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Gehörlos, aber nicht stumm

Deutschland ist nicht allein von Missbrauchsfällen im kirchlichen Umfeld betroffen. Auch in den USA melden sich einst misshandelte Opfer, die nicht länger schweigen wollen. Das Echo ihrer Klagen hallt bis nach Rom: Was wusste - was weiß - der Vatikan?

Von Klaus Remme |
    Am letzten Wochenende hatte Timothy Dolan genug. Seit Tagen musste der Erzbischof von New York in der Zeitung von Vorwürfen gegen den Vatikan, ja gegen den Heiligen Vater selbst lesen. Einst geheime Dokumente wurden breitgetreten, ein jahrzehntelang zurückliegender Missbrauchsskandal beschäftigt plötzlich wieder die Medien, die Gemeinden und nicht zuletzt die Gerichte. Während der Messe grollte Dolan:

    Gewisse Quellen sind geradezu versessen darauf, den Mann anzuklagen, der vielleicht mehr als alle anderen für die Säuberung und einen Neuanfang getan hat, so der Erzbischof.
    Er nannte keine Fälle, nannte keine Namen, doch es ist die Zeitung vor Ort, die New York Times, die den Fall Lawrence Murphy in dankenswerter Klarheit aufgerollt hat. Und Dolan ist in diesem Fall mehr als nur Medienkritiker. Er kennt die Causa Murphy besser als die meisten, denn bevor er im vergangenen Jahr nach New York kam, war er sieben Jahre lang Erzbischof von Milwaukee, dort, wo Father Lawrence Murphy von 1950 bis 1974 sein Unwesen trieb, bis zu 200 gehörlose, wehrlose Kinder missbrauchte und Kirche und Behörden die Opfer jahrelang missachteten.

    Sehr geehrter Herr Budzinski,
    Anbei der jährliche Scheck gemäß unserer Vereinbarung. Ich hoffe, sie machen weiter Fortschritte auf dem Weg zur Heilung. Ich bete für Sie und weiß dies auch von Erzbischof Dolan ...


    … schreibt ein Mitarbeiter der Erzdiözese Milwaukee im Juni 2008. Arthur Budzinski ist eines der vielen Opfer von Lawrence Murphy. Father Lawrence Murphy, ein Priester, der zuerst als Lehrer, dann als Direktor der St. Johns Schule für Taubstumme, nach außen hin geachtet war. Für viele Eltern war er, fließend in Zeichensprache, die maßgebliche Verbindung zu ihren Kindern. In der Schule jedoch war kaum ein Kind sicher vor diesem Triebtäter. Die Zeit von Sonntag bis Freitag in der Schule war für viele ein Albtraum. Wenn es nach dem Wochenende zurückging, versteckte sich Arthur unter dem Bett vor seinen nichts ahnenden Eltern. Er wurde das erste Mal 1962 mit 13 von Murphy missbraucht. In der Küche seines kleinen Hauses in West Allis, außerhalb von Milwaukee, zeigt der gehörlose Vater seiner hörenden Tochter Gigi die Geschichte. Gigi übersetzt:

    "Sie blieben dort ja über Nacht. Mein Vater wollte bei Father Murphy die Beichte ablegen. Der führte ihn in einen großen Schrank und verging sich an ihm.""

    Es ist die Verbindung von wehrlosen Kindern mit dem Beichtgeheimnis, die diesen Fall so teuflisch macht. Gläubige in Milwaukee muss man nicht auf das Thema ansprechen. Sie wissen, warum nach dem Gottesdienst zurzeit Kameras und Mikrofone warten.

    Marylin Anderson, Anfang 60 aus Greendale bei Milwaukee, schüttelt sich.

    ""Ich bin in katholische Schulen gegangen, bin von Katholiken zur Krankenschwester ausgebildet worden, habe 30 Jahre lang in der Kinderheilkunde gearbeitet. Sie können sich vorstellen, was ich fühle,"

    sagt Anderson. Und über die Rolle von Papst Benedikt meint sie:

    "Er muss die Verantwortung für die Zeit vor der Papstwahl übernehmen, er war ein wichtiger Mann im Vatikan, hat Entscheidungen in ähnlichen Fällen getroffen,"

    fordert Anderson. In der Tat führt die Spur dieses Skandals von Milwaukee direkt in den Vatikan, denn auch wenn die Opfer gehörlos waren, stumm waren sie nicht. 1974 wagen sich drei ehemalige Schüler voraus. Sie gehen an die Öffentlichkeit, zur Polizei, zur Staatsanwaltschaft und zum Erzbischof.

