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Stefan Zweig: "Jüdische Erzählungen und Legenden"
Geist ist stärker als Gewalt

Die Bedrohung ist allgegenwärtig in Stefan Zweigs „Jüdischen Erzählungen und Legenden“. Die Juden werden erschlagen, vertrieben, beraubt. Sie leben in der Fremde und werden dort begraben, immer voll Sehnsucht, eines Tages heimzukehren ins gelobte Land. Ihre Kraft und Überlebensstärke liegt im Glauben und in der Utopie. Auch das macht Zweig deutlich.

Von Jörg Magenau | 07.07.2022
Stefan Zweig: "Jüdische Erzählungenund Legenden"

Zu sehen sind der Autor und das Buchcover
Stefan Zweig: "Jüdische Erzählungenund Legenden" (Buchcover: Suhrkamp Verlag / Foto imago / Allstar)
Pazifismus als Haltung hat in Zeiten des Krieges keinen leichten Stand. Pazifisten müssen sich dann gegen den Vorwurf rechtfertigen, Aggression und Gewalt einfach zuzulassen und den Angegriffenen nötigen Schutz und militärischen Beistand zu verweigern. So erging es auch dem Schriftsteller Stefan Zweig, über dessen radikalen Pazifismus im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg Thomas Mann 1952 rückblickend schrieb:
„Zweig schien bereit, die Herrschaft des Bösen zuzulassen, wenn nur das ihm über alles Verhasste, der Krieg, dadurch vermieden wurde. Das Problem ist unlösbar. Aber seitdem wir erfahren haben, wie auch ein guter Krieg nichts als Böses zeitigt, denke ich anders über seine Haltung von damals – oder versuche doch, anders darüber zu denken.“

Pazifismus und Judentum

Eine Sammlung mit sechs wenig bekannten „Jüdischen Erzählungen und Legenden“ macht nun deutlich, wie stark Stefan Zweigs Pazifismus sich aus dem Judentum heraus erklären lässt. In ihm steckt der tiefe Glaube daran, dass der Geist auf die Dauer stärker ist als Gewalt, weil nur eine friedliche Haltung Frieden erzwingt und Gewalt nichts anderes als neue Gewalt hervorruft. So ist es ein Rabbi, den Zweig in der Geschichte vom vergrabenen Leuchter diese Worte sprechen lässt:
„Jedoch hinter einem Räuber hetzt immer der andere, was einer gewalttätig genommen, nimmt ihm abermals Gewalt. Wie Rom über Jeruscholajim, so ist Karthago über Rom hergefallen. Wie sie uns beraubten, so hat man sie nun beraubt, wie unser Heiligstes ihr Heiligstes geschändet. Immer erzwingt Gewalt ihren Willen auf Erden, und Frommsein hat keine irdische Macht. Nur Unrecht zu dulden haben wir von Gott gelernt und nicht unser Recht mit der Faust zu erzwingen.“
Dabei weiß der Rabbi sehr wohl, dass Gewaltverzicht in einer ungerechten und rohen Welt wehrlos macht. „Wir können nicht kämpfen, wir Juden, nur im Opfer ist unsere Kraft“, lässt Zweig ihn sagen. Immer wieder werden in diesen Geschichten und Legenden Juden erschlagen und massenhaft dahingemordet. Schon das Jugendwerk „Im Schnee“, das den Band eröffnet, erzählt von der Flucht einer jüdischen Gemeinde vor den christlichen Flagellanten im 14. Jahrhundert, die in eine Winternacht und dort in den sicheren Tod führt. Auch das jüdische Mädchen, das in „Die Wunder des Lebens“ für einen alten Maler in Antwerpen zum Urbild der christlichen Muttergottes wird, hat als einzige ihrer Familie ein Pogrom überlebt und wird schließlich, als sie das Bildnis gegen aufgehetzte Bilderstürmer verteidigen will, in der Kathedrale erschlagen.

