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Geist und Macht im Dialog

Es war ein Arbeitsverhältnis, das zur Freundschaft wurde: Der Schriftsteller Günter Grass und der Politiker und ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt unterhielten einen intensiven Briefwechsel. Jetzt liegen die 288 Briefe gesammelt in einem 1230-Seiten-Buch vor. Eine Lektüre lohnt sich.

Von Martin Ebel | 02.06.2013
    Wir wollen mehr Demokratie wagen.

    Dieser Satz, von Günter Grass formuliert, von Willy Brandt 1969 in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler ausgesprochen, ist vielleicht der Höhepunkt einer Zusammenarbeit, die in modernen Staaten ihresgleichen sucht. Geist und Macht - sie kommen ja selten zusammen. Der Traum Platons, dass Philosophen regieren und Könige philosophieren, ist immer ein schöner Traum geblieben. Gelegentlich vorgekommen ist es dagegen, dass ein König den Rat eines Denkers sucht. Oder ein Denker die Nähe eines Mächtigen. Richtig gut funktioniert haben solche Beziehungen allerdings auch nicht. Alexander der Große hat sich nicht unbedingt nach den Lehren des Aristoteles gerichtet. Seneca, Erzieher Neros und, als der dann Kaiser wurde, sein Berater, wurde durch seine Position zwar vielfacher Millionär, später aber zum Selbstmord gezwungen. Näher an unserer Gegenwart ist die Paarung des Preußenkönigs Friedrich und des französischen Philosophen Voltaire. Auch die endete im Unfrieden. Am ehesten profitierte noch die Sprache des Königs von seinem Berater, denn das Französisch, das Friedrich schrieb, war durchaus verbesserungswürdig. Nur Goethe und sein Herzog hielten es fünfzig Jahre miteinander aus - wobei sich der Geheimrat als Minister verschiedener Portefeuilles auch ins Joch der tätigen Politik spannen ließ.

    Der vorliegende Briefwechsel spiegelt die Beziehung eines charismatischen Politikers mit einem berühmten Schriftsteller. Willy Brandt, der erste sozialdemokratische Bundeskanzler der zweiten deutschen Republik, und Günter Grass, der die deutsche Literatur 1959 mit der "Blechtrommel" wieder weltweit interessant gemacht hatte, hatten ein Arbeitsverhältnis, das zur Freundschaft wurde. Zwischen 1963 und 1992, vor allem aber in der intensivsten Phase zwischen 1968 und 1973, wechselten sie Briefe, Postkarten und Telegramme, insgesamt 288, die in dieser Ausgabe erstmals vollständig versammelt sind, auf 800 Seiten, die mit dokumentarischem Anhang, Fußnoten, Bildmaterial, Biografie und Register auf 1230 Seiten anschwellen und die bloße Korrespondenz zu einem zeitgeschichtlichen Kompendium machen.

    Ein dickes Buch. Lohnt sich die Lektüre? Ja, unbedingt! Gerade heute, wo die deutsche Politik ohnmächtig erscheint gegenüber dem Diktat der Märkte oder den Vorgaben aus Brüssel, wo Sachzwänge die Gestaltungsspielräume verengen, wo sich nur noch wenige Intellektuelle zu Wort melden, entmutigt vom Desinteresse der Regierenden und der vermeintlichen Alternativlosigkeit: Da ist es gut, sich in eine Zeit zurückzuversetzen, wo sich Politiker ernsthaft um Intellektuelle bemühten - und diese sich gern bemühen ließen. Ob gerade die Beziehung von Willy Brandt und Günter Grass eine "gelingende Liaison von Geist und Macht" war, wie der Herausgeber Martin Kölbel im Nachwort meint, wird man bezweifeln, wenn man die Briefe gelesen hat. Aber eine spannende, produktive Auseinandersetzung: Das war es.

    Ein unerwartetes Ergebnis der Lektüre ist ein neuer Respekt vor Günter Grass. Seit Langem sind ja große Teile des Publikums nur noch genervt, wenn von Grass wieder einmal ein politisches Statement oder gar ein politisches Gedicht zu vernehmen ist. Der Kredit des Literaturnobelpreisträgers in öffentlichen Angelegenheiten scheint verspielt - durch übermäßige Inanspruchnahme, restlose Abnutzung und nicht zuletzt das späte Geständnis, als Jugendlicher in der Waffen-SS gedient zu haben. Wer den Briefwechsel mit Willy Brandt liest, kommt nicht darum herum, den ungeheuren Einsatz und die rein physische Leistung des Schriftstellers im Dienste der SPD zu bewundern. Immerhin sind in diesen Jahren auch ein paar gewichtige Romane entstanden. Seine politische Besserwisserei hat Grass sich gründlich erarbeitet - was nicht heißen soll, dass sie damit auch verdient sei.

