Sie sei erstaunt über die positiven Stimmen, sagte Friedrichsen im Deutschlandfunk - und auch davon, dass viele davon ausgingen, dass Degwoski keine Straftaten mehr begehen werde. "30 Jahre Haft sind nicht unbedingt dazu angetan, aus einem Menschen einen besseren Menschen zu machen", sagte Friedrichsen. Zwar müsse laut Bundesverfassungsgericht jeder Mensch die Chance haben, die Freiheit wiederzuerlangen. "Die Erfahrung zeigt aber, dass es oftmals keine Besserung gab, sondern die Menschen noch kaputter waren als vorher."
Vom 16. bis 18. August 1988 hielten Degowski und sein Komplize Hans-Jürgen Rösner die Republik in Atem. Drei Tage lang flüchteten sie nach einem missglückten Bankraub mit Geiseln vor der Polizei. Drei Menschen starben. Degowski hatte in einem Linienbus in Bremen einen 15-Jährigen erschossen, ein Polizist starb bei einem Unfall der Verfolger und als die Polizei dann am dritten Tag auf der A3 bei Bad Honeff den Fluchtwagen stoppte und zugriff, starb die 18-jährige Geisel Silke Bischoff durch eine Kugel aus Rösners Waffe.
Kein Bedauern von Degowski
"Mir kam Degowski damals als ein Mensch war, der gar nicht erreichbar war. Bei Rösner war das anders", sagte Friedrichsen mit Blick auf den damaligen Prozess. Rösner habe Bedauern über den toten 15-Jährigen gezeigt, bei Degowski habe sie so etwas nicht bemerkt.
Die Perspektive für Degowski sei nun schlecht. Es sei für ihn praktisch unmöglich, eine Anstellung zu finden. "Und die fehlende Perspektive macht diesen Menschen sehr zu schaffen." Zwar habe es erfolgreiche Fälle der Resozialisierung gegeben, jedoch nicht nach derart langen Haftstrafen. "Degowski war die ganze Zeit mit Menschen zusammen, die selbst nicht mit ihrem Leben zurechtkamen. Er ist in Unmündigkeit gehalten worden, er konnte nichts für seine Weiterentwicklung machen. und es gibt in der Regel zu wenig Therapeuten." Degowski kenne niemanden mehr - höchstens "Kumpels von früher".
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Die Geiselnahme von Gladbeck. Jeder, der 1988 alt genug war, um Fernsehnachrichten zu gucken, wird bei diesen Worten sofort eins oder mehrere Bilder vor Augen haben. Denn dieses Drama vor fast 30 Jahren gilt nach wie vor als eines der spektakulärsten Verbrechen in Nachkriegsdeutschland. Zwei Täter, Gangster, eine tagelange Irrfahrt durch Deutschland, ein gekaperter Linienbus, Fernsehinterviews der beiden Täter mit Waffe in der Hand, drei Menschen waren schließlich tot, als die Polizei das Ganze auf der Autobahn A 3 beendete. Jetzt, knapp 30 Jahre später soll nun einer der beiden Täter kurz vor der Entlassung stehen, Dieter Degowski, heute 60 Jahre alt. Aus Justizkreisen heißt es, dass er seine Tat inzwischen bereut und dass er in der Haft große Fortschritte gemacht habe. Seine Anwältin sagt, er sei heute ein freundlicher Mann.
Gisela Friedrichsen ist seit knapp 30 Jahren Gerichtsreporterin beim "Spiegel", sie hat diesen Fall von Beginn an verfolgt. Ich habe mit ihr vor dieser Sendung über Dieter Degowski gesprochen und ich habe sie gefragt, auf was für einen Menschen wir uns da nach 30 Jahren Haft gefasst machen müssen.
"Die Erfahrung zeigt halt, dass es oftmals keine Besserung gegeben hat"
Gisela Friedrichsen: Ja, ich bin etwas erstaunt darüber, dass es so positive Stimmen gibt, dass er sich so gut entwickelt habe und dass man jetzt davon ausgehen könne, dass er keine Straftaten mehr begeht. Fast 30 Jahre Haft sind in der Regel nicht unbedingt dazu angetan, aus einem Menschen einen besseren Menschen zu machen oder dafür zu sorgen, dass er nun wirklich ein straffreies Leben künftig führt, sondern oftmals kommen da Menschen aus den Anstalten, die so lange da drin waren, die nachher mindestens so kaputt sind wie damals, als sie in die Anstalt hineinkamen.
