"Eine kleine Geschichte von Johann Peter Hebel, die von einem Quäker berichtet, der auf einer Landstraße überfallen wird von einem Räuber, der ihm alles Geld abnimmt und schließlich auch sein Pferd umtauscht gegen das Pferd, das er selber hat. Der Quäker erhält dann das Pferd des Räubers, das weit schlechter ist als sein eigenes. Und statt sich gegen diesen Raub aufzulehnen, setzt sich der Quäker auf das Pferd, das er vom Räuber bekommen hat, und gibt die Zügel aus der Hand. Das heißt, er lässt es einfach reiten und vertraut darauf, dass das Pferd zu dem Stall zurückfindet, in den es gehört. Und damit hat er auch die Adresse des Räubers ausfindig gemacht, kann ihn stellen und diesen ganzen Tausch wieder rückgängig machen."
Das Verhalten des Quäkers sei eines der Paradebeispiele für Gelassenheit, so der Schweizer Germanist Thomas Sträßle, die er bei seiner Spurensuche quer durch die Kulturgeschichte gefunden und in dem Buch "Gelassenheit- Über eine andere Haltung zur Welt" 2013 vorgelegt hat. Thomas Strässle:
"Das ist aus meiner Sicht eine wunderbare Geschichte, wie man letztlich zu seinen Zielen kommt, indem man die Zügel aus den Händen gibt. Wenn der Quäker sich sträuben würde gegen sein Schicksal, würde er nur umso tiefer in etwas verstrickt werden, in das er ursprünglich gar nicht hineingeraten wollte.
Oft weiß man nicht, woher die Wörter genau herkommen. Im Fall der Gelassenheit lässt sich das sehr genau sagen. Das ist eine Wortschöpfung von Meister Eckhart, also im Hochmittelalter, der hat eine ganze Reihe von volkssprachlichen Wörtern, also nicht in der Gelehrtensprache Latein, sondern auf Deutsch geschaffen, und eines dieser Wörter ist das Wort Gelassenheit. Das Schöne an diesem Wort - und damit spielt auch schon Meister Eckart - ist eben, dass "lazen" auf Mittelhochdeutsch, dass dieses Verb darin steckt, das einerseits "verlassen" und andererseits "überlassen" bedeutet, das also eine aktivische und einen passivische Seite haben kann."
Die passivische Seite von Gelassenheit meint also ein Seinlassen im Sinne von Loslassen, eine Hinnahme der Situation, ein Geltenlassen der anderen, wie sie nun mal sind. Dazu gehört auch eine innere Abstandnahme von Problemen, auf die man sich fixiert hat: Kein hektisches Agieren, kein Aktionismus, der mehr Probleme schafft als er löst. Dieses Moment betont auch der Berliner Philosoph Wilhelm Schmid:
"Gelassenheit kommt von lassen. Und immer dann, wenn wir das schaffen zu lassen, dann können wir gelassener werden. Wenn ich es lassen kann, meine Kinder immer mal wieder belehren zu müssen, das sorgt auf beiden Seiten für mehr Gelassenheit. Das geht nicht ständig, aber etwas mehr Lassen-Können, das schaffen wir schon."
Anker in unserer rastlosen reizüberfluteten modernen Welt
Wilhelm Schmid, der mit Büchern zu einer philosophischen Lebenskunst hervorgetreten ist, hat ebenfalls ein Buch zur Gelassenheit geschrieben, das seit Monaten auf der Spiegelbestsellerliste steht: "Gelassenheit - was wir gewinnen wenn wir älter werden" - so der Titel. Schmid traut gerade der älteren Generation dabei besonders viel zu. Von Gelassenheit ist heute allenthalben die Rede. Gelassenheit verheißt einen Anker in unserer rastlosen reizüberfluteten modernen Welt. Gelassenheit, die vielfach beschworen wird, erscheint wie das Losungswort einer allgemeinen Sehnsucht.
"Sehr vielen erscheint es erstrebenswert, gelassener zu sein. Mir erschien das auch sehr erstrebenswert nach einer großen Unruhe, die mich zu meinem 60. Geburtstag überfallen hat, so kam ich überhaupt auf den Weg zur Gelassenheit. Zugute kommt einem in der Tat das Älterwerden aus einem ganz einfachen Grunde: Der Hormondruck lässt nach beim Älterwerden, das macht automatisch gelassener, und die Erfahrungen sind reicher geworden und erlauben in viel schnellerer Zeit Dinge sortieren zu können. Auch das macht gelassen."
Bringt es das Älterwerden mit sich, dass man besser zwischen wichtig und unwichtig, zwischen Dringlichem und Aufschiebbarem unterscheiden kann? Wilhelm Schmid macht jedenfalls deutlich, dass Gelassenheit neben der passiven auch aktive Seite besitzt. Es geht darum - mit einem gewissen Abstand, aber sehr bewusst - auszuwählen, Entscheidungen zu treffen und seine Kräfte entsprechend einzuteilen. Gelassenheit meint keineswegs Gleichgültigkeit und Apathie. Gelassenheit, betont ebenso Thomas Strässle, sei eine Haltung, die auch ein Handeln einschließt.
