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Gelbwesten-Proteste in Frankreich
"Macron hat sehr viel Vertrauen verspielt"

Der Machtgewinn der Gelbwesten in Frankreich zeige die Schwäche des Präsidenten, sagte der Politologe Henri Ménudier im Dlf. Emmanuel Macron habe zu wenig Rücksicht auf die Probleme der Mittelschicht und der Schwachen genommen. Das Vertrauen könne "für immer verspielt sein".

Henri Ménudier im Gespräch mit Christine Heuer |
    Demonstranten der Gelben Westen (Gilets Jaunes) blockieren die Straße, die zum Öldepot Frontignan in Südfrankreich führt, als sie gegen den Anstieg der Treibstoffpreise und der Lebenshaltungskosten am 3. Dezember 2018 demonstrieren.
    Proteste gegen die Politik von Emanuel Macron in Frankreich (AFP / Pascal Guyot)
    Christine Heuer: Emmanuel Macron hat nachgegeben. Die Ökosteuer wird in Frankreich vorerst nicht erhöht. Auch die staatlich regulierten Strom- und Gaspreise bleiben den Winter über stabil. Damit reagiert die französische Regierung auf die Proteste der "gilets jaunes", der gelben Westen – einer Bewegung, die seit zwei Wochen massiv demonstriert gegen den französischen Präsidenten und seinen Reformkurs. Die "gilets jaunes" und ihre Macht – unser Thema jetzt im Gespräch mit Henri Ménudier. Der französische Politologe lehrt an der Pariser Sorbonne. Macron lenkt ein, die französische Regierung verkündet das Aussetzen der Steuererhöhungen. Wie mächtig sind die "gilets jaunes"?
    Henri Ménudier: Ja, sie sind sehr mächtig, weil sie demonstrieren nicht nur in Paris, sondern im ganzen Land sind sie vertreten, und deswegen muss man schon Rücksicht auf sie nehmen, ja.
    Heuer: Wie gefährlich sind die "gilets jaunes", ist diese Bewegung für den französischen Präsidenten?
    Ménudier: Ja, sie sind gefährlich, weil sie eigentlich unorganisiert sind. Dass es so einen Protest gibt, das ist nicht neu in Frankreich, aber früher wusste man, mit wem man sprechen konnte. Es gab Strukturen und es gab Vertreter dieser Bewegungen. Jetzt haben wir es mit einem Protest zu tun im ganzen Land, aber es gibt einige Köpfe, aber keine wirkliche Organisation. Und wer bereit ist, mit der Regierung zu sprechen, wird sofort abgerufen, und das macht natürlich die weitere Entwicklung sehr schwierig.
    "Macrons Regierungsstil wird infrage gestellt"
    Heuer: Nun hat die Regierung eingelenkt. Manche würden sagen, sie ist eingeknickt. Hat Macron da eher Zeit gewonnen, oder hat er einen massiven Gesichtsverlust erlitten?
    Ménudier: Ich glaube, beides. Er versucht, Zeit zu gewinnen, sechs Monate. Er wendet eine doppelte Methode an. Einmal - das haben Sie erwähnt - die Verschiebung der Ökosteuer für die sechs nächsten Monate. Die Frage ist bloß, was geschieht nach sechs Monaten. Wird das ganz abgeschafft, oder versucht er doch, seine Erhöhungen durchzusetzen. Und die zweite Methode, das ist der Dialog, der Dialog mit den Parteien, mit den Verbänden und, wenn es möglich ist, natürlich mit den gelben Westen. Das zeigt aber, dass wahrscheinlich Macron in den letzten Monaten nicht genug Rücksicht genommen hat auf diese verschiedenen Partner. Das bedeutet, sein Regierungsstil wird infrage gestellt.
    Heuer: Und entsprechend ist er in den Umfragen abgesackt. Darüber haben wir hier im Deutschlandfunk auch immer mal wieder berichtet. Und nun dieses Einknicken vor den "gilets jaunes". Wie groß ist denn der machtpolitische Schaden, der da schon entstanden ist?
