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Gelebte Archäologie

Einst war Haithabu eine mächtige Wikingermetropole an der Ostseeküste. Im 11. Jahrhundert verfiel die Stadt. Aber Wikinger - hauptberufliche und ehrenamtliche - gibt es dort immer noch zu erleben.

Von Katja Lückert |
    "Viking Play", die schwungvollen Schriftzüge prangen auf den Schaufenstern der Spielhalle, und darunter steht zu lesen "Hier spielen nicht nur Wikinger". In dem 24.000-Einwohnerstädtchen an der Ostseeförde gelegen, begegnet man den Wikingern eigentlich ständig. Sogar das mit 27 Stockwerken höchste Bauwerk der Stadt trägt den Namen: Wikingturm. Die weiß-blau verkleidete Bausünde aus den 70er-Jahren ist wegen ihres exponierten Platzes am Wasser dennoch das Wahrzeichen von Schleswig. Gerade kündigen ein paar besonders finster blickende Gestalten auf Plakaten die Wikingertage am nächsten Wochenende an. Das alljährliche Schleswiger Stadtfest steht natürlich unter dem Motto: Wikinger. Ute Drews ist Leiterin des Wikinger-Museums in Haithabu und weiß um den unvergänglichen Marktwert der Nordmänner.

    "Wikinger ist ein Zauberwort, es gibt Wikinger-Würstchen und Wikinger-Schuhcreme und insofern machen sich das auch die Organisatoren von allerhand Festen zu eigen, das ist eine ganz andere Welt. Das was wir hier präsentieren, auch bei unserem Rahseglertreffen, das ist in gewisser Weise eine Form der Vermittlungsarbeit. Wir versuchen unseren Besuchern zu zeigen, wie es gewesen sein könnte, nach dem Wissen, das wir heute haben."

    Und wie es gewesen sein könnte, zeigt die engagierte Museumsfrau im Halbdunkel eines lehmverputzten, reetgedeckten Wikingerhauses dann gleich einmal selbst. Tisch und Stuhl kannte man wohl noch nicht, man saß gewissermaßen auf der Bettkante am Feuer.

    "Und hier haben sie dann gesessen, hier hat das Feuer gebrannt, dann haben sie hier abends ihre Suppe gelöffelt und wenn sie müde waren, haben sie sich einfach nach hinten fallen lassen und haben geschlafen, bis der Hahn kräht oder es hell wurde."

    Nachspielen, ausprobieren, selbstmachen, das hat hier zwischen den sieben rekonstruierten Häusern der ehemaligen Wikingerstadt mittlerweile Tradition. Einer der Hauptakteure ist Harm Paulsen, mal Steinzeitexperte, mal Wikinger aus Leidenschaft und längst eine Koryphäe auf dem Gebiet der experimentellen Archäologie.

    "Wir wollen also ein Bild vermitteln, als wenn man durch eine Zeitmaschine genau vor Tausend Jahren in diese Stadt kommt und dann ist hier eine ganze Menge los. Irgendwann hatte ich mal die Idee, man müsste das nicht nur lesen, sondern begreifen, diese alten Techniken mal nehmen und mal versuchen, ob man das selber machen kann und dann über viele Freunde, die man hat, haben wir auch diese Gruppe, die Opinn Skjold -Gruppe gegründet vor fast 35 Jahren und die sind inzwischen schon gefragte Experten in ihrem Bereich, weil sie schon über Jahrzehnte schon diese Techniken nach vollzogen haben und haben fast schon genau das erreicht, was die Wikinger auch konnten."

    Auch Arne Elger nimmt das Wikingerdasein sehr ernst. Er ist Siebdrucker von Beruf, aber an diesem Wochenende sitzt er in traditionellem Wikingerdress vor seinem Zelt, das fast den besten Platz hat, am Rande des Dorfs mit Blick aufs Wasser und die ankommenden breiten Holzschiffe. Er schnitzt einen Langbogen aus Eibenholz, das er übrigens mitgebracht hat nach Haithabu. Schon die Wikinger hatten in dieser Gegend fast alles abgeholzt.