"Man kann nicht sich zurücklehnen und darauf warten, dass man irgendwann gelassen ist, sondern man muss daran arbeiten und sich von den Dingen ein bisschen distanzieren können. Man muss sich auch von sich selber distanzieren können, muss Klarheit darüber erlangen, wo man seine Kräfte investieren will und wo nicht. Man muss mit Situationen umgehen können und eine Distanz schaffen zu den Geschehnissen, die einen bedrängen, zu den Abhängigkeiten, in denen man sich befindet, zu den Leidenschaften, die einen beherrschen, also das ist auch immer schon eine aktive Handlung, die dann idealerweise aufgeht in einer Haltung, die aber immer wieder bedroht ist."
Gelassenheit ist jene Tugend, die in unserer Zeit am meisten gesucht und beschworen wird. Als Anker und innerer Ruhepol gegen das Tempo und die Turbulenzen des modernen Lebens: Güter, Nachrichten und Bilder jagen um den Erdball, fluten in eine hoch mobile und flexible Gesellschaft. Denn auch wir selber sind immer häufiger unterwegs und sollen doch zugleich ständig erreichbar sein: immer online, an 7 Tagen, rund um die Uhr. 24/7 - twenty four/seven - wie das Ganze kurz und knapp auf Neudeutsch, also Englisch heißt. Wie kann man Gelassenheit finden und bewahren angesichts dieser Herausforderungen? Der Philosoph Martin Heidegger hat schon in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, also lange vor der Erfindung des Internets, über Gelassenheit als Antwort auf die moderne technisierte Welt nachgedacht:
"Heidegger war eigentlich der Erste, der diesen Begriff der Gelassenheit in diesen Technikdiskurs hineingenommen hat. Und er hat die Gelassenheit dann definiert als das gleichzeitige Ja und Nein zu den Dingen der technischen Welt. Also dass wir quasi bestimmen können, wo wir etwas an uns heranlassen wollen und wo nicht. Wobei das natürlich inzwischen eine historische Position ist. Heidegger geht davon aus, dass wir als Subjekte immer noch autonom sind und darüber entscheiden und verfügen können, wenn wir Ja sagen und wenn wir Nein sagen. Heutzutage ist die Verstrickung noch viel enger und auch die Autonomie des Subjekts angesichts seiner technischen Einbettung geringer geworden. Darum auch das Problem viel größer."
Coolness: Nur Attitüde von Gelassenheit
Wann sind wir online, wann offline, zu welcher Zeit schalten wir den PC ab und legen das Smartphone beiseite? Das ist ja nicht nur eine individuelle Entscheidung, das betrifft ebenso die Arbeitswelt und die Beziehungen zu anderen. Gerade für junge Menschen ist das soziale Netzwerk, ist Facebook wie eine Nabelschnur zur Welt. Doch auch sie suchen und beschwören eine Art von Gelassenheit. Sie nennen es Coolness. Meint es dasselbe?
"Coolness ist etwas anderes. Ich gönne es jedem, aber Coolness ist in der Regel nur vorgeschützt, die existiert nicht wirklich. Warum muss jemand cool sein? - Weil er eigentlich heiß ist, weil es tobt in ihm, will er nach außen den Eindruck erwecken: Das berührt mich überhaupt nicht. Das kennt man von sich selber, wir waren selber einmal Jugendliche und haben das auch vorgetäuscht - aus welchen Gründen? Weil das ein hohes Sozialimage unter Gleichaltrigen hat. Im Laufe der Jahre wird dann deutlicher, das funktioniert nicht mit der Vortäuschung, aber dann wächst auch die Gelassenheit heran."
Auch Thomas Strässle versteht Coolness nur als leere Hülle, als Attitüde von Gelassenheit, nicht nur bei Jugendlichen.
"Viele wären gern gelassen - oder man gibt sich betont gelassen, dann wird die Gelassenheit zu einer Pose oder zu einer Attitüde, und insofern tritt sie in die Nähe der Coolness. Ich glaube aber nicht, dass die Coolness deckungsgleich ist mit der Gelassenheit. Die Coolness ist die Haltung desjenigen oder derjenigen, die eine Sonnenbrille tragen, die das auch zur Schau stellen, dass sie nichts an sich herankommen lassen, das ist bei der Gelassenheit nicht der Fall. Die Gelassenheit ist nicht zu verwechseln mit Teilnahmslosigkeit."
Die Tradition hat Gelassenheit vor allem dem Alter zugeordnet. Alte Menschen, so dachte man, sind erfahren und gereift, sind zu Weisheit gelangt und zu Besonnenheit, wie es bei Platon heißt. Die gesamte Gesellschaft kann davon profitieren. Aber stimmt das denn heute noch, in einer modernen Welt, die sich ständig nach vorn wirft und neu erfindet, in der das Erfahrungswissen so schnell veraltet und wertlos wird? Die Ärztin und Gerontologin Gabriele Becker von der Universität Heidelberg erklärt, dass Alter und Gelassenheit auch heute besonders korrespondieren:
"Was einen alten Menschen auf jeden Fall auszeichnet und wodurch er so etwas wie Gelassenheit nach wie vor schöpfen kann, ist einfach die Lebenserfahrung. Dinge erlebt zu haben und zu wissen, was daraus wird, und auch diese Erfahrungen an die jüngere Generation weitergeben zu können. Zur Gelassenheit gehört auch die Fähigkeit von alten Menschen, mit Einschränkungen einfach besser zurechtzukommen, auch mal ein Stück weit Einschränkungen gelten zu lassen, zu überlegen, was mache ich aus der Situation, wie kann ich trotzdem noch etwas Positives für mich finden.