    Ménudier: Zunächst mal, was die Popularität von Macron angeht. Die politische Zustimmung hat unwahrscheinlich abgenommen. Nach den letzten Meinungsumfragen gibt es nur noch 23 Prozent der Franzosen, die Macron unterstützen. Das ist sehr wenig. Er hat sehr viel Vertrauen verspielt und ich fürchte, dieses Vertrauen ist für lange Zeit, wenn nicht für immer verspielt worden. Da der Präsident schwach ist, dann ist es klar, dass die gelben Westen dadurch mehr politische Bedeutung gewinnen, weil sie zeigen, dass sie eine politische Macht darstellen, obwohl sie sehr unorganisiert sind.
    "Es wird von oben nach unten regiert"
    Heuer: Herr Ménudier, noch eine Frage zu dem Schaden für Macron. Wie sicher ist es denn, dass er Präsident bleibt unter den von Ihnen geschilderten Bedingungen?
    Ménudier: Ja, es gibt schon Forderungen, Macron soll zurücktreten. Es wird auch oft gefordert von den gelben Westen, dass die Nationalversammlung aufgelöst wird, dass es Neuwahlen gibt und so weiter. Im Moment kommt das natürlich gar nicht in Frage, weil Macron ist demokratisch legitimiert worden durch die Wahl, Wahl der Präsidentenrepublik, Wahl der Nationalversammlung. Aber es zeigt nur, dass es Schwierigkeiten gibt. Das repräsentative System wird abgelehnt. Die Regierungen haben wahrscheinlich in Frankreich nicht genug auf das Volk gehört, auch auf ihre Forderungen, und nun kommt es jetzt zu diesem Konflikt.
    Heuer: Zu so etwas wie einem geballten Volkszorn, der sich bahnbricht. Wer steckt denn hinter den "gilets jaunes"? Wen halten Sie für die treibende Kraft?
    Ménudier: Ja, das ist das Problem. Es gibt keine wirkliche treibende Kraft. Die Ursache dieser Entwicklung - es gibt mehrere Ursachen. Ich glaube, eine der wichtigsten ist das Gefühl, dass die sozialen Ungerechtigkeiten sehr stark zugenommen haben. Das ist nicht neu. Das ist das Ergebnis einer Reformpolitik, die sich nicht durchgesetzt hat in den 20, 30 letzten Jahren. Dann, was in Frage gestellt wird, das habe ich schon erwähnt. Das ist eigentlich der Regierungsstil von Macron. Man hat vom Jupiter gesprochen. Das heißt, es wird von oben nach unten regiert und es wird nicht genug auf die Forderungen, auf die Probleme der Mittelschicht, der schwachen Menschen Rücksicht genommen. Und nun kommt es plötzlich zu dieser Explosion, zu dieser Krise.
    "Europawahlen werden zum Referendum für oder gegen Macron"
    Heuer: Und an den "gilets jaunes", auch wenn wir nicht wissen, wer die treibende Kraft ist, wissen wir doch, dass da Rechte und Linke von den Rändern sich stark engagieren. Kann es denn auch sein, dass die extreme Rechte oder Linke in Frankreich, also die Parteien, dass die die "gilets jaunes" kapern und dann sehr viel mächtiger werden?
    Ménudier: Ja, das ist durchaus möglich. Es ist klar, dass die extremen Parteien Rassemblement National und die Partei von Melenchon, die extrem Linke, total überrascht wurden. Aber jetzt versuchen sie, da eine Rolle zu spielen, und sie hoffen, dass sie dadurch eine neue politische Kraft gewinnen werden. Auf der anderen Seite sind Teile der gelben Westen sehr vorsichtig. Sie möchten nicht von diesen Parteien instrumentalisiert werden.
    Heuer: Aber es kann natürlich passieren, wenn der Protest und die Protestbewegung so unorganisiert sind. Wenn es passiert, Herr Ménudier, wer hätte denn da die besseren Chancen, die Linke oder die Rechte?