Armbrüster: Das heißt aber, dann dürfte man eigentlich überhaupt niemanden aus der Haft entlassen nach so einer langen Zeit?
Friedrichsen: Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, jeder muss die Chance haben, die Freiheit wieder zu erringen. Und daran haben wir uns zu halten. Die Frage ist eben, was tut man in der langen Zeit mit einem Gefangenen, dass er nachher überhaupt noch lebenstüchtig ist? Bei Degowski scheint es ja ganz gut funktioniert zu haben, vielleicht hat er … ist er auf die richtigen Therapeuten gestoßen, vielleicht hat man sich um ihn, weil er ein sogenannter – in Anführungszeichen – prominenter Häftling war, mehr gekümmert oder besser gekümmert als um viele andere. Also, es wäre ihm zu wünschen, dass es gut geht, aber die Erfahrung zeigt halt, dass es oftmals keine Besserung gegeben hat, sondern dass die Menschen nachher noch kaputter sind als vorher.
Armbrüster: Gibt es im Fall Degowski, Dieter Degowski etwas Spezielles, was Sie so skeptisch macht?
Friedrichsen: Ich habe ihn damals in der Hauptverhandlung erlebt und er kam mir damals als ein Mensch vor, der überhaupt nicht erreichbar war von dem, was er angerichtet hatte. Das war bei seinem Kumpel Rösner etwas anderes. Rösner hat an einer Stelle im Prozess, als nämlich der Vater dieses 15-jährigen Emanuele de Giorgi, der von Degowski erschossen worden war, als der da als Zeuge aussagte und über seinen Jungen sprach, ist Rösner fast zusammengebrochen und hat nachher auch so eine Erklärung abgegeben, dass er das nicht gewollt habe, dass da auf Kinder geschossen wird. Und der war also wirklich zutiefst getroffen. So eine Situation hat man bei Degowski nicht erlebt.
Armbrüster: Was wissen Sie denn über Dieter Degowskis Zeit im Gefängnis, was ist darüber bekannt, über diese 30 Jahre?
"Es wäre zu wünschen, dass der Vollzug ihn abschirmt von den Medien"
Friedrichsen: Ich habe mal aus der "Bild"-Zeitung, glaube ich, entnommen, dass er wohl mal geheiratet hat. Aber was aus dieser Ehe geworden ist, das weiß ich nicht. Ansonsten ist nicht sehr viel von ihm bekannt geworden. Von Rösner weiß man, dass er mal erwischt wurde mit sieben … oder dass man in seiner Zelle sieben Gramm Heroin gefunden hat, da kam er dann vor Gericht, das war 2009. Da habe ich also Rösner gesehen und das war ein … ja, ein gebrochener Mann. Damals, 88 oder Anfang der 90er-Jahre, 91, als das Verfahren war in Essen, da war er ein kraftstrotzender junger Mann, der jederzeit irgendeinen frechen Spruch auf den Lippen hatte. 2009 war das ein gebrochener, alter Mann, der da vor Gericht auftrat. Von Degowski weiß man das nicht so, dass man ein Bild vor Augen hat.
Armbrüster: Es ist ja auch sonst relativ wenig bekannt, die Justizbehörden halten sich auch sehr bedeckt, auch über jetzt die bevorstehenden Wochen, in denen Dieter Degowski möglicherweise freikommt. Aber was sagt denn Ihre Erfahrung, wie funktioniert so etwas normalerweise? Ich nehme mal an, das wird mit einigen auch länger andauernden Freigängen durchaus auch unter Polizeibewachung erst mal – in Anführungszeichen – geübt?
