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Geisterstädte und Geisterfabriken
Chiles vergangene Salpeterblüte

Ob als Dünger oder Schießpulver: Salpeter machte Chile einst reich. Das begehrte Salz wurde in alle Welt exportiert. Während die Männer in den Werken schufteten, organisierten die Frauen als Buchhalterinnen oder Wäscherinnen den Alltag in der Atacamawüste. Als Salpeter synthetisch hergestellt werden konnte, endete die Ära. Zurück blieben Geisterstädte.

Von Gaby Mayr |
    Gebäude der ehemaligen Salpeterwerke Humberstone- und Santa Laura in der chilenischen Atacamawüste. Sie sind heute UNESCO-Weltkulturerbe.
    Gebäude der ehemaligen Salpeterwerke Humberstone- und Santa Laura in der chilenischen Atacamawüste. Sie sind heute UNESCO-Weltkulturerbe. (imago stock&people)
    Valparaíso ist Chiles bunte Hafenstadt am Pazifik.
    Auf steilen Hügeln drängen sich farbenfrohe Häuser, viele Mauern sind mit Wandbildern bemalt. Unten in der Bucht - und das heißt: mitten in der Stadt - liegen Containerbrücken und Kreuzfahrtanleger direkt nebeneinander. Und damit die Menschen sich nicht so sehr plagen müssen beim ständigen Hügelauf, Hügelab, brummen und scheppern Standseilbahnen die Anhöhen hinauf und hinunter.
    Oben auf dem Cerro Alegre, dem "Fröhlichen Hügel", steht gleich neben dem Eingang zum Aufzug eine prächtige Villa mit Türmchen, Spitzdach und Erkern, die Fassade strahlend weiß mit lindgrünen Putzbordüren, mit Karomustern in Schwarzweiß und Rotweiß, und mit Figuren, die den Säulen beim Stützen des Vordachs helfen. Kein Wunder, dass man sich beim Palacio Baburizza an europäische Architekturträume vom Beginn des 20. Jahrhunderts erinnert fühlt, sagt Kunstkenner Carlos Las Tarrias.
    "1906 wurde Valparaíso von einem großen Erdbeben und dem anschließenden Feuer völlig zerstört. In der Hafenstadt lebten viele Ausländer, und weil es eine Zeit großen Reichtums war, kamen für den Wiederaufbau Architekten aus Europa.
    Dieser Palacio enthält Elemente von Jugendstil, Art Déco und Modernismo. Die Architekten dieses Gebäudes wurden in Wien ausgebildet und fühlten sich der Secession verbunden."
    Valparaiso in Chile, fotografiert am 23.11.2015.
    Farbenfrohe Häuser in Valparaiso, Chile. Nach einem Erdbeben 1906 kamen Architekten aus der ganzen Welt für den Wiederaufbau in die Stadt. (imago stock&people)
    Salpeter als Dünger und zur Herstellung von Schießpulver
    Vom damaligen Reichtum zeugen noch heute viele Gebäude in Valparaíso. Denn es war die Zeit des Salpeterrausches. Das begehrte Salz wurde in alle Welt exportiert: Als Dünger und zur Herstellung von Schießpulver.
    Auftraggeber für den Palacio war ein Salpeterunternehmer aus Italien. Nach seinem Tod kaufte ein anderer Salpeterbaron, Pascual Baburizza aus Kroatien, die prächtige Residenz.
    Er füllte seinen Wohnsitz gleich noch mit Kunst aus Europa, erzählt Kurator Carlos Las Tarrias.
    "Er reiste jedes Jahr im europäischen Sommer nach Europa und lebte dann in der Schweiz, in Sanatorien. Denn er litt zehn Jahre lang an Tuberkulose, bis er schließlich daran starb. Bei seinen Europareisen kaufte er die Bilder dieser Ausstellung."
    Die sehenswerte Kollektion mit einem Schwerpunkt auf impressionistischen Werken wird ergänzt durch Bilder chilenischer Künstler.
    Das Geld, von dem die - oft europäischen - Salpeterbarone ihre prächtigen Domizile erbauten, wurde in der steinigen, staubigen Atacamawüste in Nordchile erarbeitet. Dort lagert das weltweit größte Salpetervorkommen.
    Bei unserem Treffen im Palacio Baburizza hatte Kunstkenner Carlos Las Tarrias schon vom schweren Leben in der Wüste erzählt:
    "Die Ausbeutung der Arbeiter durch die Salpeterunternehmen war so groß, dass in Nordchile sozialistische und anarchistische Bewegungen entstanden."
