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Geheimtipp Rodenbach

Der belgische Symbolist Georges Rodenbach ist heute so gut wie unbekannt, im besten Falle ein Geheimtipp. Dabei gilt sein Roman "Bruges-la-Morte", "Brügge, tote Stadt", der 1892 in Paris erschien, als bestes Beispiel symbolistischer Prosa und war im ausgehenden 19. Jh. ein Bestseller.

Von Peter Urban-Halle |
    Der düstre Text traf offenbar sehr genau den Geschmack des Fin-de-siècle-Publikums. Rodenbach wurde 1855 in Tournai, flämisch Doornik, geboren, das heute in Wallonien liegt, aber ein Zentrum des historischen Flanderns gewesen ist. Er kommt aus einer deutschstämmigen Familie, die seit dem 18. Jh. in Flandern ansässig war und im politischen und kulturellen Leben Belgiens eine bedeutende Rolle gespielt hat. Er wuchs in Gent auf (und nicht etwa in Brügge, wie hier und da behauptet wird), studierte Jura, wurde Rechtsanwalt, ging nach Brüssel, wo er Journalist wurde, und lebte seit 1888 in Paris, wo er zehn Jahre später starb. In der Reclam Universal-Bibliothek ist das Buch unter dem Titel "Das tote Brügge" seit eh und je in einer hundert Jahre alten Übersetzung lieferbar. Jetzt hat Dirk Hemjeoltmanns in seinem Bremer Manholt Verlag eine neue Fassung mit dem Titel "Brügge, tote Stadt" vorgelegt.

    1886 veröffentlichte Jean Moréas sein "Manifest des Symbolismus", damit kam die literarische Bewegung gewissermaßen offiziell zu ihrem Namen. Als erster eigentlicher Symbolist avant la lettre gilt freilich Charles Baudelaire, der 1857 den Gedichtzyklus "Les Fleurs du Mal", "Die Blumen des Bösen", veröffentlichte. Ihm folgten bedeutende Dichter wie Rimbaud, Mallarmé, Maeterlinck oder George.

    Wer aber ist der Symbolist Georges Rodenbach? Heute kennt ihn kaum noch einer, und das obwohl sein kleiner Roman "Bruges-la-Morte" ein Bestseller des ausgehenden 19. Jahrhunderts war und obwohl er in der Reclamschen Universal-Bibliothek, die ihren Namen wirklich zurecht trägt, problemlos zu kriegen ist, und zwar in der Fassung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski aus dem Jahre 1904. Dass eine Übersetzung 100 Jahre hält, ist eine ziemlich seltene Erscheinung und lässt eigentlich nur zwei Schlüsse zu: Entweder ist das Buch so schlecht, Dass eine Neuübersetzung nicht lohnte, oder die deutsche Version ist auch heute noch annehmbar.

    Zunächst zum Buch. Ein gewisser Hugues Viane zieht unmittelbar nach dem frühen Tod seiner abgöttisch geliebten Frau von Paris nach Brügge: in der verregneten, nebelumhüllten flandrischen Stadt erblickt er das Spiegelbild seines melancholischen Seelenzustands. Dann begegnet ihm auf einem seiner abendlichen Spaziergänge eine junge Frau, Jane, Tänzerin am Theater, die eine erschütternde Ähnlichkeit mit der verstorbenen Gattin hat. Vom "Dämon der Analogie" besessen überträgt er auf Jane die kultische Verehrung der Toten. Rasch aber stellt sich Ernüchterung ein, die Unterschiede zwischen beiden werden immer deutlicher. Als Jane schließlich sogar das Haar der Toten verspottet, das Hugues wie eine Reliquie verwahrt, erdrosselt er sie mit ebendieser Haarflechte und fällt in seine alte Schwermut zurück. Damit erinnert Hugues Viane endgültig an Hamlet, wie ihn Goethe im "Wilhelm Meister" charakterisiert: es ist ein Mann von "tätiger Unentschlossenheit".

