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Geheimtipps im Englischen Garten

Chinesischer Turm, Seehaus und die Surfer am Eisbach - das ist für viele Touristen der Englische Garten in München. Jetzt im Sommer sind die Wiesen von Vergnügungssüchtigen übervölkert. Der größere Teil im Norden ist ruhiger, viel weitläufiger, naturbelassener. Und wer sich Zeit nimmt, entdeckt die eine oder andere Kuriosität.

Von Burkhard Schäfers | 14.07.2013
    1,4 Millionen Menschen wohnen in München, dazu kommen Touristen und Geschäftsreisende. Da dröhnt es Tag und Nacht in der Innenstadt, tost der Verkehr auf den Ringstraßen, lärmt es auf Wegen und Plätzen. Aber wer sich nach Ruhe sehnt, muss die Stadt nicht verlassen. Nur ein paar Schritte sind es bis in den Nordteil des Englischen Gartens, einer der größten innerstädtischen Parks weltweit.
    Ulrike Dissmann kommt fast jeden Tag hierher. Sie geht von zu Hause über das Isarstauwehr bei Oberföhring und ist in einer anderen Welt:

    "Ein kleines - ein Wunder. Dass es so etwas gibt, so nah an der Stadt, und doch in so vielen Aspekten scheinbar naturbelassen, dass man die Pflege kaum spürt. Dass es immer was zu entdecken gibt, dass die Jahreszeiten dort ihr wahres Gesicht zeigen, dass man allein sein kann auch an vollen Sonntagen, und dass es einen unglaublichen Erholungswert hat."

    Der Weg windet sich durch lichten, vielfältigen Laubwald. Linkerhand öffnet sich der Blick auf eine Wildblumenwiese. Mitten durch fließt ein Bach:

    "Das ist der Öberjägermeisterbach, der ringelt sich vom Kleinhesseloher See bis hinunter, fließt dann irgendwann in das ehemalige Floriansmühlbad. Er ist von Weiden bestanden und man hat das Gefühl, er ist aus sich selbst entstanden. Man kann an der Brücke stehen – vielleicht gehen wir mal zur Brücke – und hineinschauen in die lebendige Unruhe. Es ist sehr meditativ. Wir stehen unter einem Ahorn, links daneben ist ein Holunder der bald blühen wird. Und wenn wir das Blickfeld einschränken sehen wir im Moment höchstens drei, vier Menschen. Auf Wasser zu schauen ist immer wohltuend."

    Ulrike Dissmann ist Regisseurin und Künstlerin. Auch ihr eigener Garten ist ein Kunstwerk aus unterschiedlichsten Pflanzen, der verwildert wirkt und doch mit Hingabe gepflegt wird. Dieses Refugium verlässt sie täglich, um durch den Englischen Garten zu streifen. Fast 80 Kilometer Wege gibt es hier, mehr als hundert Brücken und Stege. Einige Radfahrer ziehen vorbei, den Blick starr nach vorn aufs Ziel gerichtet. Ulrike Dissmann aber geht langsam, schaut nach links und rechts.

    "Es gibt ganz verschiedene Orte, die auch zu bestimmten Jahreszeiten besucht werden müssen. Es gibt die Leberblümchenecke, es gibt die Winkel, in denen Maiglöckchen wachsen, es gibt natürlich auch den Bärlauch. Jetzt wird dann bald der wilde Giersch blühen, der Hahnenfuß blüht. Ich könnte jetzt ins Schwärmen geraten."

    Wir gehen ein paar Schritte, biegen vom Hauptweg rechts ab. Plötzlich öffnet sich der Schotterweg zu einem Halbrund: Gemauerte Stufen, gegenüber eine Wiesenböschung, dahinter große, alte Bäume. Ein verstecktes Amphitheater mitten im Englischen Garten:

    "Sehr idyllisch, rings umstanden von Bäumen, man sieht nirgends etwas von der Stadt. Das Ganze ist bestickt von Gänseblümchen, und sehr grün und sehr ruhig. Dann sind da noch ein paar Bänke hinter den gemauerten Stufen – und eine dieser Bänke ist mir gewidmet, auf der sitz ich jedes Mal."

    Wenn Ulrike Dissmann nicht an der Bühne steht, denn sie ist die Regisseurin des Münchner Sommertheaters. Seit 24 Jahren inszeniert sie mit jungen Schauspielern und Musikern klassische Komödien. Bei gutem Wetter sitzen hier in Amphitheater bis zu 2000 Menschen, picknicken und warten auf die Vorführung. Die besten Plätze sind zwei, drei Stunden vorher besetzt. Der Eintritt ist frei, nach dem Stück geben die Schauspieler einen Hut herum.