    Vom 12. März 1969 bis zum 26. September war Grass 60 Tage fast ausschließlich als Wahlkämpfer unterwegs. Während dieser 32.000 Kilometer-Reise besuchte er 79 Wahlkreise, in denen er auf 55 Abendveranstaltungen und 5 weiteren Großveranstaltungen zu rund 60.000 Menschen sprach. Er gab 46 Pressekonferenzen, machte etwa 25 Betriebs- und andere Besichtigungen in Zechen und Hüttenwerken, einem Atomforschungszentrum und dem Kloster Maria Laach, einem Bundeswehrflughafen und Lastwagen- und Rasenmäherwerken. Fünfzehnmal sprach Grass mit den Betriebsräten der von ihm besuchten Werke.

    So das Resümee eines Mitkämpfers in der Sozialistischen Wählerinitiative, des Historikers Eberhard Jäckel. Grass war der prominenteste Unterstützer aus dem Schriftsteller- und Intellektuellenlager, der ausdauernste, der erfinderischste und sicher der ehrgeizigste. Die «Sozialdemokratischen Wählerinitiativen» wollten der Arbeiterpartei neue Wählerschichten zuführen, was dringend notwendig, aber den misstrauischen Funktionären nur mühsam nahezubringen war.

    Grass wollte nicht nur organisieren, Mithelfer werben in Schriftsteller- und Intellektuellenkreisen, Reden überarbeiten und selbst reden, gern auch auf SPD-Parteitagen, was er auch mehrfach tat. Er wollte Einfluss nehmen auf die SPD und dann auf die Regierung. Auf die Programmarbeit, auf thematische Schwerpunkte, ja auch auf die Personalpolitik. Die Kandidaten für die Bundestagswahl 1969 hätten ein "erschreckend niedriges Niveau", klagt er. Immer wieder schlägt er Willy Brandt Namen für hohe Positionen vor. Etwa den Schriftstellerkollegen Siegfried Lenz als Bundespräsidenten. Nach dem Wahlsieg 1969 lässt er sich ausführlich über mögliche Minister aus.

    Zwar ist die Kabinettsliste noch nicht bekannt, aber sollte es Deine Absicht sein, ehrenwerte, aber für dieses Kabinett untaugliche Männer wie Egon Franke und Carlo Schmid zu berufen, dann möchte ich Dich bitten, zu bedenken, dass Du bei ohnehin schwacher Mehrheit dem politischen Gegner zwei hervorragende Angriffsflächen bietest. Ich weiß nicht, wie Dein Entschluss im Justizressort lautet, doch möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass nach der Besetzung Heinemann / Ehmke dieses Ressort keine zweitklassige Besetzung erlaubt. Dieter Posser wäre der geeignete Mann.

    Von Brandts "Schwäche in Sachen Personalpolitik" sprach Grass im Übrigen, als sei es eine von allen, auch dem gemeinten Selbst, anerkannte Tatsache. Conny Ahlers, der vom Spiegel kam und gegen Grass' Rat Leiter des Presse- und Informationsamtes wurde, war ihm besonders verhasst. Die Abneigung war gegenseitig. Ahlers fand, und da traf er wohl ins Schwarze:

    Grass hält offenbar alle außer sich für ziemliche Flaschen.

    Viele inhaltliche Anregungen klingen übrigens ausgesprochen modern, ihrer Zeit voraus. Sehr früh weist Grass Willy Brandt auf die Umweltpolitik als Zukunftsthema hin; da hat die Partei möglicherweise eine Chance verpasst. Das Thema "Steuerflucht der Großverdiener" taucht schon 1971auf. Von der Parteiorganisation verlangt er, wie heute die Piraten, mehr Transparenz: So sollte die Kandidatenfindung in den Wahlkreisen öffentlich erfolgen und nicht in Hinterzimmern. Eine Idee, die nicht verwirklicht wurde. Wie so vieles andere aus seinem Ideenkästlein.

