Das Reisebüro von Martina und Stefan Hoffmann* ist aufgeräumt, der Besprechungstisch leer - an der Wand hängt ein schlichtes Kreuz. Äußerlich betrachtet hat bei den beiden - die wir anders nennen, um die Beteiligten zu schützen - alles seine Ordnung. Innerlich nicht. Obwohl die Erlebnisse schon einige Zeit zurückliegen:
Das Paar engagierte sich über viele Jahre in einer freien evangelischen Gemeinde[**] in Bayern: in Arbeitskreisen, als ehrenamtliche Seelsorger. Im Jahr 2010 kam es, so erzählt Stefan Hoffmann, zu einem Konflikt mit der Gemeindeleitung über die sogenannte Missionsstrategie.
"Man sollte Freizeitaktivitäten starten, um mit Menschen in der Umgebung Kontakte zu knüpfen. Man sollte Beziehungen aufbauen über Vereine, über soziales Engagement und sollte Menschen an die Angel bekommen, ohne dass die sich im Klaren waren, was man eigentlich bezweckte: Menschen in die Gemeinde - oder frommer gesagt - zum Glauben zu bringen."
"Es war eine Verleumdungskampagne"
Aus Sicht der Beiden hatte das ein Geschmäckle, sie kritisierten die Methoden als unaufrichtig. Wir fragen nach beim Leitungskreis der Gemeinde. Dieser antwortet:
"Die Aussage, die Gemeinde würde manipulativ missionieren, entspricht weder der grundlegenden Überzeugung noch dem Anliegen der Gemeinde. […] Inwieweit der einzelne über seinen Glauben spricht, liegt in dessen Entscheidung."
Martina Hoffmann jedenfalls fühlte sich nicht frei zu entscheiden, sie beendete ihr Engagement in der Gemeinde.
"Ich habe einen sehr heftigen Antwortbrief bekommen auf meinen Austritt, da war ich wirklich am Ende. Ich konnte nicht fassen, dass mich eine Vertrauensperson so behandelt. Einer der Vorwürfe war, dass ich mich auf eine Metaebene begeben hätte und nicht mit meiner tiefsten Überzeugung mit der Gemeinde mitgehen würde."
Was folgt, ist eine monatelange Auseinandersetzung. Der Leitungskreis schreibt der Gemeinde öffentlich, dass er Martina und Stefan Hoffmann von aller Mitarbeit entbindet. Stefan Hoffmann sagt:
"Dann begann eine Kampagne, in der Pastor und Gemeindeleitung Menschen sehr massiv gegen uns beeinflusst haben. Es gab Schreiben an die gesamte Gemeinde: Wir wollten die Gemeinde zerstören, wir würden nur Streit suchen. Wir wären auf einem falschen Weg, also jetzt theologisch gesehen. Also, es war eine Verleumdungskampagne, würde ich aus meiner Sicht sagen."
"Man verliert alles"
Stefan Hoffmann wird - unter Zuhilfenahme eines Bibelzitats - aufgefordert, sich der Gemeindeleitung unterzuordnen und anzuerkennen, dass er sich auf einem - so wörtlich - "verkehrten und unbiblischen Weg" befände. Einige Wochen später legt auch er seine Mitgliedschaft nieder. Man hätte sie ihm sowieso entzogen, schreibt ihm der Leitungskreis, weil es ihm nicht möglich sei, sein "offensichtliches Fehlverhalten und Sünde" einzugestehen. Die Teilnahme am Abendmahl in der Gemeinde wird ihm untersagt. Einen Weg zurück könne es nur geben, wenn in einem "offenen Bekenntnis" Vergebung erbeten werde.
Auch von Seiten des Ehepaars fallen heftige Worte - doch offenkundig sitzen sie am kürzeren Hebel. Aus den beiden einstmals geschätzten Gemeindemitgliedern werden, so sagen sie, unerwünschte, weil vom Glauben abgefallene Personen. Stefan Hoffman sagt:
"Man wird eigentlich komplett erschüttert, man verliert auch alles. Das war unser ganzes Leben, das geht ja im Grunde genommen über das diesseitige Leben hinaus. Man ist ja nicht nur Teil einer Organisation, man ist Teil des Reiches Gottes. Und man hat auch keine Freunde mehr, wir wurden ja auch sozial völlig isoliert. Es ist im Prinzip alles abgebrochen, was früher unser ganzes Leben bestimmt hat."
