"Wir haben gedacht: Was 'Totus Tuus' macht, ist der volle Weg des Glaubens! Wir gehören zu den wenigen, die wirklich auf die Muttergottes hören. Die arme Muttergottes redet sich den Mund fusselig, und keiner hört sie. Aber wir leben das wirklich!", sagt Elisabeth. Das ist nicht ihr richtiger Name. Die 35-Jährige will nur im Schutz der Anonymität mit dem Deutschlandfunk sprechen. 14 Jahre war Elisabeth Mitglied von "Totus Tuus", zusammen mit ihren vier Geschwistern.
"Zu viel Lachen, zu viel Fröhlichkeit"
"Totus Tuus" oder "Ganz dein" - das war von 1978 bis 2005 der Wahlspruch des damaligen Papstes Johannes Paul II.. Noch während seines Pontifikats übernimmt eine Gruppe junger Christinnen und Christen seinen Wahlspruch als Namen für ihre Gemeinschaft: engagierte Frauen und Männer, die Kinder-Camps und Musikabende organisieren oder in Pfarrgemeinden Vorbereitungs-Treffen für Firmlinge. Ihr Leiter ist Leon Dolenec. Der Kroate baut in Herne eines der Zentren von "Totus Tuus" auf. Besonders beliebt sind die Wallfahrten nach Medjugorje in Bosnien-Herzegowina. Dort soll 1981 die Muttergottes erschienen sein und zu Umkehr, Buße und Fasten gemahnt haben.
Elisabeth erinnert sich an ihre erste Wallfahrt: "Erst war mir das alles zu viel: Zu viel Lachen, zu viel Fröhlichkeit, zu viel Angesprochen-Werden, schon im Bus - irgendwie übergriffig! Ich war glücklich in meinem Leben, wollte tanzen, mich verabreden, Spaß haben. Aber innerlich hat es etwas mit mir gemacht: Dass andere in meinem Alter so eine Beziehung zu Gott haben können! Bin ich zu verschlossen für Gott? Gibt es andere Wege, sich ihm mehr zu öffnen?"
Elisabeth lässt sich mitreißen. Die jungen Leute beten viel, jeden Tag mehrere Rosenkränze. Zweimal in der Woche fasten sie, einmal im Monat gehen sie zur Beichte. Sie treffen sich regelmäßig mit ihrem Leiter und machen fast jedes Wochenende Evangelisierungs-Einsätze in ganz Deutschland.
"Du bist lau"
"Es gehört zu den Merkmalen von 'Totus Tuus', ein sehr starkes religiöses Leistungsdenken zu pflegen", erklärt Benjamin Leven. "Das heißt, es wird konstant ein gewisser Druck aufrecht gehalten, Leistungen zu bringen in der Mission und im Gebet."
Leven ist promovierter Theologe und Redakteur bei der "Herder-Korrespondenz". Er veröffentlicht im Juni und Juli 2019 in der Monatszeitschrift vier Artikel zu "Totus Tuus" und bezieht sich mit seiner Aussage auf eine Mail an alle Mitglieder, die sich selbst TT nennen. Geschrieben wurde die Mail von einem Angehörigen der Gemeinschaft, der besonders aktiv ist.
In der Mail heißt es: "Schwestern und Brüder, (…) Lebe ich meine Berufung als TT? Setze ich alle meine Möglichkeiten für die Evangelisierung ein? Oder ist mir die Evangelisierung mit der Zeit irgendwie lästig und unbequem geworden, bleibe ich lieber zu Hause, als mich mit Firmlingen rumzuquälen? (...) Der Teufel hasst Gemeinschaften, die Maria geweiht sind und versuchen, Seelen zu retten, und er setzt ein altbewährtes Gift ein, das die Namen trägt: Bequemlichkeit, LAUHEIT, Gleichgültigkeit."
Benjamin Leven: "Du bist lau. 'Lau' ist ein Begriff, der gerne verwendet wird. Du bist schwach, du strauchelst. Du musst dich stärker bemühen. Du musst dich anstrengen für das Gottesreich!"
Zwischen Euphorie und Überlastung
Kerstin erzählt: "Ich war schlapp, antriebslos, war im Beruf sehr gefordert. Meldete mich ab von den Einsätzen am Wochenende und hatte ein wahnsinnsschlechtes Gewissen. Ich krieg nichts mehr hin! Meinen Alltag nicht und das Beten auch nicht!"
