Marina Schweizer: Meine erste Frage an Sie, ist Spitzensport ohne Zuschauer sinnlos?
Franz Bockrath: Ja, sinnlos, auf jeden Fall fehlt dem Spitzensport dann ein ganz zentrales Element. Also die Zuschauer gehören seit den Zwanzigerjahren, also seit der Weimarer Republik, eigentlich zum Sport dazu. Und heute kann man das zwar ein bisschen kompensieren durch die Medien, die das dann auffangen können. Aber das Erleben vor Ort, das ist natürlich dann sehr stark beeinträchtigt, wenn die Zuschauer nicht anwesend sind.
Schweizer: Diese Emotion, die kann man ja aber eben durch eine reine Medienübertragung nicht übermitteln. Es gibt ja ein Publikum, zwar bei der Medienübertragung, aber eben nicht in der Kulisse. Wie wichtig ist diese Kulisse?
Bockrath: Ja, die Kulisse ist sehr wichtig beim Sport, und der Sport lebt auch ein Stück weit vor dieser Kulisse. Das sieht man auch daran, dass die Fans - jedenfalls bestimmte Gruppierungen unter den Fans - gerade aktuell versuchen, ihr Recht gleichsam einzuklagen, indem sie sich nicht nur als Kulissenschieber, sondern als aktiver Bestandteil der Kulisse sehen. Also die das Event gleichsam mitgestalten durch Choreographien oder durch andere Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Spiel, um sich gleichsam selber sichtbar zu machen. In diesem Kontext als Teil dieses Ereignisses aufzutreten.
Publikum macht das Erlebnis interessanter
Schweizer: Würden Sie sagen, dass das zutrifft, dass das Publikum auch wirklich Teil des Wettkampfgeschehens ist?
Bockrath: Ja, es macht zumindest das Erlebnis insgesamt interessanter für alle Beteiligten. Das sieht man an den Geisterspielen, wenn sie stattfinden. Es fehlt eben halt dieses wichtige Moment. Es ist wie eine Rückversicherung eigentlich nach außen. Die Zuschauer kommentieren ja auch das Spiel durch entsprechende Reaktionen, jetzt nicht verbal - verbal insofern, als dass sie vielleicht singen oder sich aufregen, und schreien. Aber vor allen Dingen ist das wie der griechische Chor, vielleicht in vergangenen Zeiten in der Antike, eine Form der Kommentierung des Ereignisses.
Schweizer: Und warum braucht der Sport das unbedingt? Man könnte ja auch einfach sagen, der Wettkampf findet doch statt. Und es wird ja normalerweise auch vermittelt, dass es um den sportlichen Wettkampf und die Spannung innerhalb des Wettbewerbs geht.
Bockrath: Ja, das stimmt. Man könnte jetzt natürlich versuchen, die Ereignisse so weiterlaufen zu lassen, die Ergebnisse entsprechend zu registrieren, aufzuzeichnen. Man könnte auch von Abstiegsregelung treffen, aber das, was den Sport auszeichnet, das, was, ich nenne es mal mit dem Begriff, so etwas wie eine emotionale Elektrizität im Stadion. Das fehlt natürlich, und das ist doch ein wesentliches Merkmal des Sports. Man kann den Sport registrieren, man kann ihn in Tabellen auflisten und so weiter. Das ist sicherlich auch ein gutes Korrektiv, um zu sehen, wie eine Mannschaft beispielsweise steht im Wettbewerb mit den anderen Teams. Aber das ist sozusagen nur die äußerliche Fassade, die Emotionalität, die vor allen Dingen im Stadion spürbar wird. Das ist dasjenige, was die Zuschauer sehen möchten, was sie erleben möchten. Sie möchten auch dabei sein, ja, und auch ein Stück weit daran teilhaben können und das wird durch eine ganze abstrakte Form eben verunmöglicht.
"Man möchte dazugehören, man möchte dabei sein"
Schweizer: Also ist das eine Illusion, dass es beim Sport allein um den Wettkampf auf dem Platz geht?
Bockrath: Ja, das würde ich sagen, also sonst würde er eben halt nicht diese große Anziehungskraft haben. Es gibt, glaube ich, ein sehr großes Gemeinschafts-Begehren, jetzt gerade in der heutigen Zeit, wo Gemeinschaften immer stärker im Abnehmen begriffen sind. Man möchte dazugehören, man möchte dabei sein. Das Verfolgen von Sportereignissen übernimmt die Funktion fast eines biografischen Fixpunktes. Ja, die Wettbewerbe tauchen regelmäßig auf, und man kann sich orientieren. Der Sportkalender ist vorgegeben und viele richten ihr Leben danach aus. Es gibt Menschen, die fahren nicht in Urlaub, wenn wichtige Sportereignisse stattfinden. Und gleichzeitig ist der Sport aber im alltagsweltlichen Sinne konsequenzenlos. Das heißt, wenn ein Team absteigt, mag das traurig sein. Aber der Betrieb läuft ja weiter. Also in gewisser Weise ist der Sport auch harmlos. So emotional aufgeladen wie er ist, ist er gleichzeitig aber auch ein Stück weit harmlos. Im alltagsweltlichen Sinn zumindest.
