherchen des "Institute for War and Peace Reporting", eine Nachrichtenagentur mit Sitz in London und Kabul, besteht im deutsch geführten Regionalkommando Nord der Internationalen Afghanistan-Schutztruppe ISAF neben der offiziellen Armee und Polizei bereits eine Parallelstruktur örtlicher Milizen. Redaktionsleiter Abaceen Nasimi:

    "Nach dem, was ich herausgefunden habe, bezahlen die Norweger dort General Dostums lokale Kommandeure. Für die Militärs geht es darum, diese Milizen ruhig zu stellen und ihnen die Kontrolle vor Ort zu übertragen. Und Ähnliches gilt im Fall von Gouverneur Mohammed Atta Nur. Wir haben keine Beweise dafür, dass die Deutschen Atta direkt Geld in die Tasche stecken, aber politisch gesehen unterstützen sie ihn."