Friedrichsen: Das hat er sicher schon in der letzten Zeit eine ganze Weile schon geübt. Die nächste Stufe wird sein, dass er alleine die Anstalt verlassen darf, und es wäre wirklich zu wünschen, dass der Vollzug da so klug ist und ihn abschirmt von den Medien, dass er sich da nicht verfolgt oder bedrängt fühlt. Denn sonst geht die Sache schief, denke ich. Er muss also wirklich die Chance haben, dass er in ein Leben, das ihm ohnehin ja ganz fremd ist, einigermaßen komplikationslos übergeführt wird. Das dürfte schwierig genug sein, aber jedes Aufsehen, das darum gemacht würde, wenn das bekannt würde, wann der Mann die Anstalt verlassen darf, das wäre kontraproduktiv.
Armbrüster: Mit welchen Reaktionen rechnen Sie denn da, wenn das bekannt wird in den nächsten Wochen, dass er freikommt?
"Gut, dass er unter einem anderen Namen entlassen werden wird"
Friedrichsen: Da stehen natürlich dann die Fernsehkameras vor der Tür und die Filmleute und jeder will ein Interview mit ihm machen und man wird ihn verfolgen und befragen wollen und bedrängen. Wie soll denn ein Mensch, der so lange jetzt in der Zelle gesessen hat, damit fertigwerden? Das ist ja absolut unvorstellbar. Und so finde ich es auch sehr gut, dass er unter einem anderen Namen entlassen werden wird, denn dann hat er die Chance, doch einigermaßen unbelästigt weiterzuleben.
Armbrüster: Sie beschäftigen sich ja berufsmäßig sehr viel mit solchen Fällen, auch mit solchen Schicksalen, auch mit Menschen, die wirklich längere Zeit im Gefängnis verbracht haben. Was sind denn da nach 30 Jahren die größten Herausforderungen?
Friedrichsen: Ja, eine der allergrößten Herausforderung ist sicher, dass, wenn ein 60-Jähriger jetzt in Freiheit kommt, der so viele Jahre im Knast gewesen ist, ja, was macht denn der weiterhin? In der Regel haben diese Menschen nichts gelernt. Und selbst wenn sie was gelernt haben früher oder in der Haft vielleicht irgendeine Ausbildung gemacht haben, sie finden ja keinen Job mehr, sie finden keine Anstellung. Wenn jemand sie fragt, was hast du denn gemacht in den letzten 20, 30 Jahren, ja, dann müssen sie sagen, sie waren im Knast. Damit ist die Sache schon wieder erledigt. Also, diese fehlende Perspektive, dieses Nicht-eingebunden-Sein, diese fehlende Möglichkeit, sich mit der Gesellschaft weiterentwickelt zu haben, das macht diesen Menschen doch sehr, sehr zu schaffen. Und ob dann so Übergangshilfen – die es ja gibt, aber die hören natürlich irgendwann auf –, ob die es schaffen, dass der Mensch dann auch wirklich auf eigenen Füßen stehend künftig ein normales Leben führen kann, das ist also eine große Herausforderung. Und da muss man in vielen Fällen ein Fragezeichen machen.
Armbrüster: Ich höre da bei Ihnen deutliche Skepsis heraus, schon seit Beginn dieses Gesprächs. Gibt es denn aus Ihrer Sicht auch positive Beispiele, gibt es tatsächlich Fälle, in denen das erfolgreich funktioniert hat?
"Es gibt viel zu wenig Therapeuten im Vollzug"
Friedrichsen: Ich kenne Fälle, in denen es erfolgreich war, wenn die Menschen nicht so lange in der Haft gewesen sind. Also, jemand, der nach zehn Jahren wieder die Möglichkeit hatte, in Freiheit zu kommen, da waren eigentlich so die Perspektive gar nicht so schlecht. Aber nicht bei 30, 40 oder 50 Jahren. Wenn man sich vorstellt, soll ein Mensch, der 50 Jahre im Gefängnis saß, danach ein besserer Mensch sein als vorher? Also, ich meine, das ist so illusorisch wie nur sonst etwas. Er war 50 Jahre zusammen oder 30 Jahre zusammen mit Menschen, die selbst nicht mit ihrem Leben zurechtkamen, die Straftaten begangen haben, er ist in Unmündigkeit gehalten worden, er konnte nichts machen, also auch für seine Weiterentwicklung. In der Regel gibt es auch viel zu wenig Therapeuten im Vollzug. Der Verwaltungsaufwand, die Bürokratie ist riesig und wenn man sich vorstellt, für wen man da alles was tun sollte, damit das irgendwie erfolgreich verläuft, das wäre ein solcher Aufwand, dafür fehlt das Geld und das Personal. Und die ganzen Tests, die da gemacht werden, oder die Therapien, die gemacht werden, kein Mensch weiß, ob die irgendetwas taugen überhaupt, ob die wirklich einen Erfolg bringen. Wenn Sie einen Psychiater fragen – normalerweise werden die gefragt wegen der Prognose –, dann sagt Ihnen jeder vernünftige Psychiater: Da kann man genauso gut eine Münze werfen, 50/50, es kann gutgehen oder es kann schiefgehen.