    Das "poetischste Thema auf Erden ist der Tod einer schönen Frau", hatte der Urahn aller Symbolisten Edgar Allan Poe gesagt, und hier sind's sogar zwei tote Frauen. Rodenbach bezeichnete sein Buch als "Studie der Leidenschaft", in der er die Stadt als Hauptperson verstanden wissen will, sie spiele die eigentliche Rolle. "Bruges-la-Morte" gilt als Höhepunkt symbolistischer Prosa, ein wirklich gelungener Roman ist es nicht. Schon früh wurden dem Buch das "gewollte, imitierte Handwerk und die gekünstelten Figuren" vorgeworfen. Rodenbachs Stärke ist die Stimmung, die Suggestion. Er ist ein Poet, und es sind genau die lyrischen Elemente, die diesen Text bis heute leben lassen. Der Freund Mallarmé schrieb über "Bruges-la-Morte": "Die ganze zeitgenössische Lesebemühung ist, das Gedicht in den Roman, den Roman ins Gedicht münden zu lassen." Das hat Rodenbach getan, schwermütig, aber nicht schwülstig, prunkvoll, aber nicht kitschig. Einige sagen, Dass nicht einmal seine Gedichte die Verführungskraft mancher Seiten und Passagen dieser poetischen Prosa erreichen.

    "Brügge, tote Stadt" ist reines Fin de siècle, wir haben den nichtstuenden Dandy, die Femme fatale, die Todessehnsucht. Ein hundertprozentiger Décadent ist Hugues hingegen nicht, denn er ist ein moralisch denkender Mensch, der sich sündig fühlt und darunter leidet. Das Buch hat etwas Voyeuristisches, aber da wird nicht etwas anderes betrachtet. Hugues sucht ja die Ähnlichkeit, die ressemblance, das ist das zentrale Thema. In Jane sucht er die verstorbene Gattin, in Brügge den eigenen Seelenzustand. Er wirkt wie ein Schlafloser, der unter dem Einfluss unfreiwilliger Nachtwachen versunken vor sich hin starrt wie Egaeus in Edgar Allan Poes Erzählung "Berenice". Das trennt ihn von den Mitmenschen: die äußerste Verwaisung. Durch sie bekommt dieser müde Mensch sogar etwas Heroisches und Genialisches. Er wird zum alleinigen Helden eines Seelendramas.

    Nun zur neuen Ausgabe. Dirk Hemjeoltmanns hat immerhin acht der 35 Photographien übernommen, die in der Pariser Erstausgabe 1892 abgedruckt waren, menschenleere Schwarz-Weiß-Abbildungen Brügger Sehenswürdigkeiten von statuarischer Schönheit, die - Zitat - "die Melancholie des Graus der Brügger Straßen, wo jeder Tag wie Allerheiligen aussieht" unterstreichen. Diesen Straßen hat er, entgegen dem Original, die flämischen Namen zurückgegeben. Dagegen durfte der Held bei Hemjeoltmanns seinen französischen Vornamen behalten, was schon deshalb ratsam ist, weil Hugues ja eben gerade der Franzose, der Fremde in Brügge ist; Oppeln-Bronikowski hatte einen Hugo aus ihm gemacht. Außerdem liefert Manholt Rodenbachs wichtige Vorbemerkung mit, die bei Reclam fehlt. Hemjeoltmanns ist also im ganzen genauer, aber er ist auch nüchterner, manchmal fast amtssprachlich. Im Nachwort der Manholt-Ausgabe wirft Rainer Moritz dem alten Oppeln-Bronikowski "lyrisierende Überzeichnung" und gleichzeitig Glättung vor - was sich eigentlich widerspricht, und ein bisschen unvorsichtig dahergesagt ist. Von Glättung kann nämlich keine Rede sein, und die "lyrisierende Überzeichnung" entpuppt sich bei genauem Hinsehen entweder als Sprache, die damals gängig war, oder als Sinn für die poetischen Elemente, die in Rodenbachs Buch nun mal die entscheidende Rolle spielen. Für heutige Übersetzungen scheint zu gelten: Hauptsache richtig, Eleganz ist egal. Das heißt, man gibt sich oft mit philologischer Exaktheit zufrieden und vernachlässigt den eigentlichen Geist der jeweiligen Zeit. Hemjeoltmanns' Verdienst wird dadurch nicht geschmälert. Er hat manches erkannt, was Bronikowski entgangen ist: Anlehnungen an Baudelaire zum Beispiel oder versteckte Versformen. Vor allem aber hat er Rodenbach, den Vergessenen, mit seiner neuen Edition wieder ins Gespräch gebracht. Und das ist nicht wenig.

    - Georges Rodenbach: "Brügge, tote Stadt". Aus dem Französischen von Dirk Hemjeoltmanns. Manholt Verlag, Bremen 2003. 124 Seiten. 18 Euro.
    - Georges Rodenbach: "Das tote Brügge". Aus dem Französischen von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Reclam Verlag (Universal-Bibliothek 5194), Stuttgart 1966 ff. 96 Seiten. 3,10 Euro