Kerstin - auch das ein Deckname - ist heute 34. Sie kommt schon als 14-Jährige zu "Totus Tuus". Ihr Vater hat sich das Leben genommen. Dadurch sei sie schnell erwachsen geworden, gehörte nicht zu den Beliebtesten in ihrer Klasse, erzählt sie rückblickend. Bei "Totus Tuus" trifft sie zum ersten Mal auf Menschen, die sie so nehmen wie sie ist. Mit 15 entscheidet sich Kerstin, Mitglied der Gemeinschaft zu werden und legt ein Versprechen ab, erst für ein Jahr, später für drei Jahre. Versprochen wird dabei Folgendes:
"Die vollkommene Hingabe an Jesus durch Maria zu leben. Und: Sein Leben für die Neu-Evangelisierung hinzugeben, soweit dies die alltäglichen Pflichten und Aufgaben zulassen."
Aus diesem Versprechen, so Benjamin Leven, entwickelt sich im Laufe der Zeit ein Wechselbad der Gefühle:
"Euphorie: Du bist etwas ganz Besonderes, ihr seid Teil einer speziellen Mission der Mutter Gottes für die Welt, für die Gesellschaft die Seelen zu retten. Das macht dich erst einmal wichtig und bedeutsam. Und dann Depression: Wie wertvoll ist eine Seele im Vergleich zu deinen Kopfschmerzen? Oder der Erkältung, die du jetzt hast? Das heißt, die Betroffenen stehen unter einem großen psychischen Druck. Und dieser psychische Druck kann krank machen."
Elisabeth, die erst so skeptisch war, wurde zu einer der engagiertesten TTs. Auch sie spricht von Druck. Der Einzelne, sagt sie, zähle nichts, die Gemeinschaft sei alles. Sie hat zwei Zusammenbrüche. Matthias Schulte, Pressesprecher von "Totus Tuus", antwortet auf den Vorwurf schriftlich:
"In unserer Gemeinschaft haben viele Menschen eine Freizeitbeschäftigung. Und die Mitglieder von Totus Tuus setzen sich in ihrer Freizeit mit Begeisterung für die Weitergabe des christlichen Glaubens ein. Selbstkritisch muss ich anmerken, dass es in der Vergangenheit bei einzelnen Mitgliedern zu einer solchen Begeisterung gekommen ist, dass sie sich im Einsatz für die Evangelisierung zu sehr verausgabt haben. Hier ist der Einzelne nicht immer fürsorglich genug im Blick gewesen."
Das Bistum Münster leitete eine Visitation ein
Elisabeth steigt aus, findet Anfang 2017 in Weihbischof Hegge aus Münster den richtigen Ansprechpartner. Denn dieses Bistum hat "Totus Tuus" als private Glaubensgemeinschaft anerkannt. Dr. Hegge ist ihr geistlicher Beirat. Auch andere TTs melden sich bei ihm. Die Vorwürfe nimmt er ernst, doch wegen neuer Aufgaben legt er sein Amt kurz darauf nieder. Neuer Ansprechpartner wird der stellvertretende Generalvikar Dr. Jochen Reidegeld. Er ist bischöflicher Beauftragter für Orden und geistliche Gemeinschaften und reagiert:
"Jetzt ist eine Visitation notwendig. Die habe ich dann dem Bischof auch gemeinsam mit Weihbischof Hegge vorgeschlagen, und dann hat mich der Bischof gebeten, diese Visitation durchzuführen."
Eine Visitation ist eine kirchliche Prüfung. Der Bischof leitet sie qua seines Amtes dann ein, wenn Vorwürfe gegen eine Gemeinschaft erhoben werden, die so massiv sind, dass sie einer Klärung bedürfen. Der Bischof ernennt auch den oder die Visitatoren: Er setzt Jochen Reidegeld und die Ordensschwester Birgitte Herrmann von den Mauritzer Franziskanerinnen ein. Und der Bischof gibt den konkreten Untersuchungsgegenstand vor. Bei "Totus Tuus" geht es um das autoritäre Verhalten des Leitungsgremiums gegen Mitglieder der Gemeinschaft.