Weltbürger und Europäer

Der Weltbürger und überzeugte Europäer Stefan Zweig hat seine jüdische Herkunft nie ausgestellt und wäre, wie Herausgeber Stefan Litt in seinem Nachwort bemerkt, vermutlich befremdet gewesen von dieser Ausgabe jüdischer Erzählungen. In der wohlhabenden Wiener Familie, der er entstammte, spielte das eigene Judentum keine Rolle, in Zweigs Literatur allenfalls eine randständige. Erst in den dreißiger Jahren wurde er sich  - wie so viele Juden, die erst durch die Nationalsozialisten zu Juden gemacht wurden - der Traditionen bewusst, die ihn vielleicht doch stärker prägten, als ihm bis dahin klar war.

Es ist vor allem die letzte, längste und eindrucksvollste Erzählung des Bandes, die diese Verbundenheit deutlich macht. „Der vergrabene Leuchter“ setzt ein im 5. Jahrhundert nach Christus, in der Zerfallsphase des Römischen Reiches. Die jüdische Gemeinde Roms erlebt mit, wie die Vandalen die Stadt besetzen und ausplündern. Zum Raubgut gehört auch die Menora, der heilige Leuchter aus dem Tempel Salomons, den die Römer einst aus Jerusalem raubten. Solange dieser Leuchter keine neue heilige Ruhestätte gefunden hat, wird auch das jüdische Volk heimatlos und auf ewiger Wanderschaft in der Fremde bleiben.

Nicht festhalten, sondern verzichten

Unter den Juden, die den Raub beobachten, ist der siebenjährige Benjamin, der beim Versuch, den heiligen Gegenstand zu ergreifen, verunglückt und einen lahmen Arm behält. Achtzig Jahre später – nachdem der Kaiser von Byzanz die Vandalen besiegt und das Siegesgut nach Byzanz gebracht hat – ist er es, der als uralter Mann versucht, den Leuchter für die Juden zurückzugewinnen. Das gelingt auf Umwegen und nur, indem der Greis den Kultgegenstand vor der Welt verbirgt. Er versteckt und begräbt ihn auf alle Zeiten in Palästina und nimmt sein Geheimnis mit sich ins Grab.
Der Verzicht auf den Leuchter bedeutet dessen Rettung. Er bleibt, aber im Verborgenen. Dem liegt ein anderer, zutiefst jüdischer Gedanke zugrunde, den wieder der Rabbi ausspricht. Nämlich, dass es im Leben nicht um Dinge geht oder darum, sie festzuhalten, sondern um den Verzicht. Nicht ums Sichtbare, sondern ums Unsichtbare, das die Juden in ihrem Gott verehren. Und Gott allein wird entscheiden, ob der Leuchter eines Tages wiedergefunden werden soll oder nicht. So sagt dieser Rabbi über das jüdische Volk:
„Wir aber, wir einen und einzigen, hängen am Unsichtbaren und suchen einen Sinn über unserem Sinn. . [...] Aber stärker ist, wer sich dem Unsichtbaren bindet, als wer am Greifbaren hängt, denn vergänglich ist dieses, und jenes besteht. Und stärker ist der Geist auf die Dauer denn die Gewalt.“
Nebenbei zeigen die sechs Erzählungen dieses Bandes auch die literarische Entwicklung Stefan Zweigs, der als junger Mann noch ganz klassizistisch, sentimental und nicht ganz unkitschig schrieb, dann aber mehr und mehr an psychologischer Schärfe und historischer Erfahrung hinzugewann. So lässt sich nachvollziehen, wie aus einem in der Tradition verhafteten Talent ein großer Schriftsteller wurde, der das jüdische Schicksal in all seiner verzweifelten Vergeblichkeit zu fassen vermochte.
Stefan Zweig: Jüdische Erzählungen und Legenden.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 320 Seiten, 26 Euro.