"Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise."
Der Auftakt von Lew Tolstojs grandioser "Anna Karenina" ist einer der berühmtesten ersten Sätze der Weltliteratur. Viele haben ihn zitiert und variiert, auch Vladimir Nabokov, der ihn in "Ada oder das Verlangen" ironisch ins Gegenteil verkehrte.
Rosemarie Tietze, preisgekrönte Übersetzerin aus dem Russischen und mutige Vorkämpferin für die Belange ihres Berufstands, hat gleich bei diesem ersten Satz ihrer Neuübersetzung von "Anna Karenina" einen Grundsatz über Bord werfen müssen:
"Wenn Varianten zur Verfügung standen, und das ist ja beim Übersetzen andauernd der Fall, habe ich mich immer für die kürzeste entschieden. Hier nicht, und zwar aus klanglichen Gründen: Wenn Sie schreiben würden, 'Alle glücklichen Familien gleichen einander ... ' dann gluckst das mit diesen "GLs" so vor sich, das fand ich grauenhaft."
Trotz des gelungenen Kompromisses zwischen Kürze und Lautgestalt hat die Übersetzerin ein wenig mit Tolstojs Roman-Anfang gehadert:
"Geärgert hat mich der erste Satz deshalb, weil man bei einer Sentenz einfach nicht sehr viel an einer Übersetzung machen kann, die ist nun mal so langweilig wie der erste Satz beim Autor. Sentenz ist Sentenz, und natürlich möchte man bei einer Neuübersetzung möglichst rasch dem Leser zeigen – bei mir geht's jetzt in eine andere Richtung. Aber das kann ich erst mit dem zweiten Satz zeigen."
Drunter und drüber ging es bei den Oblonskis. Die Frau des Hauses hatte erfahren, dass ihr Mann eine Liaison hatte mit einer Französin, die als Gouvernante im Haus gewesen war, und hatte ihrem Mann verkündet, dass sie nicht mehr im selbem Haus mit ihm leben könne. Diese Situation dauerte schon den dritten Tag und wurde sowohl von den Eheleuten wie von allen Familienmitgliedern und Hausgenossen als qualvoll empfunden. Alle Familienmitglieder und Hausgenossen hatten das Gefühl, dass ihr Zusammenleben keinen Sinn habe und dass in jedem Absteigequartier die zusammengewürfelten Gäste mehr miteinander verbinde als sie, die Familienmitglieder und Hausgenossen der Oblonskis. Die Frau des Hauses kam nicht aus ihren Räumen, ihr Mann war den dritten Tag nie daheim. Die Kinder rannten wie verloren im Haus herum; die Engländerin hatte sich mit der Wirtschafterin zerstritten und schrieb einer Freundin ein Billet, sie möge sich nach einer neuen Stelle für sie umtun; der Koch hatte gestern das Weite gesucht, noch während des Diners; Küchenmagd und Kutscher baten um Auszahlung."
Es ist die schöne, lebensvolle Anna Karenina, die aus Petersburg herbeieilt, um die Ehe ihres leichtsinnigen Bruders Stepan Oblonski zu kitten. Die Mission gelingt, doch Anna, die mit einem hohen Beamten verheiratet ist, verliebt sich auf dieser Reise in den strahlenden jungen Offizier Wronski. Es ist der Anfang ihres tragischen Endes, denn Anna, die auf ihrer Liebe besteht, wird von ihrem Mann zum Verzicht auf ihren Sohn gezwungen und von der Gesellschaft, selbst von engen Freunden, geächtet. Als sie schließlich an der Zuneigung des Mannes, dem sie alles geopfert hat, zweifeln muss, wirft sie sich vor den Zug. Lew Tolstoj, der später so sittenstrenge wie misogyne Erzähler, begleitet seine unglückliche Heldin mit Mitleid und unverhohlener Sympathie.