"Er hat mit uns gespielt"
Im Jahr 2017 hat "Totus Tuus" rund 100 Mitglieder. Auf die zweimal schriftlich gestellte Frage nach der genauen Zahl der Austritte geht der Pressesprecher nicht ein. Kerstin zählt 18 Personen, darunter sich selbst und Elisabeth, die im Laufe von zwei Jahren die Gemeinschaft verlassen. Der Pressesprecher schreibt:
"Die von Ihnen genannte Zahl (...) ist mit Sicherheit zu hoch."
An anderer Stelle schreibt Matthias Schulte:
"In den letzten zwei Jahren haben jedoch durchschnittlich mehr Mitglieder als früher die Gemeinschaft verlassen."
Kerstin fasst ihre Zeit in der Gemeinschaft so zusammen:
"Die Leitung von 'Totus Tuus' hat es verpasst, ihre Mitglieder zu freien und mündigen Christen zu machen."
Elisabeth sagt über sich und Leon Dolenec:
"Ich hatte den Wunsch, ihm zu gefallen, konnte es ihm aber eigentlich nie recht machen. Er hat mit uns gespielt. Was Leon sagt, wird subtil mit dem Willen Gottes gleichgesetzt."
Weihbischof Hegge hatte die Kritik der Betroffenen so formuliert:
"Redeverbote, Kontrolle und autoritäre Züge bis hin zum Eindruck, dass blinder Gehorsam verlangt wird, sowie teils fehlerhafte geistliche Begleitung."
"Herr Dolenec hat entschieden: keine Interviews zum gegenwärtigen Zeitpunkt"
Es gibt ein Leitungsteam von acht bis 14 Personen, die Leon Dolenec unterstützen, die in die Öffentlichkeit gehen, während er im Hintergrund bleibt. Gern hätte der Deutschlandfunk mit Dolenec ein Interview zu den Vorwürfen geführt, doch es kommt zu keinem Gespräch. Der Pressesprecher begründet es so:
"Herr Dolenec hat sich entschieden, zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Interviews zu geben. Ich persönlich kann dies nachvollziehen, nach allem, was er und seine Familie nach dem Artikel in der 'Herder-Korrespondenz' durchmachen mussten."
Dolenec lebt mit seiner Frau und fünf Kindern in Herne, neben Essen das Zentrum der Gemeinschaft. In Herne arbeitet er als Auslieferungsfahrer für eine Bekleidungsfirma. Jochen Reidegeld sagt:
"Kann nur der seinen christlichen Glauben leben und davon Zeugnis ablegen, der eine theologische Ausbildung hat? Und es waren und sind ja auch Priester mit einer entsprechenden theologischen Ausbildung in der Gemeinschaft tätig. Und trotzdem ist es natürlich auch die Frage, dass die, die dort verkündeten, entweder selber auch geistlich gut begleitet werden oder auch sich einer geistlichen Ausbildung noch mal stellen sollten."
Doch das ist keine Vorschrift: Das Kirchenrecht erlaubt private Glaubensgemeinschaften. Nur dürfen sie keine Aufgaben im kirchlichen Auftrag wahrnehmen, wie etwa die Malteser oder die Caritas.
"Sie haben uns nicht wie Betroffene behandelt"
Andererseits darf sich die Kirche erst dann einschalten, wenn Mitglieder solcher Gemeinschaften Verstöße melden.
Die Anhörungen zu "Totus Tuus", also der erste Teil der Visitation, sind abgeschlossen. Elisabeth sagt:
Die Anhörungen zu "Totus Tuus", also der erste Teil der Visitation, sind abgeschlossen. Elisabeth sagt:
"Ich hatte genau ein persönliches Gespräch mit den Visitatoren. Und da habe ich eine schlichte Frage vermisst: 'Wie geht es Ihnen?' Und vielleicht noch: 'Was können wir jetzt für Sie tun, nach diesem radikalen Bruch?'"
Kerstin ergänzt:
"Sie haben uns wie Informanten behandelt, wie Zeugen, nicht wie Betroffene. Keine Hilfsangebote, auch nicht, was den Glauben anbelangt."
Die Anhörungen werden, wie bei innerkirchlichen Untersuchungen üblich, nicht veröffentlicht. Der Visitator kann aber seine Einschätzung dazu abgeben, ob sich die Betroffenen bei den Anhörungen verstanden gefühlt haben.
Jochen Reidegeld sagt: "Wir haben auch immer signalisiert, dass wir es zu schätzen wissen, dass sich die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer gemeldet haben, aber hatten vielleicht nicht ausreichend im Blick, … nee, nicht nur vielleicht: Wir hatten nicht ausreichend im Blick, dass für diese Menschen diese Geschichte ja auch weitergeht. Also, dass sie vielleicht auch ein Stück religiöser Heimat verloren haben."