    Ganz gewiss ging es Grass um Nähe zur Macht. Nicht um eigene Macht allerdings. Gern hätte er auch eine Funktion bekleidet, vielleicht nicht gerade ein Regierungsamt, schon gar nicht einen untergeordneten Beamtenposten. Aber eine Art außerordentlicher Emissär für besondere Aufgaben: Das wäre er schon gern geworden. Was ihm Brandt auf ein entsprechendes Ansinnen anbot - Goethe-Institute im Ausland eröffnen und Ähnliches - empfand er dann doch als zu unwürdig und brosamenhaft.

    Natürlich war und ist Grass Eitelkeit nicht fremd, um es vorsichtig auszudrücken. Sie ist vielen bedeutenden Persönlichkeiten nicht fremd; "Nur die Lumpe sind bescheiden", heißt es bei Goethe. Aber man muss ihm doch abnehmen: Es ging ihm um Größeres als seine eigene Person. Es ging ihm tatsächlich um die «Sache», also die SPD, die Herstellung von mehr Demokratie, von einer wirklichen Zivilgesellschaft in Deutschland - um den Nutzen für die Allgemeinheit, um das große Ganze. Was das war und was dafür nötig und richtig war, wusste eben einer immer ganz genau: Günter Grass.

    Wenn ich gelegentlich hart und ungeduldig kritisiert habe, dann hat mich begründete Sorge bestimmt.

    schreibt er an Willy Brandt. Grass' Sorgen sind, wie könnte es anders sein, immer begründet, und er hat immer recht. Etliche Schreiben fangen so oder ähnlich an:

    Der Grund meines Briefes ist - wie kann es anders sein - ein dringlicher.

    Ja, wie kann es anders sein! Auch Brandts Umgebung blieb von den Ratschlägen des Schriftstellers nicht verschont. Horst Ehmke, Egon Bahr, Herbert Wehner, der Berliner Bürgermeister Klaus Schütz, auch Verteidigungsminister Helmut Schmidt bekamen ungefragt mitgeteilt, was sie in einer bestimmten Situation am besten täten. Die waren darüber nicht amüsiert. Als Schmidt Kanzler wurde, war es mit Grass' Einfluss, überhaupt mit der ganzen Wählerinitiativen-Unordnung, sofort vorbei. Zu Karl Schiller, dem Wirtschafts- und später Superminister, hatte Grass ein besonders ambivalentes Verhältnis. Er hatte Respekt vor seiner Leistung, war sich Schillers Attraktivität bei bürgerlichen Wählern bewusst, störte sich aber massiv an seiner Eitelkeit. Zum verspäteten Bumerang wird die Aufforderung an Schiller, seine NS-Vergangenheit offensiv aufzuarbeiten.

    Hier ist Vorbeugen in jedem Fall mehr angebracht, als Nachhinken. Ich meine sogar, dass ein kritisches, ja analytisches Abrücken von der nationalsozialistischen Periode in seinem Leben Schiller in ein vorteilhaftes Licht rücken würde. Die Leute würden sagen, endlich ein Mann, der Mut hat und sich nicht, wie Kiesinger drum herumdrückt, endlich ein Mann, der Konsequenzen gezogen hat und als Sozialdemokrat versucht, wieder gutzumachen, was er nach 1933 verbockt hat.

    Liest man diese Sätze heute, wo Grass' eigene, gewiss lässliche, aber eben lange verschwiegene Jugendsünde, bekannt ist, bekommen sie ein spezielles Geschmäckle. Nachhinken ist hier noch stark untertrieben!

    Wie kam Grass überhaupt dazu, sich eine solche Beraterfunktion anzumaßen, noch dazu in diesem Ton? Das lag an seiner Persönlichkeit. Von einem Grass nimmt man nicht den kleinen Finger, ohne dass darauf eine erdrückende Umarmung folgt. Viel mehr als den kleinen Finger, oder vielmehr eine Schreibhand, hatte sich Brandt aber wohl nicht vorgestellt, als er 1961 erstmals eine Gruppe von Autoren zusammenrief, um Ideen auszutauschen und sich eventuelle ihrer Hilfe für den Wahlkampf zu versichern. Grass war beim ersten Treffen noch nicht dabei, er galt als unpolitischer, nicht zu integrierender Anarchist. Brandt sorgte aber dafür, dass er bald dazukam. Schnell erwies er sich als der aktivste und nützlichste der Geladenen. Auch auf dem Feld, auf das Brandt den Schriftsteller am liebsten beschränkt hätte: Formulierungshilfe. Willy Brandt konnte als gelernter Journalist durchaus mit Sprache umgehen und wusste, was sie im politischen Leben bewirken konnte. Von Grass erhoffte er sich sprachliche Blutzufuhr aus einem anderen Milieu, weitab der politischen Formeln. Und genau das konnte Grass liefern.

