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Gelebte Inklusion oder gewählte Abgrenzung

Behinderte und nicht behinderte Menschen wohnen in der anthroposophischen Dorfgemeinschaft Tennental ganz selbstverständlich zusammen. Kritiker bemängeln, die Bewohner lernten dort, dass sie aufgrund ihrer Behinderung nicht arbeiten könnten, und grenzten sich so selbst aus der Gesellschaft aus.

Von Isa Hoffinger | 13.06.2013
    Eine Morgenfeier im Tennental. Draußen, über der schwäbischen Alb, hängen düstere Regenwolken. Drinnen, in einem großen Saal mit hohen Decken, sitzen rund 120 Menschen auf Klappstühlen aus Holz – und in Rollstühlen. Einige von ihnen wenden den Blick aufmerksam nach vorn zu einer leeren Bühne. Andere schauen zu ihren Zehenspitzen auf den Boden.

    Die Feier der anthroposophischen Dorfgemeinschaft dauert eine Stunde. Alle sechs bis sieben Minuten stehen jeweils zwei Tennentaler auf und lesen Sätze aus dem Evangelium, in den Pausen dazwischen herrscht Stille. Am Ende bildet eine Gruppe einen Kreis und spielt auf Stabglocken aus Kupfer. Normal ist dieser Ablauf nicht. Eigentlich wären die Tennentaler schon um sechs Uhr früh durch ihr Dorf spaziert, Richtung Osten. Doch an diesem Tag ist es zu kalt.

    Im Tennental, das 30 Kilometer südlich von Stuttgart liegt, wird täglich gelebt, was 2012 in einer UN-Konvention gefordert wurde und gerade heiß diskutiert wird: Inklusion. Behinderte und nicht behinderte Menschen wohnen hier zusammen. Gegründet wurde die Gemeinschaft nach dem Vorbild der Camphillbewegung. 1939 eröffnete der Wiener Kinderarzt Karl König in Schottland "Kirton House" bei Aberdeen, die erste Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für Menschen mit Behinderungen und ihre Betreuer.

    Die Bewohner waren schon damals in dorfeigenen Betrieben beschäftigt, in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und in kunstgewerblichen Werkstätten. Das ist auch im Tennental so. Es gibt eine Astholzwerkstatt, eine Einmachküche, in der Demetermarmelade hergestellt wird, eine Landwirtschaft mit Kühen und Schweinen und eine Biobäckerei. Heike, 45 Jahre alt, pflanzt Salate in den Gewächshäusern. Sie ist 1,50 groß, hat kurze braune Haare, ein offenes Lachen und sie erzählt gern. Wenn sie ausnahmsweise einmal keine Antwort auf eine Frage weiß, sagt sie das auch so. Heike hat das Downsyndrom.

    "Ich tu pikieren hauptsächlich und topfen. Jeder hat seinen Bereich. Einer macht das, der andere macht das."

    Heike mag ihre Arbeit. Und sie nimmt - wie alle Betreuten – sehr interessiert am religiösen Leben teil. Im Tennental ist es, ebenso wie in der Schwestergemeinschaft Lautenbach am Bodensee, nach den Grundsätzen der Christengemeinschaft aufgebaut. Das Zusammensein mit Gleichgesinnten bietet einen geschützten Raum - Heimat. Allerdings sind Dorfgemeinschaften oft abgeschieden gelegen, eine kleine Welt für sich. Genau das soll nach dem Willen der Politik in Zukunft anders werden. Gemeinschaften wie das Tennental, die Träger für Eingliederungshilfen nach dem Sozialgesetzbuch sind, müssen derzeit um Finanzspritzen bangen.

    Kritiker bemängeln, dass die meisten behinderten Menschen nicht in eigenen Wohnungen leben, auch dann nicht, wenn sie es könnten. Dass auch diejenigen, die kaum Betreuungsbedarf haben, oft keine Stelle auf dem freien Arbeitsmarkt annehmen wollen, sondern gelernt haben, dass sie das angeblich gar nicht können, weil sie behindert sind - und dass sie sich durch dieses Denkmuster selbst aus der Gesellschaft ausgrenzen. Die Heilerziehungspflegerin Lydia Bollmann hat ein Problem mit dieser Sichtweise.