    "Diesen Sommer spielt das Münchner Sommertheater "Don Gil von den grünen Hosen", sehr frei nacherzählt nach einer Komödie von Tirso de Molina. Eine klassische Mantel- und Degenkomödie: Verwirrspiel im Park, Liebe, Eifersucht, Fechtkampf, Masken, Verkleidung – und am Ende Happy End."

    Ein solches gibt es übrigens auch für manche Zuschauer, erzählt Ulrike Dissmann: Das Sommertheater hat schon Ehen gestiftet. Denn in lauen Nächten, vor dieser Naturkulisse, kommen sich die Menschen schnell näher:

    "Es gibt welche, die sind perfekt ausgerüstet, die haben Picknickdecken, Koffer und Stühle dabei. Dann gibt es Leute, die aus Versehen hier landen, die das wirklich entdecken. Und die haben dann nur eine Zeitung zum drauf Sitzen. Und dann kommen die Menschen ins Gespräch. Manchmal ist es auch nur: Wir haben hartgekochte Eier, ihr habt Salz, könnt ihr uns helfen? Die Menschen lernen sich kennen – und dadurch, dass wir so nah an sie hinspielen, verbünden sie sich mit uns."

    Heute ist keine Vorstellung, das Halbrund gehört einer Krähe, die herumspaziert. Es ist fast menschenleer, auf den Stufen des Amphitheaters sitzt nur André Chantime mit seiner Frau:

    "Es gibt im Englischen Garten in München mehrere Orte, die sind so eine Art Geheimtipp. Und gerade das Amphitheater ist so einer dieser Orte, die kaum bekannt sind. Obwohl er auf Plänen eingezeichnet ist, finden ihn Passanten doch oft nicht. Also man weiß darum, aber es ist so eine Art Geheimnis."

    Der gebürtige Schwabinger ist Hotelier, aber die meisten seiner Gäste wollen nur die Highlights in München sehen: Deutsches Museum, Liebfrauendom, Allianzarena. Viele Touristen kennen zwar den südlichen Teil des Englischen Gartens: Den Biergarten am Chinesischen Turm, den Monopteros und die Eisbach-Surfer am Haus der Kunst. Dort aber ist es deutlich überlaufener, an manchen Sonntagen findet man kaum noch einen Sitzplatz auf den Wiesen. Der wilde Nordteil ist eher den Einheimischen vorbehalten:

    "Wir gehen oft vom Englischen Garten zur Isar. Im Sommer baden wir dort, das ist fantastisch. In München gibt es mitten in der Stadt einen Strand zum baden. Gerade auch für Familien ist es klasse."

    Kiesbänke an der Isar, Wiesen und kleine Wälder: Diese Umgebung zieht die Liebenden an, die Entdecker, die Umtriebigen - und die Hundebesitzer. Gundi Grant ist mit ihrem türkischen Kangal-Mischling unterwegs.

    "Für mich ist der Spaziergang wie Meditation. Und da ist da vorn irgendwo ein Hundebiergarten, da treffen sich hauptsächlich Leute mit Hunden, da kann man kurz was trinken oder essen. Hier ist Freiheit für mich."

    Vor allem im nördlichen Teil des Englischen Gartens erscheint es unvorstellbar, dass ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt Hochhäuser stehen und die Autobahn verläuft. Über eine Länge von drei Kilometern zieht sich das Grüne Band durch München. Westlich grenzt der Stadtteil Freimann an, östlich verläuft die Isar. Wer will, kann hier stundenlang durchs Grüne spazieren. Dafür, dass die Natur in dieser Form erhalten bleibt, sorgt Stefanie Dolard. Die Landschaftsgärtnerin und ihr Team mähen Wiesen, schneiden das Unterholz und züchten neue Bäume heran - alles sachte Eingriffe in die Natur:

    "Das ist Gartenkunst, eine Kunst, die der Normalbürger nicht sieht, sondern er sagt nur: Ach, ist das schön. Aber dass das durchkomponiert ist wie ein Bild oder ein Musikstück, das fällt einem nicht so auf, weil man an gestaltete Natur gewöhnt ist. Das hier ist alles künstlich … künstlich aus dem Boden geholt."