"Anna Karenina", einer der größten Romane der Weltliteratur, wurde insgesamt 20 Mal ins Deutsche übertragen – Rosemarie Tietze hat nachgezählt. Ihre Neuübersetzung ist die 21. – doch wohl die erste, die mit Anmerkungen und Nachwort aus der Hand des Übersetzers veröffentlicht wird. Bei der neuen "Anna Karenina" ist also alles aus einem Guss – der Leser profitiert davon. Dass gerade Neuübersetzungen heute oft von den Übersetzern kommentiert und mit einem Nachwort versehen erscheinen, zeigt wie sehr sie sich als Literatur-Erforscher und Vermittler sehen und wie stark auf seiten der Verlage und des Publikums die Wertschätzung für ihre Arbeit gewachsen ist.
"Neuübersetzungen sind immer dann notwendig, wenn ein Werk der Weltliteratur, wie das hier bei 'Anna Karenina' der Fall ist, ungefähr 50 Jahre nicht mehr ins Deutsche gebracht wurde. Beim Übersetzen haben sich die Zielvorgaben und Strategien außerordentlich geändert. Es ist so, dass frühere Übersetzer darauf aus waren, eine möglichst klare Inhaltsangabe zu geben. Bei früheren Übersetzungen hat sich die sprachliche Gestalt nie soweit ausgewirkt, wie das heute der Fall wäre."
Die Übersetzerin spricht von der Makrostruktur eines Werks, die auch frühere Übersetzungen immer gewahrt haben, während sie dem sprachlichen Gewebe, dem Sprachkunstwerk zu wenig Beachtung schenkten.
"Wiederholungen hat man früher meist gemieden, man hat sie aufgelöst – oder hat sie nur, wenn sie ganz nah beieinander standen, wahrgenommen als Absicht des Autors und dann auch wiedergegeben im Deutschen. Meiner Ansicht nach macht Tolstoj auf eine für die damalige Zeit ganz unübliche Weise sehr, sehr stark Wiederholungen. Er arbeitet nicht nur bei den Wörtern, sondern auch im Satzbau mit Wiederholungsschleifen, die zum Teil so aufdringlich sind, dass sie geradezu an Gertrude Stein erinnern. Das ist eine Grundstruktur, die ich versucht habe nachzubilden."
Rosemarie Tietzes Übersetzung verstößt gegen das unausgesprochene Credo ihrer Vorgänger, besonders in der wörtlichen Rede das flüchtig Dahingesagte, das Unfertige und die halben Sätze zu vervollständigen und im Deutschen schön und ordentlich erscheinen zu lassen. So gelingt es der Übersetzerin, Tolstojs stilistische Vielfalt in der Rede seiner Helden sichtbar zu machen. Anregung und Schützenhilfe hat sie sich übrigens bei einem deutschen Zeitgenossen des Autors geholt.
"Da war für mich grundlegend wichtig die Lektüre von Fontane, und nicht nur seiner Romane, die ja im übrigen ein ähnliches Thema behandeln, sondern was mir wirklich am allermeisten genützt hat, war sein Briefwechsel, sein Ehebriefwechsel. Er hat mir sehr viel Aufschluss gegeben, was in der damaligen Zeit an Umgangssprachlichem möglich war."
Ein guter Übersetzer schreibt nichts hin, was er selbst nicht versteht. Weil Rosemarie Tietze nicht verstehen konnte, warum Schnee und Wind ins Annas Eisenbahnabteil eindringen, wenn die Waggontür geöffnet wird, ist sie nach Petersburg ins russische Eisenbahn-Museum gereist – sie konnte sich das Innere dieses Waggons einfach nicht vorstellen. Aber auch dort fand sich kein Modell, das Tolstojs Beschreibung entsprochen hätte. Erst in einer englischen Ausgabe von Nabokovs großartigem Aufsatz über "Anna Karenina" entdeckte die Übersetzerin eine Zeichnung von Nabokovs Hand, aus der hervorgeht, dass es sich um einen Wagen mit offenen, nicht abgetrennten Abteilen gehandelt haben muss. Weil es streng genommen also gar kein Abteil ist, in dem die Heldin reist, heißt es nun in der Neuübersetzung "Compartiment".
Als russischer Adliger und Gutsbesitzer, der sich in der Zeit, als er "Anna Karenina" schrieb, hingebungsvoll um die Landwirtschaft kümmerte, und überdies ein Pferdenarr und passionierter Jäger war, benutzt Tolstoj hin und wieder Fachbegriffe, deren deutsche Entsprechung ebenfalls nicht leicht zu ermitteln war.