    Die Arbeit im Salpeterwerk: Ein Knochenjob
    Draußen in der Pampa sprengten die Arbeiter das salpeterhaltige Gestein los und transportierten es mit Maultierkarren oder später in Eisenbahnwaggons in die Fabrikanlagen. Dort wurden die Brocken zerkleinert, und die begehrten Salpetersalze mit unterschiedlichen Verfahren, zum Beispiel mit heißem Wasserdampf, herausgelöst. Ein Knochenjob für die Männer. Die Frauen organisierten den Alltag mitten in der Wüste und arbeiteten als Wäscherin, Buchhalterin oder im Hospital.
    Eingang zum Humberstone-Salpeterwerk-Museum. Bereits 1889 gehörten die Humberstone-Werke zu den größten Salpeterwerken in Chile. Anfang der 30er Jahre brach der Salpetermarkt zusammen. Viele Arbeiter wurden entlassen, um die Mine lebten damals bis zu 3.700 Menschen. Die Salpeterwerke wurden zwar weiterbetrieben, da aber der Absatz von Salpeter sich schwieriger gestaltete, wurde Humberstone 1961 geschlossen. Seit Juli 2005 gehört Humberstone zum Weltkulturerbe der UNESCO. (Aufnahme vom 17.02.2006). Foto: Jürgen Darmstädter +++(c) dpa - Report+++ |
    Eingang zum Humberstone-Salpeterwerk-Museum. Bereits 1889 gehörten die Humberstone-Werke zu den größten Salpeterwerken in Chile. (Jürgen Darmstädter/dpa)
    Stunde um Stunde fahren wir auf der Ruta 5 Norte durch die Atacama - die Route 5 Nord ist auch als Panamericana bekannt. 1.700 Kilometer nördlich von Valparaíso liegen die ehemaligen Salpeterorte Humberstone und Santa Laura: einsam, mitten in der Pampa. Geisterfabriken, daneben Geisterstädte, vor hundert Jahren für Tausende Menschen gebaut.
    Wie ein riesiges, klobiges Schiff, aufgebockt auf dem Helgen und mit schlankem Schornstein, ragt die einstige Auswaschanlage von Santa Laura in den knallblauen Himmel. Das Ungetüm wirkt zugleich filigran und durchscheinend, denn an vielen Stellen ist nur das Metallgerüst erhalten. Teile der Wellblechverkleidung an den Seiten und der Dachabdeckung sind verschwunden - vielleicht hinuntergefallen, vielleicht als Rohstoff gestohlen, wer weiß das schon. Die Anlage erhebt sich rotbraun im gleißenden Sonnenlicht, denn was von ihr übrig geblieben ist, darüber macht sich der Rost unerbittlich her.
    Die UNESCO hat gedroht, dem Salpeterdenkmal den Status als Welterbe abzuerkennen, weil zu wenig für seinen Erhalt getan werde. 2017 soll nun mehr investiert werden.
    Neben den spektakulären Industrieanlagen sind in Santa Laura und Humberstone auch die Ortschaften erhalten: Enge Unterkünfte - getrennt für Arbeiterfamilien und allein lebende Männer. Häuser für die Familien der leitenden Angestellten. Verwaltungsgebäude, Theater und Gesundheitsstation. Manche Bauwerke sind in einem ähnlich erbärmlichen Zustand wie die Auswaschanlage, andere sind sorgfältig restauriert.
    In Humberstone laufen wir im einstigen Hotel über gepflegte Dielen. Holz gab es damals reichlich, erzählt Guillermo Ross-Murray Lay-Kim. Der alte Mann forscht seit langem zur Salpeterzeit.
    "Damals gab es den Panama-Kanal noch nicht. Die Schiffe, die den Salpeter abtransportierten, mussten Chiles Südspitze umfahren. Dort war es oft sehr stürmisch. Deshalb musste man den Schiffsladeraum füllen, um Gewicht zu bekommen. Man nahm dafür Douglasfichte. Dieses Ballastholz wurde dann verschenkt oder billig verkauft."
    Bereits mit sieben oder acht Jahren in die Salpeterproduktion
    Wir haben Guillermo Ross-Murray Lay-Kim in Iquique getroffen, im Regionalmuseum am Paseo Baquedano. Der Endsiebziger mit Vorfahren aus Schottland, China und Frankreich arbeitet in einem fensterlosen Raum, die Regale an den Wänden sind bis zur Decke mit Papierstapeln gefüllt.