    Erstaunlich, welche Befähigung dieses literarische Alphatier zur «politischen Rollenprosa» offenbarte (so nennt es der Herausgeber Martin Kölbel) . Der Briefband zeigt detailliert, wie sich Grass in Brandts Redestil einzufühlen und mit glücklichen Wendungen, Bildern oder Vergleichen dem nüchternen Gedankenfluss sozusagen Stromschnellen einzubauen vermochte - Passagen, die den Hörer mitreißen, die er nicht mehr vergisst. Zum Teil bis heute. So jener Satz, der aus der Regierungserklärung von 1969 geblieben ist, wie haben ihn schon am Anfang zitiert -

    Wir wollen mehr Demokratie wagen.
    Mehr Demokratie: Das war, wenn man es auf zwei Wörter reduzieren will, das zentrale Motiv von Grass' politischem Engagement - und es war Brandts politische Mission. Hier fanden die beiden zusammen. Man darf nicht vergessen, dass Deutschland in den frühen Sechzigerjahren dominant obrigkeitsstaatliche Züge aufwies; und die Herrschaft der CDU schien so unverrückbar wie die Berliner Mauer. Grass wollte die Gesellschaft in allen Bereichen demokratisiert sehen, von den Betrieben über die Universitäten bis ins Privateste, in die Familien. In einer SPD, wie sie Brandt führte, sah er die politische Kraft, die das umsetzen wollte und konnte. Tatsächlich begann unmittelbar nach 1969 nicht nur eine neue, realistische Ostpolitik, sondern auch eine Reformwelle im Innern.

    Grass bewunderte den 14 Jahre älteren Brandt. Er sah in ihm den Gegenpol zum reaktionären Politikertypus, der bis dahin den Ton angegeben hatte - oft mit einer hell- bis dunkelbraunen Vergangenheit. Brandt dagegen war Emigrant, sein Lebenslauf unzweifelhaft nazifrei; er war weltläufig, vielsprachig, hatte Affinität zu Künstlern und Bohémiens. Er traf sich mit ihnen, hörte zu, war offen für ihre Ideen, tolerant auch gegenüber ihrer Kritik.

    Brandts Toleranz hat Grass fasziniert, bis zum Privaten, das in jener Zeit ja gerade als öffentlich entdeckt wurde. So hob er mehrfach die Tatsache hervor, dass Brandt seine aufmüpfigen Söhne, die politisch weit links standen und dass auch öffentlich kundtaten, nicht zur Ordnung rief. Brandt selbst hat seine Haltung so begründet:

    Was die Aktivitäten angeht, die meine Söhne als Angehörige der "Falken" oder auf eigene Faust entfalten, so wird dadurch das uralte Problem der Generationen aufgeworfen. Es mag bedauerlich sein, dass meiner Überzeugungskraft in der eigenen Familie Grenzen gesetzt sind, aber so ist es. Ich möchte als Familienvater nicht ohne Not mit Zwang "regieren", sondern vertraue darauf, dass meine Söhne wie andere junge Leute schon den richtigen Weg finden werden, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen gemacht haben.

    Grass hat Brandts Duldsamkeit als beispielhaft gelobt - und Brandt als Vater kräftig idealisiert. Denn dass sich hinter solcher Toleranz auch Kälte verbarg, hat er nicht gemerkt - in ihren Erinnerungen hat es Brandts Frau Rut beklemmend geschildert. Die Kehrseite von Brandts Toleranz, ein gewisser Hang zum Laissez-faire, ist Grass dagegen nicht entgangen. Immer wieder hält er dem Kanzler vor, seine Partei nicht zu führen, seine Ministerrunde nicht zu disziplinieren, den "Diven" und "Staatsschauspielern" darunter zu viel Raum für Extratouren zu lassen.