    "Ich bin jetzt erst mal dabei und verjünge das Splintholz um drei Jahresringe, weil das halt zu dick ist, das wird ein Eibenbogen und da darf das Splintholz nur maximal fünf bis sechs Millimeter dick sein, und dann muss das erst mal alles runter, den Jahresring darf ich jetzt nicht verletzen, sonst würde der Bogen da abbrechen. Das Splintholz ist das weiße Holz und davon muss ich jetzt fünf bis sechs Millimeter drauf haben und der Rest muss runter, da drüben sieht man‘s, auf der Seite, hier ist es noch sehr dick und dann kann ich auf der Innenseite des Bogens weiter machen und den Bauch rausarbeiten. Das Splintholz ist sehr zugresistent und das dunkle Kernholz ist sehr druckresistent. Auf der Innenseite des Bogens brauche ich ja diesen Druckaufbau und dafür ist dieses Holz halt sehr geeignet hier, besser als alle einheimischen Hölzer, die es damals hier gab."

    Wer einen Bogen schnitzt, kann eben nur einen Bogen schnitzen, modernes Multitasking kannten Wikinger noch nicht. Aber auch heute erfordern die nachgespielten ganz alltäglichen Verrichtungen über viele Stunden des Tages den vollen Einsatz der Wochenend-Wikinger. Am Ortseingang grillen einige Männer ein ganzes Schwein am Spiess über dem Feuer. Andere schmieden, schnitzen, töpfern oder verkaufen Trinkhörner und Tierfelle. Viele sehen mit ihren langen Bärten so aus, als ob sie nicht erst seit gestern Wikinger wären, und auch der zugehörige Nachwuchs spielt stilecht im Leinengewand bei 16 Grad mit nackten Füssen im Matsch. Vermutlich werden die nachfolgenden Erkältungen dann doch auf moderne Weise kuriert. Elke Thomsen arbeitet im wirklichen Leben im Krankenhaus, freiwilliger Verzicht auf Komfort und Hygiene als Kontrastprogramm?

    "Gestern hatte ich so'n bisschen Bedenken, wegen des Regens und des Winds, aber wer gern so ein bisschen Outdoor-Leben mag, ist eigentlich sehr schön. Es geht auch wirklich darum, es so ein bisschen authentisch zu gestalten, wie das Leben früher gewesen ist und das am eigenen Leib auch zu erfahren, also mit der Kleidung und den Dingen, mit denen man sich hier umgibt und die modernen heutigen Sachen mal Außen vor zu lassen und sich wirklich ein paar Tage auf die Zeitreise zu begeben."

    Bereits Ende des 19.Jahrhunderts hat man in Haithabu mit archäologischen Ausgrabungen begonnen. Die mittelalterliche Handelsmetropole verfiel am Ende des 11. Jahrhunderts vermutlich nicht zuletzt wegen des Wasseranstiegs von Ostsee und Schlei. Das Gelände, durch einen großen Erdwall begrenzt, blieb jahrhundertlang relativ unverändert. Besonders wegen des feuchten Bodens haben sich hier viele Gegenstände und Textilien sehr gut konserviert. Natürlich sind die Funde aus Haithabu: Münzen, Runensteine, Waffen und vor allem Schiffe nicht so aufsehenerregend, wie etwa Ausgrabungen aus römischer oder griechischer Zeit. Vielleicht auch gerade deshalb setzt man hier so sehr auf gelebte Geschichte.

    An den Holzplanken der Anlegestelle von Haithabu hat sich inzwischen ein buntes Völkchen versammelt: Wikinger mit langen hoffentlich mit Pflanzenfarbe gefärbten Leinenhemden und Kleidern, Wickelgamaschen und unbesohlten Lederschuhen, andere mit Designerbrillen und neuzeitlichem Handy am Ohr, wieder andere in mittelalterlichen Fantasy-Gewändern mit Spangen und Schleiern verziert. Auch die zu Besuch gekommenen Hobbywikinger wollen einmal eine Rundfahrt mit den wendigen Segelbooten unternehmen, mit denen die Nordmänner an so ziemlich jeder Küste in Europa gelandet sind, um auf Raubzug zu gehen. 843 brannten sie Nantes nieder, 844 Sevilla, 845 Paris , 881Köln, Mainz und Worms. Doch die meisten Wikinger waren gar keine Räuber und Plünderer, die mit Booten loszogen, um andere zu überfallen, betont Harm Paulsen.