    Der Englische Garten entstand Ende des 18. Jahrhunderts als Militärgarten. Nach dem Willen des Kurfürsten Carl Theodor sollten die Soldaten hier landwirtschaftliche Fähigkeiten lernen und sich erholen können. Nebenan legte der Schwetzinger Hofgärtner Friedrich Ludwig von Sckell einen Volkspark an: Kein französischer, geometrischer Barockgarten, sondern eine möglichst natürliche Umgebung.

    "Eigentlich liegt der Englische Garten auf Überschwemmungsgebiet in einer Isarau. Da wachsen normalerweise Erlen, Eschen und Bruchwald, so niederes Zeug. Das war ja früher Jagdgebiet der Könige, und Sckell hat das in einen großen, englischen Landschaftspark umgestaltet. Das war mit viel Mühe verbunden, der musste sehr viel Erde bewegen, und wertvolle Bäume pflanzen, damit das nicht so verhaut ausschaut, nicht nach Bruchwald."

    Zu Zeiten des Hofgärtners von Sckell, vor mehr als 200 Jahren, bot der nördliche Teil des Parks auch Wildtieren ein Revier. Deshalb heißt er bis heute Hirschau. Stefanie Dolard steht da in ihrer grünen Gärtnerlatzhose, auf dem Kopf ein Strohhut, und blickt über die Wiese:

    "Das ist sehr geschickt gelöst mit diesen großen Flächen, zum Rand hin abgepflanzt mit hohen Bäumen, damit man die Bebauung nicht sieht. Die Wiesen sind leicht eingetieft, so dass sie größer erscheinen, nicht flach, sondern nach unten gewölbt, so dass das Auge drüber gleiten kann. Die Wege sind auch leicht vertieft, damit sie das Auge nicht stören, wenn man in die Weite schaut. Um Struktur in den Raum zu bekommen, sind auf vielen Wiesen kleine Baumgruppen, die nicht unterpflanzt sind, damit das Auge stockt – und dann weitergeht."

    Diese Blicke – wie zufällig und doch sorgsam arrangiert - faszinieren auch Ulrike Dissmann, wenn sie durch den Park spaziert. Die Regisseurin bleibt stehen.

    "Hier ist eine Blickachse über den Oberstjägermeisterbach hinweg. Über eine große Wiese, dann ist noch ein Bach dort hinten, und dann sieht man den Kirchturm von Oberföhring über die grünen Wipfel der Bäume einfach zu uns herschauen. Sehr malerisch – es wirkt ein bisschen wie eine Theaterkulisse. Das ist eigentlich immer so: Wenn man im Englischen Garten geht, könnte man alle fünf Schritte stehen bleiben und schauen. Es ist eine Idylle, von Menschen gemacht, aber sie sieht aus als sei sie vom Himmel gefallen."

    Dazu gehört auch die Schafherde im Englischen Garten. Mehrere hundert Schafe und Lämmer haben die Wiese schon zu Hälfte abgegrast. Am Rand stehen ein alter, grüner Schäferwagen und ein weißer Wohnwagen – die Heimat von Hannes und Evi Rosenhuber. Das junge Schäferpaar sorgt bei Besuchern regelmäßig für ungläubige Gesichter:

    "Das verwundert sehr viele. Es kommen oft welche, die sagen, wir wohnen hier seit 20 Jahren ums Eck und haben noch nie Schafe gesehen im Englischen Garten. Es gibt auch welche, die kommen fast täglich vorbei und sagen es freut sie, dass wir da sind. Es gibt auch welche, die extra von weither kommen, um die Schafe zu sehen, weil sie gehört haben, dass wir da sind. Es gibt eigentlich alles."

    Als Wanderschäfer leben die Rosenhubers vom Verkauf ihrer Lämmer. Der Englische Garten ist natürlich kein alltäglicher Weideplatz, die Herde kommt mit den Spaziergängern aber ganz gut klar:

    "Das sind die schon gewöhnt. Die kommen schon und warten, dass sie gefüttert werden. Ein paar wollen sich auch streicheln lassen. Wir haben immer wieder auch Flaschenlämmer, die wo zahm sind, die wo die Kinder streicheln können. Das gefällt denen ganz gut."

    Evis Mann Hannes ist das ganze Jahr mit den Schafen unterwegs, ohne Stall, immer in der Natur. Nicht nur im Englischen Garten, sondern in ganz Oberbayern. Vor acht Jahren hat er als Weideschäfer angefangen.