    Nähe war ein Problem für Brandt. Aber genau das, Nähe, wollte Grass. Immer mehr, als er bekam. Durch den Briefwechsel zieht sich die Klage, dass der Duz-Freund, der Brandt ab 1968 war, nie genug Zeit hatte, Termine platzen ließ, die Aussprachen zu kurz ausfielen und ohne Folgen blieben. Die Korrespondenz ist auch der Ersatz für Gespräche, die nicht zustande kamen.

    Es ist ein bemerkenswert asymmetrischer Austausch: Auf einen Brief des Politikers kommen drei, vier, oft fünf Briefe des Schriftstellers; während Brandts Schreiben kurz und nüchtern sind, bringt es Grass oft auf viele Seiten.

    Oft wird er enttäuscht; auf dringliche Vorschläge - Grass' Vorschläge sind immer dringlich - kommen zurückhaltende Reaktionen.

    Deine Sorgen sind weiterhin berechtigt. Aber ich kann nicht alles auf einmal machen.

    Eine typische Antwort des Kanzlers, der tatsächlich noch anderes zu tun hat. "Ich bin skeptisch" liest man häufig, wenn er höflich ablehnen will. Damit kontrastiert der offensive, fast aggressive Ton, den sich Grass herausnimmt. Nicht nur, dass es ständig heißt: "Du musst", "Du solltest", "es ist nötig dass"; er wirft seinem Regierungschef auch ganz konkret Passivität und Lustlosigkeit vor. Als er das einmal öffentlich macht - ausgerechnet 1973, kurz vor dem Ende der Kanzlerschaft, als sich auch Herbert Wehner, und das noch in Moskau, über den "lau badenden" Brandt mokiert hat -, ist es mit der Freundschaft beinahe vorbei. "Wir geraten in schweres Wetter", schreibt Brandt mit charakteristischem Understatement.

    Als der Kanzler dann zurückgetreten ist, schreibt ihm Grass:

    Lieber Willy, erst jetzt, nachdem sich die Folgen Deines Entschlusses faktischer auszuwirken beginnen, merke ich, wie stark meine politischen Bemühungen während der zurückliegenden Jahre an Dein Bemühen gebunden gewesen sind und wie auch ich nun - nicht etwa reflexhaft, sondern weil mit Deinem Rücktritt der sozialdemokratischen Politik eine für mich unerlässliche Dimension verloren zu gehen droht - gleichfalls zurücktrete.

    Wovon bloß?, fragt man sich. Fast ergreifend allerdings die Fortsetzung, wo einer ins Allgemeine wendet, was ihn ganz persönlich im Tiefsten getroffen hat:

    Vielleicht ist Dir nicht so recht bewusst, dass alle Verletzungen, die Dir während der letzten Wochen zugefügt worden sind, von einer Vielzahl Menschen wie Verletzungen der eigenen Existenz empfunden wurden; und das nicht aufgrund oberflächlicher oder gar sentimental-mitleidiger Identifizierung, sondern weil Deine Art, Politik human zu betreiben und Toleranz als ihre Voraussetzung zu werten, im Verlauf der letzten Jahre (besonders bei der jungen Generation) Allgemeingut geworden ist.
    Der nervige Grass, der präpotente, ständig Katastrophen und Apokalypsen witternde und letzte Warnungen ausstoßende "Dreinredner" unserer Jahre, der ist auch in diesem Briefwechsel schon voll ausgebildet. Aber es gibt auch den empfindsamen Grass, der ähnlich wie Brandt zu Anfällen von Melancholie neigte (bei Brandt gingen sie bis zur Depression), solche Anfälle aber entweder lustvoll zelebrierte oder sie mit Arbeit und Aktivität niederrang. Grass erkannte diese Verwandtschaft mit Brandt, in dem er so etwas wie eine Vaterfigur gefunden zu haben meinte, was ihn nicht hinderte, immer wieder den rebellischen Sohn herauszukehren. Einen besseren Vater für ein besseres Deutschland. Es muss gesagt werden: dass Deutschland heute die Nation ist, die man selbst mit einiger Verwunderung betrachtet, ein freundliches, offenes, ja lockeres Land: Das ist natürlich Brandt und seiner Koalitionsregierung, aber ein wenig auch diesem ewigen Schieber, Mahner, Nörgler und Nerver Grass zu verdanken.

    Buchinfos: Willy Brandt, Günter Grass: "Der Briefwechsel" Herausgegeben von Martin Kölbel, Steidl, 1230 Seiten, Preis: 49,80 Euro.