    "Das eine ist, dass wir auf jeden Fall hier inkludiert leben, weit inkludierter als sich die Schacher der UN-Konvention das vorstellen konnten und können, weil wir hier wirklich Tisch an Tisch und Bett an Bett leben. Und wenn gesagt wird, diese Menschen sollen weniger Betreuung bekommen, dann werden die sicherlich ganz schnell in ein soziales Abseits geraten – die werden nicht integriert, sondern sie werden ganz am Rand sein."

    Zwölf moderne Wohnhäuser gibt es im Tennental, sie sind über barrierefreie Wege miteinander verbunden. Alle tragen den Namen eines Menschen, der ein Vorbild für die Gemeinschaft ist: Klee-Haus, Renate-Riemeck-Haus, Doldinger-Haus. Etwa zehn Menschen bilden jeweils eine Hausfamilie. Mitglied der Christengemeinschaft muss man nicht sein, um einziehen zu dürfen. Aber wer die Ausbildung zum Heilerziehungspfleger absolvieren möchte oder wer sein behindertes Kind hierher schickt, sollte offen für die spirituelle Weltsicht von Rudolf Steiner sein, meint Stephanie Grothhaus.

    "Wir leben und arbeiten auf der heilpädagogischen Grundlage von Rudolf Steiner. Wir sind eine offene Gesellschaft hier, aber was wir erwarten, sind Respekt und Achtung vor der Anthroposophie."

    Stephanie Grothhaus ist 56 Jahre alt und hat die Dorfgemeinschaft mitgegründet.

    "Ich bin aus politischen Gründen hier. Ich habe einfach das starke Bedürfnis, hier Gesellschaft mitzuprägen, nicht Gesellschaft in einem großen Maßstab, sondern Gesellschaft in einem kleinen Maßstab, wo man die Bedürfnisse von möglichst vielen Menschen verwirklichen kann, und nicht von einer bestimmten Obrigkeit bestimmt wird – und das find ich hier eine sehr gute Möglichkeit, mitzugestalten, mitzuprägen."

    Unterschiede zwischen Betreuern und Betreuten bei der Kommunikation macht sie nicht.

    "Im Mitmenschlichen ist das wie mit jedem anderen Menschen auch. Man muss auf bestimmte Schwierigkeiten Rücksicht nehmen, aber die hat jeder Mensch. Ich hab meine Schwierigkeiten und andere Menschen haben andere Schwierigkeiten."

    Es ist kurz nach 19 Uhr. Lydia Bollmann, die Hausverantwortliche des Renate-Riemeck-Hauses, bewegt ein Windspiel, das vor dem Esszimmer im Erdgeschoss hängt. Die Klänge rufen die Bewohner zum Bibelabend. Ein Mal in der Woche liest Lydia Bollmann aus dem Evangelium. Nicht alle aus ihrer sozialtherapeutischen Wahlfamilie verstehen, worum es geht, aber Lydia Bollmann gibt sich Mühe, es zu erklären. Sie verteilt kleine Karten mit Bildern von biblischen Szenen. Jeder darf sagen, was er auf seiner Karte sieht und wie es ihm gefällt.

    "Bei mir ist es so, dass oben an der Decke die Teufel hängen und so Heilige auf der anderen Seite, die ihm folgen. Und hier unten ist so ein Kreuz bei mir."

    Wiebke ist 44 Jahre alt und sehr selbstbewusst. Dass Jesus kein Irrlehrer war, wie es in der Bibelstelle dieses Tages heißt, daran glaubt sie ganz fest. Beim Singen ist sie die Lauteste. Lydia Bollmann meint, sie könne viel von Wiebke und den anderen Betreuten lernen.

    "Das Leben hier führt einen laufend vor Situationen, wo man merkt, ich bin so behindert, ich kann das gar nicht. Und das ist ganz heilsam, wenn man lernt, seine eigenen Behinderungen zu erkennen, da verliert man Hochmut. Ich kann ja auch fragen, woher nehme ich mir überhaupt die Berechtigung, der Regine zu sagen oder einem unserer betreuten Menschen hier, du musst dich so oder so verhalten? Und die moralische Berechtigung bekomme ich dadurch, dass ich selber auf so einen Weg begebe, an meinen eigenen Behinderungen zu arbeiten."