Armbrüster: Und wenn Sie sagen schiefgehen, das heißt dann, Dieter Degowski wird wieder kriminell?
Friedrichsen: Ja, die große Gefahr ist doch, dass er sofort wieder in Kreise kommt, in denen nichts anderes gemacht wird, als über kriminelle Dinge nachgedacht wird. Er kennt ja auch niemanden mehr, er hat doch keine Verbindungen mehr in die normale Welt, die ihn auffangen. Die Einzigen, die er kennt, das sind irgendwelche Kumpels von früher. Und ja, wie es dann mit denen zusammen weitergehen soll, du lieber Gott!
Armbrüster: Frau Friedrichsen, dann müssen wir zum Schluss noch einmal kurz sprechen über eine andere wichtige Seite dieses Verbrechens. 30 Jahre liegt diese Geiselnahme von Gladbeck zurück, knapp 30 Jahre, und keiner, der die Fernsehbilder damals gesehen hat, wird es wahrscheinlich vergessen können. Glauben Sie, dass so etwas wie damals heute noch mal möglich wäre? Geiselnehmer, die in einem Fluchtauto regelrechte Pressekonferenzen abhalten und die auch Journalisten zu Vier-Augen-Gesprächen dazu bitten?
"Ich hoffe, dass es zu solchen Situationen nicht mehr kommt"
Friedrichsen: Also, ich glaube, dieses Verbrechen damals oder diese Tat damals hat zu einem geführt, nämlich einem Nachdenken innerhalb der Journaille, dass man so etwas nicht macht, dass man also, selbst wenn man da tolle Bilder machen könnte und tolle Interviews führen könnte, dass das unmöglich ist. Das ist das eine. Aber ich hoffe auch wirklich inständig, dass man bei der Polizei gerade aus einem solchen Versagen, wie es damals ja an allen Ecken und Enden festzustellen war, so viel gelernt hat, dass es zu solchen Situationen nicht mehr kommt. Ich glaube, die Journalisten … Man kann so schimpfen über sie, wie man will, durchaus zu Recht, auf der anderen Seite aber waren sie diejenigen, die mit diesen Geiselgangstern gesprochen haben, die vielleicht sogar dafür gesorgt haben, dass es nicht zu einem größeren Blutvergießen gekommen ist, als es ohnehin dann stattgefunden hat. Diese zwei Geiselgangster, die saßen in Köln umringt von einer Menschenmenge und haben sich da produziert, oder auch an der Raststätte Grundbergsee, es war jede Menge Publikum da. Die waren beide bewaffnet, die hätten nur schießen brauchen. Das ist verhindert worden, weil die Journalisten sie abgehalten haben davon und gesagt haben, komm, wir zeigen euch den Weg zur Autobahn, oder macht das nicht, oder dass auch Geiseln entlassen wurden, rausgelassen wurden, Frauen und Kinder. Das hat man eigentlich den Kollegen von mir zu verdanken, weil die Polizei eigentlich nur hinterhergehechelt ist und sich derart töricht angestellt hat, dass man das heute kaum noch für möglich hält.
Armbrüster: Knapp 30 Jahre nach dem Geiseldrama von Gladbeck steht einer der beiden Täter, Dieter Degowski, offenbar kurz vor der Freilassung aus der Haft. Wir haben dazu gehört die Einschätzungen der Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen vom "Spiegel". Vielen Dank, Frau Friedrichsen!
Friedrichsen: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.