    Michael McCann kennt Milwaukee, wie kaum ein anderer. Von 1969 bis 2006 war er der zuständige Staatsanwalt. Das ist über 35 Jahre her, ich kann mich an keine Einzelheiten erinnern, sagt McCann heute. Soviel immerhin: Sein Stellvertreter habe sich der Sache damals angenommen. Die Vorwürfe waren verjährt, bezogen sich auf Ereignisse länger als sechs Jahre her, so erinnert er sich. Stimmt nicht, widerspricht Jeff Anderson, prominenter Anwalt, der die Erzdiözese in diesem Fall verklagt hat.

    Man hätte ihn damals anklagen, verurteilen und ins Gefängnis sperren können, sagt Anderson. Und auch Arthur Budzinski sagt durch seine Tochter über das Treffen:

    "Wir hatten damals keine Ahnung von der Rechtslage, es stimmt, die Verbrechen an mir und einem Freund waren verjährt, doch Gary Smith war 22, mit 20 wurde er das letzte Mal missbraucht.""

    Anwalt Anderson nimmt kein Blatt vor den Mund. McCann ist loyaler Katholik, er hat immer Bischöfe gedeckt, nimmt sie heute noch in Schutz, sagt er. Rechtlich ist den Strafverfolgungsbehörden nicht beizukommen. Unterlagen über den Bericht der Opfer gibt es nicht, und anders als in Deutschland hat ein Staatsanwalt hier großen Spielraum, wenn es darum geht, Vorwürfe weiterzuverfolgen. Und McCann räumt freimütig ein, damals wurden solche Sachen innerhalb der Kirche geregelt, nicht den Behörden gemeldet.

    Doch auch die Kirche hat Opfer wie Budzinski im Stich gelassen. Im gleichen Jahr 1974 findet ein Treffen der drei Opfer mit dem damaligen Erzbischof Cousins und Father Murphy statt. Auch Vertreter der apostolischen Delegation und zwei Dolmetscher für die gehörlosen Opfer waren anwesend. Doch das Gespräch verläuft anders als sie erwarten. Auf Forderungen nach einer Entlassung Murphys, erinnert sich Budzinski an einen Wutanfall des Erzbischofs. Cousins schrie, wir konnten seinen Speichel fliegen sehen, sagt er. Gigi Budzinski übersetzt:

    ""Ich habe hemmungslos geweint, konnte nicht glauben, dass Bischof Cousins nicht auf meiner Seite steht."

    Doch die Opfer geben nicht auf. Sie verteilen Flugblätter vor der Kathedrale, und als Father Murphy im Herbst 1974 in eine andere Diözese verschickt wird, folgen sie ihm. Sie legen Flugblätter mit seinem Bild und der Aufschrift Most wanted, also Gesucht, in die Gebetsbücher der Kirche. Denn obwohl mit Auflagen versehen, liest Murphy weiter die Messe und unterrichtet in der Sonntagsschule. Sie stellen ihren Peiniger an seinem Sommerhaus, auch ein Ort, wo Murphy einst Kinder missbraucht hatte. Sie bringen eine Videokamera, doch Murphy schüttelt sie ab wie lästige Fliegen:

    Das ist ewig her, vergesst die Sache, erinnert sich Budzinski an seine Reaktion. Vergessen, fragt die 30-jährige Gigi, jetzt als Tochter, wie soll das gehen. Mein Vater ist gezeichnet, viele Jahre hatte er diesen Zorn in sich, es ist ihm nicht möglich Emotionen zu zeigen. Keine Umarmung, kein Kuss für die Kinder all die Jahre, doch letztes Jahr Weihnachten einen:

    Verständnis für Rom gibt es nur bei wenigen Gläubigen am letzten Wochenende in Milwaukee. Ich hoffe, der Papst geht zurück nach Deutschland, empört sich Faith Webber. Weniger emotionale Reaktionen sind dennoch deutlich. Daniel Maguire ist ehemaliger Priester und Moraltheologe an der Marquette Universität in Milwaukee:

    "Der Papst sollte zurücktreten, es geht um Glaubwürdigkeit."

    Er hat den Rücktritt von Bischöfen angenommen, die sich genauso verhalten haben wie er, befindet Maguire. Für ihn ist die persönliche Verwicklung von - damals - Josef Kardinal Ratzinger erwiesen. Es geht um den Briefverkehr zwischen dem Erzbischof von Milwaukee, Rembert Weakland und dem Vatikan. Spät und unter öffentlichem Druck entscheidet sich Weakland Mitte der 90er-Jahre, endlich zu handeln. Zu dem Zeitpunkt ist er schon 16 Jahre im Amt. Murphy lebt noch immer als Priester im Norden von Wisconsin. Nach Gesprächen eines Gutachters mit ihm liegen nun Einzelheiten der zahlreichen Übergriffe des Priesters vor. Weakland will die Amtsenthebung Murphys, am 17. Juli 1996 schreibt er an Josef Kardinal Ratzinger, damals Präfekt der Glaubenskongregation. Da Murphy das Sakrament der Beichte für seine Verbrechen ausnutzte, sah der Bischof den Fall in der Zuständigkeit Ratzingers. Doch Rom schweigt. Weakland schreibt im Dezember einen zweiten Brief und im März 97 einen dritten, diesmal an Kardinal Agustoni und warnt vor, so wörtlich, "true scandal":