    Ménudier: Beides, ja. Man sieht, dass beide eigentlich sehr stark sind, und das ist sehr gefährlich für Macron – ganz besonders, weil im nächsten Jahr Ende Mai, am 26. Mai, haben wir die Europawahlen. Diese Europawahlen werden gerade von den politischen Extremen zu einem Referendum für oder gegen Macron. Das heißt, die Stimmung gegen Macron wird sehr stark sein. Und leider – ich sehe das schon voraus – wird sehr wenig über Europa gesprochen oder diskutiert, aber es wird vor allem gegen Macron Politik gemacht. Das ist sehr gefährlich für Europa.
    "En Marche zu jung und nicht genug im Lande verankert"
    Heuer: Halten Sie es für möglich, Herr Ménudier, dass sich die Rechte und die Linke, die Parteien in Frankreich, dass die sich möglicherweise sogar zusammentun auf der Welle dieses Protestes?
    Ménudier: Ich glaube es nicht, weil Sie wissen, jeder hat seine Identität, hat sein eigenes Programm. Aber sie profitieren davon. Die Schwierigkeit liegt darin, dass die traditionellen Parteien, die Konservativen und die Sozialisten, sehr schwach geworden sind – besonders die Sozialisten. Deswegen sind die Extremen so stark geworden. Nun hatten wir den Eindruck, dass Macron sich durchsetzen konnte, aber Macron hat eigentlich keine echte politische Partei hinter sich, oder seine eigene Partei En Marche ist viel zu jung und die sind nicht genug im Lande verankert, so dass diese Partei eigentlich gegen die gelben Westen und gegen die extremen Parteien sehr wenig machen kann. Und man beobachtet, wie machtlos eigentlich Macron geworden ist.
    Heuer: Sie sagen es ja: En Marche ist eine Partei, eine junge Partei. Eigentlich war das ja auch mal eine Bewegung. Und nun haben wir eine andere Bewegung, die "gilets jaunes". Wenn die zu Wahlen antreten würden, hätten die dann inzwischen oder im Moment jedenfalls die Mehrheit?
    Ménudier: Sie brauchen zwei Dinge, um sich bei der Wahl zu stellen. Sie brauchen Strukturen irgendwie. Es muss strukturiert werden. Und sie brauchen führende Köpfe. Im Moment ist das nicht der Fall. Man sieht zwei, drei Leute in Interviews im Fernsehen, aber die sind noch gar nicht anerkannt. Man weiß gar nicht, wer da eine treibende Kraft spielen wird in dieser Bewegung. Das ist ja die Schwierigkeit. Wir haben Probleme, das ist nicht neu, und es ist ja in Frankreich ein bisschen Tradition, dass Reformen mit Revolten zusammengehen. Aber wir waren daran gewohnt, mit Menschen sprechen zu können und in bestimmten Strukturen zusammen arbeiten zu können, und das ist mit den gelben Westen nicht der Fall. Das macht die ganze Geschichte, diesen Konflikt sehr schwierig.
    "Miteinander versuchen, einen Dialog zu eröffnen"
    Heuer: Es ist sehr viel Unordnung durch die "gilets jaunes" entstanden in Frankreich. Herr Ménudier, zum Schluss Ihre Einschätzung würde ich gerne wissen. Halten Sie die "gilets jaunes" trotzdem eher für eine Chance, oder doch für ein großes Risiko für Ihr Land?
    Ménudier: Es ist sehr viel zerstört worden, besonders in Paris, aber auch auf dem Lande, und wirtschaftlich sind die Kosten schon enorm, ja. Auf der anderen Seite: Es gibt diesen Protest, weil die Regierungen – und das ist nicht nur seit Macron, sondern ich habe gesagt, man muss auf die letzten 20, 30 Jahre Rücksicht nehmen. Es gibt soziale Probleme, die nicht genug berücksichtigt wurden. Jetzt haben wir die Chance, uns damit auseinanderzusetzen. Insofern wäre die Methode von Macron, dass jetzt diskutiert wird, dass man miteinander versucht, einen Dialog zu eröffnen, sehr gut, weil es gibt einen Teil der Menschen in Frankreich, der den Eindruck gewonnen hat, dass nicht genug Rücksicht genommen wird auf ihre Probleme.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.