    "Viele Leute, wenn die Wikinger hören, die meinen ja immer diese Schreihälse, die da mit viel Geschrei über Andere herfallen und dann Klöster abbrennen und so weiter, aber die wollen wir gar nicht machen, das dürfen wir ja auch gar nicht und deswegen wollen wir lieber die, vertreten oder auch darstellen, die zu Hause geblieben sind. Die haben das Normale gemacht, das sind auch keine Wikinger. Also wenn man einen Händler hier mit Wikinger anredet, das wäre das Gleiche, als würden wir einen Bänker heute mit Piraten anreden, das sind die zwar manchmal welche, aber, deswegen Wikinger sind Leute, die auf Plünderungsfahrt gehen und die meisten Leute waren ja ganz fleißige Handwerker, Siedler oder auch Bauern und so weiter und die haben es nicht verdient, Plünderer oder Pirat genannt zu werden."

    Und wie ist es nun mit den anderen Wikingern, die wüst aussehenden Gesellen, die man überall in Schleswig auf den Plakaten sieht? Ute Harms:

    "Damit wollen wir nichts zu tun haben. Wenn also hier die Leute mit rekonstruierten Kleidern rumlaufen, dann sind die nach Vorbildern aus Haithabu gemacht und nicht irgendwelche Phantasiekleider. Wenn man hier irgendwo eine Holzsteinschale oder eine Specksteinschale sieht, dann kann man das Vorbild dazu im Museum betrachten und wir haben bei unseren Veranstaltungen auch den Anspruch eine Szene zu präsentieren nach dem Motto: So könnte es gewesen sein."

    Und mit noch ein paar Anderen will man hier nichts zu tun haben, nämlich mit all jenen, die den Nordmännerkult noch auf ganz andere Weise wiederbeleben wollen. Immerhin sicherten sich einst die Nazis das Grundeigentum an der berühmten nordischen Wiese und unter Himmler begannen die ersten archäologischen Großgrabungen in Haithabu. Als kraftstrotzende Vertreter der arischen Rasse waren die Wikinger eine Weile lang Kult in der braunen Szene, erzählt Arne Elger:

    "Das hängt ja damit zusammen, dass das allseits geliebte Hakenkreuz ein Sonnensymbol war und das haben die Jungs sich dann natürlich mit auf die Fahne geschrieben und dann das nordische, Arische, vor zehn Jahren war‘s mal so, dass dann abends gerne mal ein paar Patrioten ins Lager kamen, aber denen wurde dann auch schnell erklärt, dass es irgendwie nicht ihre Liga ist, sage ich mal, aber mittlerweile eigentlich gar nichts mehr, aber ich glaube, die Szene ist auch hier im ländlichen Bereich ziemlich eingeschlafen, was den Nazikram da angeht."
    Kein Schwerterklirren und Schlachtengetümmel, nur leises Flötenspiel und ruhiges Markttreiben – die Wikinger von Haithabu haben ein stilles zurückgezogenes Leben und wenn man Glück hat, spricht einer der Berufswikinger im Dorf sogar noch mal in einer Sprache aus längst vergangenen Tagen, einer Sprache, die dem Isländischen sehr nahe kommt.

    "Wenn man genau hinhört, kann man es fast verstehen: Sven Kunikur sat this stin, Sven König setzte den Stein, das ist kein Grab, das ist ein Gedenkstein, die findet man oft in Skandinavien und hier in Haithabu einige Male, das sind so diese Runensteine. Der ist gesetzt worden von König Sven für seinen Gefolgsmann, der war wohl sein bester Freund und das hat ihn sehr geschmerzt, dass er gefallen ist."

    Modernes Wikingersein ist eine kontemplative Beschäftigung für Menschen mit Freude an Naturmaterialien und Mut zum Ungewaschen Sein. Und sie liegt gerade ein wenig im Trend, in Zeiten, in denen man sich ab und zu gern beweisen will, dass es zur Not auch mit ganz wenig geht.