    Ein Skandal ist wegen einer möglichen Zivilklage in naher Zukunft wahrscheinlich. Ich habe Josef Kardinal Ratzinger geschrieben, doch bisher keine Antwort erhalten und suche nun Ihren Rat.

    Moraltheologe Daniel Maguire runzelt die Stirn angesichts des Begriffs "true scandal":

    Wenn Kirchenleute von Skandal reden, dann meinen sie tatsächlich einen desaströsen Imageschaden, erklärt er. Zwei Wochen nach dem dritten Brief, bekommt Erzbischof Rembert Weakland Post aus Rom. Eine Antwort von Erzbischof Bertone, dem damaligen Sekretär Ratzingers, heute zweiter Mann im Vatikan. Weakland wird angewiesen, das Amtsenthebungsverfahren einzuleiten. Da es sich um Vorwürfe in Zusammenhang mit dem Beichtgeheimnis handelt nach kanonischem Recht, einem Protokoll aus dem Jahr 1962 und, ganz wichtig, in absoluter Verschwiegenheit.

    Im Dezember 97 beginnt das Verfahren gegen Murphy, so Anwalt Jeff Anderson. Doch man kommt nicht weit. Der Täter selbst wird aktiv. Im Januar '98 schreibt Father Murphy an Josef Kardinal Ratzinger. Er gibt die Vergehen der Vergangenheit zu, und schreibt weiter:

    Ich bin 72 Jahre alt und krank. Ich habe alle Auflagen der Erzbischöfe beachtet, ich bereue meine Vergehen und lebe seit 24 Jahren friedlich im Norden Wisconsins. Ich möchte den Rest meines Lebens in meiner Priesterwürde verbringen und hoffe auf ihre Unterstützung.

    Der Sekretär Ratzingers, Erzbischof Bertone, schreibt daraufhin im April an die Bischöfe in Wisconsin:

    In Anbetracht des Schreibens von Father Murphy bitte ich euch, das Verfahren sorgfältig zu überdenken.

    Rom empfiehlt pastorale Maßnahmen, unterhalb einer Amtsenthebung und ohne ein Verfahren, dass öffentlich werden könnte, doch die Antwort aus Wisconsin kommt wenige Wochen später durch Bischof von Superior, Fliss:

    Nach meinem Urteil sind alle pastoralen Maßnahmen ausgeschöpft. Meiner Meinung nach ist es ohne ein Verfahren gegen Father Murphy nicht möglich, die Wunden dieses Skandals zu heilen und Gerechtigkeit wiederherzustellen.

    Zwei Wochen später reisen Weakland, Fliss und ein dritter Bischof nach Rom. Man trifft sich dort mit Bertone, und die Glaubenskongregation beharrt auf ihrem Standpunkt. Kein Verfahren gegen Murphy. Rembert Weakland vor einigen Tagen gegenüber der BBC:

    "Am Ende des Treffen wurden wir um weitere Auflagen für Murphy gebeten, doch das hatten wir alles hinter uns. Ich habe sie einfach nicht überzeugen können, dass es besser wäre, wenn Murphy als Laie beerdigt wird."

    Am 21. August 1998 stirbt Father Lawrence Murphy. Die Beisetzung gerät zu einem letzten Tritt für die Opfer. Erzbischof Rembert Weakland schreibt nach Rom:

    Anders als mit der Familie vereinbart, wurde Murphy nicht im Stillen und in geschlossenem Sarg beigesetzt. Die Gemeinde der Gehörlosen wurde eingeladen, der Sarg war geöffnet, Father Murphy in Gewändern. Weihbischof Sklba zelebrierte die Totenmesse, unterstrich durch sorgfältig gewählte Worte die guten Taten Father Murphys und musste, mit Rücksicht auf die Gemeinde der Gehörlosen auch einige Schatten erwähnen, die auf sein Priesteramt fielen.

    Der Erzbischof schließt:

    Trotz dieser Schwierigkeiten hoffen wir, Schlagzeilen vermeiden zu können, die der Kirche schaden könnten.