Schweizer: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sehen Sie ja wirklich das Publikum als Teil des Ganzen auch das Stadion oder Hallenerlebnis als Gesamtkonstrukt. Was sagen Sie denn denen, die bisher diesen Eventcharakter von Sportveranstaltungen eher mit spitzen Fingern angefasst haben?
Bockrath: Ja, das gibt es natürlich, und das ist natürlich auch zu hinterfragen, was dort stattfindet, also gerade innerhalb der Ultraszene, die ja keineswegs homogen ist, gibt es daher gegenläufige Tendenzen. Die einen verstehen sich schon als diejenigen, die sozusagen die echten Fans sind, die den Verein bedingungslos unterstützen. Gleichzeitig gibt es aber auch sozusagen die Fans, die mit einem gewissen Augenzwinkern auf die Ereignisse reagieren und beispielsweise die Kommerzialisierung auch selbstkritisch sehen. Denn sie sind ja auch, wenn sie daran teilhaben möchten, an diesem Ereignis auch Teil dieser Eventisierung und auch der Kommerzialisierung.
Und Teil dieses Systems zu sein, bedeutet natürlich auch, die ganze Widersprüchlichkeit des Systems mitzutragen. Und das zerreißt ein Stück weit auch die Fanszene im Moment, weil, da muss man auch gucken, inwieweit dort vielleicht eine Person wie Hopp sich tatsächlich als jemand eignet, auf dem man dann negative Energien konzentrieren kann, wenn man gleichzeitig bedenkt, dass ein Verein wie Borussia Dortmund selber eine Aktiengesellschaft ist, die gegenüber ihren Shareholdern verpflichtet ist.
Eventisierung nicht eindimensional betrachten
Also da ist kein großer Unterschied, da würde ich tatsächlich sagen, Geld stinkt an der Stelle nicht. Aber die Fans sehen das eben halt mit einem gewissen nostalgischen Blick und versuchen, dort eine romantisierende Sichtweise auf den Sport zu legen, die ja auch ihre Berechtigung hat. Aber in der heutigen Zeit vielleicht nicht mehr so angemessen ist. Man muss schon sehr genau hinschauen. Insofern ist es schon richtig, dass die Eventisierung eben halt nicht eindimensional gesehen wird, als sozusagen etwas, was in der heutigen Zeit noch funktioniert. Also das Bedürfnis, was sich darin ausdrückt, ist sicherlich ernstzunehmen. Aber es ist auch kritisch zu hinterfragen.
Schweizer: Die Eventisierung ist ja vielleicht auch ein ganz gutes Stichwort, wenn wir an Biathlon denken. Wir sprechen ja hier und heute auch nicht nur über Fußball. Biathlon lief ja jetzt auch lange weiter. Und es war auch schon am vergangenen Wochenende so, dass die Wettkämpfe dann ohne Publikum stattgefunden haben. Wir wissen auch, dass Biathlon als sehr fernsehaffine Sportart angedacht wurde ursprünglich. Da haben zum Beispiel einige Sportlerinnen und Sportler den Eindruck erweckt, dass sie eigentlich ganz froh waren, dass sie am Schießstand ihre Ruhe hatten. Sehen Sie da auch wirklich gravierende Unterschiede von Sportart zu Sportart? Was die Wichtigkeit des Publikums angeht?
Bockrath: Ja, das ist sicherlich so. Gleichwohl würde ich sagen, wie ich es eingangs formuliert habe, der moderne Sport vom Zuschauer sportlich mehr abzulösen. Und das Ganze wird natürlich durch die Medien noch potenziert. Also, es würde den Sport in der heutigen Form nicht geben, wenn es den Zuschauersport nicht gegeben hätte und das Ganze eben halt durch die entsprechende mediale Verbreitung noch angereizt worden ist.
"Das Publikum hat immer schon einen großen Stellenwert"
Schweizer: Jetzt hat diese Woche einiges Nachdenken stattgefunden, nachdem das Publikum ein Fernsehpublikum wurde und wirklich Geisterspiele überall stattgefunden haben. Welche Konsequenzen erwarten Sie denn nun aus dieser Woche auch, was denn Umgang vielleicht auch der Verbände mit dem Publikum angeht. Könnte das Ganze vielleicht auch wieder einen größeren Stellenwert bekommen?
Bockrath: Ja, das Publikum hat immer schon einen großen Stellenwert, jetzt vielleicht im Fußball, um das Beispiel noch mal zu nehmen, vielleicht nicht so besonders hoch, weil mittlerweile die finanziellen Mittel durch andere Einnahmen generiert werden, vor allen Dingen durch Fernsehrechte.
Schweizer: Aber auch durch Tickets
Bockrath: Aber auch durch Zuschauer, vor allen Dingen in der Zweiten und dann auch in der in der Dritten Liga. Aber es gibt natürlich auch andere Sportarten, die sehr stark abhängig sind von Zuschauerzuspruch. Also denken wir ans Eishockey, denken wir an Hallenhandball, Basketball, Volleyball. Das sind Sportarten, wo die Zuschauer eben auch finanziell gesehen sehr wichtig sind. Aber ich glaube tatsächlich, dass das sozusagen diese Wichtigkeit noch mal in ein neues Blickfeld geraten wird. Und zwar nicht nur vor dem Hintergrund, dass man hier Einnahmen generieren möchte, sondern dass man schon erkennt, dass Sport ohne Zuschauer halt nicht so spannend ist.
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