    "Dass die abends satt san, ist die Hauptaufgabe. Klauenpflege, Wurmkur, schauen, dass alles gesund ist. Schauen, dass sie Lämmer gesund san, die wo auf die Welt kimman. Wasser … alles was dazu gehört, dass die zufrieden san."

    Ein Stückchen weiter durchzieht wieder ein Bachlauf den Englischen Garten. Hier liegt Daniel, Mathematik-Student aus Sao Paulo, auf seiner Decke und liest:

    "Ich wohne hier in der Studentenstadt, also fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt. Ja, dass man in so einer Stadt wie München so eine große, grüne Fläche hat. Und dass man hier nicht Autos hört, man fühlt sich nicht in der Stadt. Manchmal spiel ich hier auch Fußball, und Volleyball, und natürlich auch Radfahren."

    Wer einen Platz in der Studentenstadt ergattert - ein großes Wohnheim am Rande des Parks – hat es gut getroffen. Von einer hügeligen Wiese zieht der Geruch von Grillkohle herüber. Maria feiert mit rund 20 Kommilitonen ihren Geburtstag.

    "Wir haben halt keinen Garten zu Hause, und es ist nicht weit. Dann liegt’s ja nahe hier zu feiern. Ich find die ganze Anlage recht schön, vor allem hier draußen ist es ja relativ ruhig und nicht so überlaufen wie in der Stadt. So mit dem Bach ist es auch ganz praktisch: Da kann man’s Bier kühlen."

    Partyvolk und Erholungssuchende, Jogger und Radfahrer, Hundenarren und Spaziergänger - so bunt wie der Park sind auch seine Besucher. Damit alles seine Ordnung hat, schaut im weitläufigen Nordteil auch die Münchner Polizei nach dem Rechten. Aber nicht im Streifenwagen oder zu Fuß, sondern hoch zu Roß. Karl Dratva gehört zur Reiterstaffel:

    "Im Englischen Garten ist es besser, wenn man zu Pferd unterwegs ist, weil natürlich das Landschaftsschutzgebiet ist und man da einfach besser den Überblick hat. Und zum anderen die Bürger auch nicht gestört sind durch Motorlärm. Das ist einfach die umweltschonende Weise, dem Bürger Sicherheit zu vermitteln. Dafür sind wir da."

    Dratva und seine Kollegin sind Umweltsündern auf den Fersen, Rollerfahrern, die auf Gehwegen unterwegs sind – aber sie beantworten auch viele Fragen von Spaziergängern, die zum Beispiel auf der Suche nach dem nächsten Biergarten sind. Klingt nach einem entspannten Arbeitsplatz für die Beamten:

    "Ja, auf den ersten Blick ist es sehr idyllisch, vor allem heute ist das Wetter super. Aber wir sind halt auch unterwegs bei 20 Grad minus beziehungsweise in den letzten Wochen, als es geregnet hat. Unsere Aufgabe im Englischen Garten bleibt dann natürlich trotzdem weiter bestehen."

    Die berittenen Polizisten kennen die unterschiedlichen Gesichter des Parks: Blühende Wiesen im Frühjahr, Nebelschwaden über den Bächen im November, Langlauf-Loipen im Winter. Reizvoll ist das alles, findet Gartenliebhaberin Ulrike Dissmann:

    "Es ist eben auch etwas, was man entdeckt, der Nordteil ist ja der Entdeckungsteil. Denn er ist der stillere, naturbelassenere Teil. Man muss wirklich durch den Englischen Garten spazieren gehen und er ist voller Überraschungen."

    Inzwischen stehen wir an einem kleinen Weiher, hier wurde der Bach aufgestaut. Die Trauerweiden am Ufer spiegeln sich im Wasser. Durch die dichten Blätter riesiger Rotbuchen bricht das Sonnenlicht. Die Augen der Theater-Regisseurin wandern erst übers Wasser, dann über die benachbarte Uferwiese in die Ferne:

    "An dem was blüht, und was vergeht, was verwelkt, da kann man den Ablauf der Jahreszeiten so tröstlich, geradezu heilsam erfahren. Da kann man sein eigenes Leben auch immer widerspiegeln: Wir haben alle unseren eigenen Frühling, unseren Sommer, unseren Herbst und hoffentlich einen langen, sonnigen Frühwinter, ehe dann eine Frostnacht kommt und uns vielleicht endgültig wegräumt. Was die Frostnächte machen in der Natur: Die räumen viel Schädliches weg oder Überflüssiges – oder was sich halt erledigt hat."