    Noch 1998 wird also mit allen Mitteln versucht, Skandale wie diesen unter der Decke zu halten. Anwalt Jeff Anderson hat bereits über 2000 Missbrauchsopfer durch Priester gerichtlich vertreten. Ein Urteil des Obersten Gerichts in Wisconsin aus dem Jahr 2006 gibt den Opfern die Chance, mit dem Tatbestand der Verschleierung zu argumentieren und die Verjährungsfristen für Missbrauch damit auszuhebeln. Anderson brauchte die letzten drei Jahre, um die Freigabe des Briefwechsels mit Rom zu erzwingen. Für den Theologen Daniel Maguire keine Überraschung:

    "Hier geht es immer darum, das Mysterium des Priesteramts zu erhalten. Ist dies einmal zerstört, bleibt dauerhafter Schaden, deshalb der fanatische Eifer, die Dinge zu vertuschen."

    Wusste der Papst, damals noch Kardinal, von diesem Fall, war er persönlich eingebunden, hat er die Briefe gelesen? Anwalt Anderson verklagt die Diözese, nicht den Vatikan, dennoch ist er überzeugt:

    Auch wenn Erzbischof Bertone geantwortet hat, der Sekretär Ratzingers hatte keine Entscheidungsbefugnis, meint Anderson und der Theologe Maguire stimmt zu:

    Ein Erzbischof, der an den Kardinal schreibt, kann mit dem Kardinal kommunizieren, meint er. Und auch, wenn Anderson eigene Interessen hat und Maguire als Kirchenkritiker bekannt ist. Auch Father Steve Avella ist ähnlicher Meinung. Der Kirchenhistoriker mahnt, den Fall, obwohl natürlich problematisch, im damaligen kulturellen Kontext zu sehen. Doch er sagt:

    Ich kann mir nicht vorstellen, dass Briefe des Erzbischofs einer großen Metropole nicht weitergeleitet werden und wenn, dann wurde das reguläre Verfahren grob verletzt, meint Avella. Der damalige Erzbischof Weakland will nichts sagen. Der 82-jährige wurde nach einem gänzlich unabhängigen Skandal um seine Homosexualität vor acht Jahren mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt. Die Haustür bleibt verschlossen, Anrufe unbeantwortet. Der BBC sagte Weakland vor einigen Tagen auf die Frage nach Schuldigen:

    Alle haben zu spät reagiert. Ich selbst hätte zehn Jahre früher gegen Murphy einschreiten müssen, gibt er zu. Heute, 12 Jahre nach dem Tod von Lawrence Murphy, ist man in der Bistumsleitung in Milwaukee sicher, sauber zu sein. Julie Wolf, die Sprecherin des Erzdiözese, verweist auf Kontrollen bei der Auswahl von Kandidaten für das Priesteramt. Auf die Tatsache, dass inzwischen ein einziger begründeter Verdacht ausreicht, um zu handeln. Die Welle von Missbrauchsfällen Anfang des Jahrzehnts in den USA war eine Art Zeitenwende sagt sie. Und dass Papst Benedikt in den letzten Jahren mehr für einen Neuanfang getan hat, als seine Vorgänger, bestreiten die wenigsten. Wenn man nach Lehren und Konsequenzen fragt, dann dominieren zwei Stichworte: Schonungslose Ehrlichkeit und Transparenz ohne Wenn und Aber. Natürlich wird er nicht zurücktreten, weiß der Theologe Maguire, aber:

    Er könnte offensiv vorgehen, beichten, selbst persönliche Fehler eingestehen. Als jemand, der 1971 das Priesteramt aufgab, um zu heiraten, ist sich der Theologe Maguire sicher:

    Es gibt einen offensichtlichen Grund, warum Geistliche anderer Konfessionen und Religionen nicht ähnliche Schlagzeilen machen, der Zölibat ist schuld, meint Maguire, doch Father Avella widerspricht.

    "Vielleicht ist der Zölibat ein Faktor, doch auch verheiratete Männer vergehen sich an Kindern. Ich kann da keine wirklich wesentliche Verbindung sehen."

    Avella will eine Kirche ohne Angst, er will eine Debatte. Die Kirche habe von der Wahrheit nichts zu befürchten:

    Arthur Budzinski, der mit 13 von Lawrence Murphy missbraucht wurde und mit 61 noch immer darunter leidet, hat vor einigen Jahren 80.000 Dollar Entschädigung vom Erzbistum bekommen. Doch das ist für ihn kein Schlusspunkt gewesen. Die Entschuldigung von Papst Benedikt während seines USA-Besuchs gegenüber allen Opfern kann er nicht annehmen. Nicht, bevor alles auf dem Tisch ist. Budzinski überlegt, sich der aktuellen Klage anzuschließen. Die Kirche muss sauber werden, das ist die Hauptsache, übersetzt Tochter Gigi, es geht ihm nicht um Geld.