Alte Menschen haben gelernt, mit Grenzen umzugehen und damit, dass nicht mehr alles möglich ist. Es gilt, sich auf das Wichtige und Wesentliche zu konzentrieren. Junge Menschen haben die ganze Zukunft vor sich, ein Reich scheinbar grenzenloser Möglichkeiten. Das ist eine verheißungsvolle Lage, die aber auch verunsichert, weil man weder die Welt noch sich selber realistisch einschätzen kann. Aber, so Gabriele Becker, auch für alte Menschen fällt die Gelassenheit nicht vom Himmel.
"Man muss sich über seine eigenen Bedürfnisse, über seine eigenen Ziele klar werden. Und wenn man den Eindruck hat, dass da zu viel mit einem passiert oder dass man zu viel macht, dann muss man überlegen, was muss ich unbedingt machen, was ist mir ganz wichtig und was kann ich vielleicht lassen, was kann ich beispielsweise in jüngere Hände geben, das ist durchaus ein Akt, der nicht irgendwie passiv ist, sondern dass man ganz bewusst sagt, bestimmte Dinge könnten vielleicht andere Leute übernehmen und ich entlaste mich dadurch."
Gelassenheit ist eine Tugend, die hoch angesehen ist. Dieser seelische Gleichmut soll uns inneren Halt geben in einer dynamischen Welt. Aber worauf stützt sich die Gelassenheit selber. Was ist ihr eigenes Fundament?
In der Antike strebten insbesondere die Stoiker nach Gelassenheit. Sie nannten es ataraxia - die Unerschütterlichkeit der Seele. Für die Stoiker war diese Unerschütterlichkeit fundiert in der Annahme, dass das Ganze, dass der Kosmos wohlgeordnet sei. In dieser metaphysischen Gewissheit konnte man persönliche Schicksalsschläge als eine vorübergehende und oberflächliche Störung stoisch - also gelassen - hinnehmen.
Germanist Strässle: "Sich eingebettet fühlen zu können in ein größeres Ganzes"
Bei Meister Eckhart im Mittelalter erhielt die Gelassenheit ein religiöses Fundament. Im Glauben an die Allmacht Gottes konnte man vom eigenen Willen, von der Ichbezogenheit ablassen und sich dem unerforschlichen göttlichen Ratschluss anvertrauen: sich Gottes Willen ergeben. Gelassenheit bei Eckhart meint Gottergebenheit.
Aber wie ist das heute, wo für viele Menschen ein solches religiöses oder metaphysisches Fundament nicht existiert? Wilhelm Schmid:
"Ich staune immer über Menschen wie Woody Allen, die eigentlich des Denkens mächtig sind, aber dann behaupten, sie wüssten, dass alles sinnlos ist. - Woher eigentlich? Das Gegenteil kann genauso stimmen. Die Wahrheit ist, glaube ich, wir wissen gar nichts darüber, ob das alles sinnvoll ist oder nicht. Ich selber mache mir natürlich meinerseits Gedanken. Und es kann sehr wohl sein, dass das einer der Punkte ist, die zur Gelassenheit führen: sich eingebettet fühlen zu können in ein größeres Ganzes, das wir nicht vollständig erfassen können, weil es zu weit ist, und was wir vielleicht auch niemals durchdringen können, von dem wir aber annehmen können, ja - da ist etwas."
Wilhelm Schmid und Thomas Strässle haben jeder ein Buch über Gelassenheit geschrieben, darin unternehmen sie Streifzüge durch Geschichte und Gegenwart, durch Philosophie, Literatur und unser Alltagsleben. Beide Werke sind keine Ratgeber, vielmehr laden sie uns alle zum Nach- und Weiterdenken ein.
"Wenn Sie so Bücher machen im Sinne von: 'Entspannen Sie sich oder trinken Sie ein bisschen mehr Verbenentee, dann werden Sie gelassener' - ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Der Weg, den ich dann versucht habe zu beschreiten, war diesen Begriff zu erwägen - im Wortsinne - und einmal durchzuspielen in welchen Szenarien, in welchen Geschichten, in welchen Bildern wird überhaupt über diesen Begriff nachgedacht und damit ein Denken anzuregen, das für alle, die das lesen, hoffentlich dazu führt, dass sie sich mit diesem Begriff und mit ihrer eigenen Lebenssituation auseinandersetzen können - aber nicht mit Fingerzeig und Zeigefinger 'Soundso müssen sie das machen' - das finde ich belehrend."