"Verrate ich auch Gott?"
Der Visitator spricht von "Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern". Er orientiert sich dabei strikt an der Sprache des Katholischen Kirchenrechts. Die Betroffenen dagegen sehen sich als Opfer "geistlichen Missbrauchs". Die ehemalige Ordensfrau Doris Wagner hat diesen Begriff geprägt als Gegenstück zur "spirituellen Selbstbestimmung". Unabhängig voneinander wandten sich Elisabeth und Kerstin ans "Centro" in Münster, das psychologische Begleitung für Menschen im Dienst der katholischen Kirche anbietet.
Elisabeth erzählt: "Ich habe mich immer wieder gefragt: Wenn ich 'Totus Tuus' verlasse, verrate ich dann meinen Glauben? Verrate ich dann auch – Gott?"
Jeder Ausstieg aus einer Gemeinschaft stürzt Betroffene in ein soziales Nichts. Ein Grund, warum viele, die an einer Gemeinschaft leiden, trotzdem stillhalten und lieber bleiben. Benjamin Leven:
"Man steht unter sehr starkem psychischen Druck. Sie müssen das vergleichen wie mit einer dysfunktionalen Beziehung oder einer Ehe mit einer narzisstischen Persönlichkeit, der es gelingt, sie dauerhaft in Abhängigkeit zu halten. Möglicherweise leiden sie sogar. Sie können sich nicht vorstellen, sich zu trennen."
"Totus Tuus" gibt sich offen für Veränderung
In diesem Monat geht die Visitation in die zweite Phase. Dann will man den Opfern konkrete psychologische Begleitung anbieten - zwei Jahre, nachdem die Visitation eröffnet wurde.
Die Stimmung bei "Totus Tuus" beschreibt Jochen Reidegeld so:
Die Stimmung bei "Totus Tuus" beschreibt Jochen Reidegeld so:
"Es ist jetzt im Bewusstsein: Was können für Verletzungen entstehen, wenn Menschen mit ihrer Kritik nicht ankommen? Also die Frage, ob die Gemeinschaft wirklich innerlich verstanden hat, die zeigt sich immer in einem solchen zweiten Teil. Und trotzdem: Ich werde letztendlich einen Zustand nur ändern, wenn diese Gemeinschaft ihn auch dauerhaft mitträgt."
Matthias Schulte, der Pressesprecher von "Totus Tuus", bestätigt diese Bereitschaft:
"Man ist in großer Offenheit unterwegs, neue Wege des gemeinsamen Miteinanders zu suchen. Wir haben schon im Laufe des Visitationsprozesses Änderungen vollzogen. Die Evangelisierungs-Einsätze wurden deutlich reduziert, ein Beschwerdemanagement inklusive einer externen Beschwerdestelle eingeführt."
"Man nimmt es als ungerechten Angriff wahr"
Ein hoher Aufwand für eine Gruppe von derzeit rund 80 Mitgliedern. Nach Veröffentlichung der Artikel gingen bei der "Herder-Korrespondenz" Briefe und Mails mit einem anderen Tenor ein – verfasst von TTs und der Gemeinschaft nahestehenden Personen. Benjamin Leven sagt:
"Man nimmt es als ungerechten Angriff wahr. Man bekommt zum Beispiel zu hören, dass die Betroffenen (…) psychisch krank seien. Oder dass sie böswillig seien oder eine Mischung aus beidem. Und jetzt nur noch das Schlechte und Negative sehen und auf einem persönlichen Rachefeldzug jetzt in der Öffentlichkeit seien, um die Gemeinschaft zu zerstören. Kein Wort davon, dass möglicherweise an der Kritik der Betroffenen etwas dran ist."
Das Ende der Visitation ist für 2020 geplant. Dann, nach drei langen Jahren, wird klar sein, ob sich die Gemeinschaft geändert hat. Der Visitator Jochen Reidegeld:
"Oder letztendlich fallen wir wieder ins Alte zurück. Nur, dann ist es ja auch die Aufgabe des Bistums in diesem Fall, als Aufsicht und als Visitatoren unsererseits zu sagen: Okay, dann kann das aber nicht mehr unter dem Dach der Kirche stattfinden."