    Im Hafen von Iquique wurde das weiße Gold aus den Salpeterorten der Region verschifft. Auch hier profitierte man vom Ballastholz, davon zeugen die repräsentativen Häuser aus der Salpeterära. Sogar auf den Gehsteigen des Paseo Baquedano läuft man auf Holzdielen.
    In Humberstone und Santa Laura waren polierte Holzfußböden nicht der einzige Luxus, es gab zum Beispiel auch ein Schwimmbecken und man konnte Tennis spielen. Solche Annehmlichkeiten waren allerdings nicht für alle da. Denn in den Salpeterorten herrschte eine strikte Hierarchie.
    "In den Salpeterorten lebten alle getrennt: die Arbeiter, die Angestellten und die Leute wie Ingenieure, der Arzt und der Geschäftsführer. Arbeiterkinder durften nicht in die gleichen Klubs gehen wie Angestelltenkinder. Die Schule mussten sie früh verlassen. Mit sieben, acht Jahren arbeiteten sie in der Salpeterproduktion. Die Kinder der Bessergestellten gingen in den Städten zur Schule."
    Ein alter Ofen in einer stillgelegten Salpeterfabrik in Chile. Die Fabrik ist inzwischen Unesco-Weltkulturerbe.
    Ein alter Ofen in einer stillgelegten Salpeterfabrik in Chile. Die Arbeit in den Werken war ein Knochenjob. (imago/imagebroker )
    Anfang des 20. Jahrhunderts begannen deutsche Wissenschaftler, synthetischen Salpeter zu entwickeln. Das Salz aus Chile konnte bei den Preisen bald nicht mehr mithalten, 1930 war die Salpeterära vorbei. Die Fabriken in der Wüste wurden nach und nach geschlossen, die Menschen zogen weg. Sie ließen intakte Kleinstädte zurück, die niemand mehr brauchte.
    Viele Jahre später, nach dem Militärputsch von 1973 gegen die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende, nutzten die neuen Machthaber einige der verfallenden Salpeterorte als Gefängnis für politische Gegner.
    Heute gibt es noch eine letzte Kleinstadt, wo die Menschen vom weißen Gold leben: María Elena.
    "Die Salpeterleute können viele Geschichten erzählen"
    Breite, asphaltierte Straßen, gesäumt von einfachen, niedrigen Häusern mit Vordächern aus Wellblech als Schutz gegen die Sonne. Kaum ein Mensch ist unterwegs, nur die in Chile allgegenwärtigen Hunde schleichen herum. Es ist Samstagnachmittag.
    Ein junger Mann spricht uns aus seinem Kleintransporter heraus an - wir fallen offenbar auf: "Hallo, guten Tag, ich heiße Jean Pierre Contreras. Ich bin 25 Jahre, geboren und aufgewachsen in María Elena. Meine Eltern sind auch hier geboren und aufgewachsen. Ein Großvater hat dreißig Jahre lang hier gearbeitet, mein Vater war 36 Jahre Minenarbeiter, ich arbeite in der Salpeterfabrik, seit ich 18 bin. Wir sind Mineros."
    Die Minenarbeiter von María Elena arbeiten heute nicht mehr in der alten Fabrik des Ortes, sondern zwanzig Autominuten entfernt in Coya Sur, in einem modernen Werk mit weniger Beschäftigten.
    Und wie lebt es sich in so einer abgelegenen Kleinstadt?
    "María Elena bietet nichts Besonderes, aber junge Leute können hier gut leben. Wir haben alles, was man braucht. Wir müssen nicht neidisch sein auf die größeren Städte. Es gibt einen Supermarkt und Sportmöglichkeiten. María Elena ist ruhig. Aber die Salpeterleute können viele Geschichten erzählen."
    Jetzt seien alle Bewohner in ihren Häusern, erklärt Jean Pierre Contreras, wegen der Sonne. Aber wenn die untergeht, seien Jung und Alt auf der Straße. Und wir müssten uns unbedingt noch das Salpetermuseum ansehen, dort drüben in der ehemaligen Schule, sagt der junge Mann, bevor er sich verabschiedet.
    Als wir María Elena verlassen, schon in der Wüste, fahren wir unter einem großen Schild hindurch, wie es über Autobahnen angebracht ist: "Eine gute Reise wünschen die Familien der Pampa. Wir sind Leben in der Wüste."