Erkenntnis kam durch eine Fernsehreportage
Martina und Stefan Hoffmann sehen sich als Opfer geistlichen Missbrauchs - ein Verhalten legitimiert durch scheinbar göttliche Vorgaben. In einer pietistisch geprägten Gemeinde, die sich vermeintlich offen gebe, aber vor allem Demut und Gehorsam verlange, keinen echten Widerspruch dulde.
"Man ist so in diesem System drin, dass es eine unglaubliche mentale Anstrengung erfordert, sich immer wieder zu sagen: Ich habe das, was mir vorgeworfen wird, nicht gemacht. Wenn ein Pastor, der Orientierung gibt in so einer Gemeinde, einen vor der ganzen Gemeinde als Sünder, als Lügner, als streitsüchtig stigmatisiert, dann fragt man sich immer wieder: Bin ich es nicht doch? Und es dauert lange, bis man akzeptiert: Ich bin hier wirklich ein Missbrauchsopfer geworden."
Martina Hoffmann sagt:
"Wir haben einige Zeit später eine Fernsehreportage gesehen von Zeugen Jehovas, die aus ihrer Gemeinde raus sind. Und wir saßen davor und haben geheult. Das waren so viele ähnliche Situationen und selbst da haben wir gedacht, das kann nicht sein, dass wir in solchen Strukturen auch drin waren. Ich würde nicht sagen, dass es von der Lehre her eine Sekte ist. Aber an dem, was uns passiert ist, muss ich trotzdem sagen, dass es zumindest sektenähnlich ist."
"Man kann von einer Traumatisierung sprechen"
Experten sprechen von geistlichem Missbrauch, wenn eine religiöse Leitungsperson ihre Autorität nutzt, um Druck auszuüben oder andere zu demütigen. Wo genau die Grenze zwischen Konflikt und Übergriff verläuft, wird von den Beteiligten teilweise sehr unterschiedlich beurteilt. Häufig habe geistlicher Missbrauch massive Folgen für die Betroffenen, sagt die Supervisorin und Fachautorin Inge Tempelmann.
"Wenn man derartige Übergriffe erlebt hat, kann man von einer gewissen Traumatisierung sprechen. Im Bereich der Emotionen, des Geistes, des Lebenswillens. Die Folgen können einmal im Bereich der psychischen Gesundheit stattgefunden haben. Es kann manchmal zu massiven Burnouts mit körperlicher Erschöpfung kommen. Oder einfach insgesamt eine Verunsicherung dem Leben gegenüber."
Tempelmann begleitet Menschen, die Grenzverletzungen im frommen Gewand erfahren haben und hat ein Buch zu dem Thema geschrieben. Geistlicher Missbrauch geschehe insbesondere in Gruppierungen, die mit starren Regeln arbeiten und den Mitgliedern wenig Raum ließen, ihren persönlichen Glauben zu entwickeln.
"Ich glaube, dass es große Gruppen von Glaubensgemeinschaften betrifft. In dem Sinne würde ich es falsch finden, bestimmte Gemeinden allgemein zu verdächtigen. Aber ich könnte umgekehrt auch nicht sagen, religiöser Missbrauch kommt in bestimmten Kirchen oder Freikirchen überhaupt nicht vor. Es hängt auch davon ab, wie Theologie verstanden wird. Von daher denke ich, dass viele Menschen betroffen sind von solchen Phänomenen."
Seit 2014 gibt es eine Clearingstelle
Der Leitungskreis der freien evangelischen Gemeinde, in der Martina und Stefan Hoffmann aktiv waren, will zum konkreten Fall keine Stellung nehmen. Es handle sich "um eine innergemeindliche Auseinandersetzung". Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk betont der beteiligte Pastor, dass sich Betroffene bei Konflikten an höhere kirchliche Instanzen wenden könnten.
