Archiv


Gehbehinderungen werden hinausgezögert

Multiple Sklerose ist bisher eine unheilbare Krankheit. Allein in Deutschland gibt es 130.000 MS-Patienten, die unter den immer wieder aufflammenden Entzündungen des Nervensystems leiden. Eine ursächliche Therapie war bisher kaum möglich. Jetzt verspricht ein Medikament das Auftreten von sogenannten MS-Schüben zu verringern: Ein Medikament, dessen Wirkstoff bereits bei Krebserkrankungen eingesetzt wird. Seit gestern ist in Deutschland der Wirkstoff Mitoxantron, im Handel unter dem Namen Ralenova erhältlich, auch zur Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassen. Eine internationale Studie unter Leitung von Prof. Hans-Peter Hartung von der Neurologischen Universitätsklinik Düsseldorf hat die positiven Effekte gezeigt.

Katrin Buchwalsky |
    Die Substanz wurde entwickelt als ein Medikament zur Behandlung von Krebserkrankungen und zwar dadurch, dass die Substanz die Vermehrung von sehr stark vermehrungsaktiven Zellen behindert. Die MS ist eine Autoimmunerkrankung und wir wissen, dass auch da sich Zellen, diesmal des Immunsystems mehr oder weniger unkontrolliert vermehren. Das war dann Ausgangspunkt für die Überlegung, versuchen wir doch hier mal ein Medikament, was die Zellteilung behindert.

    Eigentlich ist Mitoxantron also kein wirklich neues Präparat. Seit den 70er Jahren wird es in den USA zur Behandlung von Krebs eingesetzt. Neu ist seine Verwendung bei der Therapie der Multiplen Sklerose. Die Erkrankung verläuft anfangs meist schubweise. Plötzlich auftretende Lähmungen oder Sehstörungen wechseln ab mit beschwerdefreien Intervallen. Bei etwa 80 Prozent der Patienten wird die Erkrankung chronisch, das heißt die Nervenausfälle bleiben. Im akuten Schub hat sich Kortison als Medikament bewährt. Wegen seiner starken Nebenwirkungen ist es aber für die Langzeittherapie nicht geeignet. Mitoxantron könnte hier die Therapielücke schließen.

    Neuere Daten zeigen, dass die drei wichtigsten Bösewichte des Immunsystems, die an der Krankheitsverursachung beteiligt sind, in ihrer Aktivität gehindert werden. Das sind die so genannten T-Lymphozyten, das sind die so genannten B-Lymphozyten, die Antikörper produzieren und als dritte Gruppe die Makrophagen.

    Diese Entzündungszellen greifen die sogenannten Myelinscheiden an. Sie umhüllen den Nerv wie die Isolierschicht das Stromkabel. Entzünden sie sich, entsteht sozusagen ein Kabelschaden, die Nervenimpulse werden nicht mehr richtig weitergeleitet.

    Für die Verlaufsform, die gekennzeichnet ist durch die zunehmende Anhäufung von neurologischen Ausfallserscheinungen gab es bislang ein Betainterferon, das teilweise wirksam ist, aber offenbar nur dann in einer bestimmten und frühen Phase. Sonst gab's bislang dafür keine zugelassene Medikation.

    Mitoxantron ist eine Alternative zu den so genannten Betainterferonen. Es ist deutlich günstiger als die Interferontherapie und wirkt auch bei Patienten, die auf Betainterferon nicht mehr ansprechen. Allerdings hat das Medikament auch Nebenwirkungen. Haarausfall und Übelkeit sind Nebeneffekte, die man von fast jedem Krebsmedikament kennt, die sich aber relativ einfach behandeln lassen. Doch der Wirkstoff Mitoxantron kann auch den Herzmuskel schädigen. Eine bestimmte Gesamtdosis sollte im Lauf des Lebens nicht überschritten werden. Daher kann man Mitoxantron nur etwa 3 bis 5 Jahre anwenden. Ein Faktor, der den Einsatz des Medikamentes limitiert.

    Deshalb kann man das Präparat sozusagen nicht ganz grundsätzlich von Anfang an geben, sondern würde sich das sozusagen gerne aufbewahren als ein Medikament, als eine Bremse, als eine Notbremse, wenn die anderen nicht mehr wirken und dann eben in einem Stadium, wo zunehmend die Gehfähigkeit, die Unabhängigkeit des Patienten gefährdet ist.

    Die Gehfähigkeit der Patienten zu erhalten, ist oberstes Ziel bei der Behandlung der Multiplen Sklerose. Etwa die Hälfte aller Betroffenen ist nach 10-15 Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Mitoxantron kann helfen, diese Behinderung hinauszuzögern oder sogar zu verhindern. Heilbar ist die Multiple Sklerose nicht, aber zwei Drittel aller MS-Patienten könnten von Mitoxantron profitieren, schätzt Hartung.

    Es ist wichtig realistisch den Platz dieses Medikaments einzuschätzen. Es ist nun für das häufig dann im Verlauf eintretende Stadium der Behinderung ein effektiv wirksames Medikament, wir wissen aber, dass die Zeit, über die wir das anwenden können, begrenzt ist. Wir erhoffen uns, dass wir entweder dadurch die Erkrankung zum Stillstand bringen oder zumindest eine Situation erreichen, wo Zeit gewonnen wird für andere neue noch zu entwickelnde Therapien.

    Beitrag als Real-Audio

    030211-ms.ram