Das tat das betroffene Ehepaar - und so bekommt der Fall eine überregionale Bedeutung: Nach einer NDR-Dokumentation über Machtmissbrauch in Organisationen und Gemeinden, die zum Netzwerk der Deutschen Evangelischen Allianz gehören, richtete diese im Jahr 2014 eine Clearingstelle ein. Dort sollen ehrenamtliche Beauftragte "Vorwürfen und Vorkommnissen" nachgehen und alles unternehmen, "dass Missstände aufgedeckt, aufgearbeitet, beseitigt und für die Zukunft so gut als möglich ausgeschlossen werden". Die Einrichtung der Clearingstelle zeigt: Die Evangelische Allianz erkennt an, dass es ein Problem mit geistlichem Missbrauch gibt. Initiiert wurde die Stelle durch den früheren Allianz-Vorsitzenden Michael Diener:
"Allein schon die Gründung der Clearingstelle hat dazu beigetragen, dass eine gewisse Sensibilität für diese Fragen nochmal gewachsen ist. Und die Sensibilität zu erhöhen, indem wir Menschen schulen, Schriftmaterial zur Verfügung stellen, würde ich für eine sehr sinnvolle Hilfe halten."
"Ohne Einvernehmen sind unsere Möglichkeiten begrenzt"
Indes: Auf der Website der Allianz findet sich bis heute kein weiteres Infomaterial. Das Ehepaar Hoffmann kontaktierte die Clearingstelle 2016 und 2017 - machte sich Hoffnungen. Sie seien angehört worden, darüber hinaus aber sei nichts geschehen. Die Anfrage verlief im Sande. Michael Diener sagt: Es sei bedauerlich, dass die Arbeit in Einzelfällen nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führe.
"Diese Clearingstelle ist ein Hilfsangebot, das jetzt nicht unbedingt mit vielen Machtfaktoren ausgestattet ist. Wenn Einvernehmen besteht in der Beurteilung eines Falles, dann ist es notwendig, dass die Gegenseite zu Wort kommt. Und im Falle eines Scheiterns dieses Gesprächs besteht auch noch sicherlich die Möglichkeit, sich in den Hierarchieebenen nochmal an weitere Personen zu wenden. Wenn an der Stelle letztlich kein Einvernehmen erzielt werden kann, dann sind unsere Möglichkeiten auch wirklich begrenzt."
Das heißt: Die Evangelische Allianz kann zum Beseitigen von geistlichem Missbrauch in den eigenen Reihen nur dann etwas beitragen, wenn ein Beschuldigter oder dessen Vorgesetzte damit einverstanden sind. Darüber hinaus sehe die Allianz keinen Ansatzpunkt, auf die Kirchen und Verbände innerhalb ihres Netzwerks einzuwirken, so der frühere Vorsitzende Diener.
"Wie ein nochmaliges Erleben des Missbrauchs"
Nach eigenen Angaben hat die Clearingstelle seit Bestehen etwa 30 Fälle im Jahr bearbeitet. Ob es Konsequenzen gegenüber Beschuldigten gab, dazu macht die Allianz keine Angaben. Die Stelle verstehe sich nicht als "fromme Strafverfolgungsbehörde". Martina Hoffmann sagt:
"Wenn man weiß wie sie entstanden ist, dann stellt sich die Frage, inwieweit ist diese Stelle wirklich ernst gemeint. Ich denke, dass diese Stelle in dem einen oder anderen Fall mehr Schaden anrichten kann, weil man sich als Geschädigter an diese Stelle wendet. Und wenn man dann so behandelt wird, wie wir behandelt worden sind, dann ist das wie so ein nochmaliges Erleben des Missbrauchs. Und das kann eigentlich niemand brauchen in der Situation."
[*] Name geändert.
[**] Anmerkung der Redaktion: Der Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland KdöR (FeG Deutschland) legt Wert auf die Feststellung, dass die betroffene Gemeinde nicht zu ihm gehört.