"Zum Beispiel die Schnepfenjagd. Schnepfen werden bei uns heute gar nicht mehr gejagt. Wo finden Sie dann jemanden, der Ihnen über die Schnepfenjagd Auskunft gibt?"
"Lewins Blick fuhr nach rechts, nach links, und da zeigte sich vor ihm, am trüb-blauen Himmel, über den schon verschwimmenden zarten Trieben an den Espenwipfeln, ein streichender Vogel. Er strich geradewegs auf ihn zu, unmittelbar über seinem Kopf erklang das Quorren, das sich anhörte, als würde straff gespannter Stoff langsam zerrissen; schon war der lange Stecher und der Hals des Vogels zu sehen, und in dem Moment, als Lewin anlegte, zuckte hinter dem Gebüsch, wo Oblonski stand, ein roter Blitz; der Vogel schoss wie ein Pfeil herab und schwang sich erneut hoch. Wieder zuckte ein Blitz, ein Schlag war zu hören, und mit den Schwingen flatternd, als suchte er sich in der Luft zu halten, stockte der Vogel, verharrte einen Augenblick und klatschte schwer auf den sumpfigen Boden."
"Es steckt eine ganz große Kunstfertigkeit darin, wie Tolstoj in Nebenbemerkungen, in ganz kleinen Versatzstücken und Splittern ein Bild seiner Zeit zeichnet. Das Buch spielt in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts, also in dem Jahrzehnt, nachdem in Russland die Leibeigenschaft aufgehoben wurde. Und das heißt, dass in dieser Zeit das Ganze soziale Gefüge geändert wurde. Es mussten neue Gesetze eingeführt werden, es gab neue Institutionen, zum Beispiel das Semstvo, die Vertretung einiger Stände in der Provinz, die bestimmte Mitspracherechte bekommen. Das ist ein Hintergrund, der unbedingt dazu gehört. Und diesen Hintergrund klar und farbig werden zu lassen, das war auch eines der wichtigsten Ziele meiner Arbeit."
Rosemarie Tietze hat historische Begriffe nicht umschrieben, auch auf die Gefahr hin, dass ein heutiger Leser sie kaum mehr kennt. So bleibt die Übersetzung von den Schmutzpartikeln der Umschreibung frei – und ein Blick in die Anmerkungen, die gebündelt und nach Seitenzahlen sortiert am Schluss stehen, sorgt bei Bedarf für Aufklärung. Einige Hinweise verdankt die Übersetzerin übrigens dem glühenden Tolstoj-Verehrer Nabokov, der einst die ersten hundert Seiten des Romans mit Anmerkungen versah.
In ihrem Nachwort nimmt Rosemarie Tietze ihre Vorgänger in Schutz – auch Übersetzungen spiegeln den Erkenntnisstand ihrer Zeit. Die Vorstellung von einer "richtigen", endgültigen Übersetzung, die ein Spiegelbild des Originals wäre, lehnt die Übersetzerin ohnehin ab. Auch wenn sich in fünfzig Jahren wieder ein Übersetzer der gewaltigen Mühe einer Neu-Übersetzung unterziehen wird – hier und jetzt haben wir eine "Anna Karenina", die gelungen ist und allen Freunden großer Erzählkunst ans Herz gelegt sei.
Lew Tolstoi, Anna Karenina.
Neu übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze.
Carl Hanser Verlag 2009, 1285 Seiten.
Der Auftakt von Lew Tolstojs grandioser "Anna Karenina" ist einer der berühmtesten ersten Sätze der Weltliteratur. Viele haben ihn zitiert und variiert, auch Vladimir Nabokov, der ihn in "Ada oder das Verlangen" ironisch ins Gegenteil verkehrte.
Rosemarie Tietze, preisgekrönte Übersetzerin aus dem Russischen und mutige Vorkämpferin für die Belange ihres Berufstands, hat gleich bei diesem ersten Satz ihrer Neuübersetzung von "Anna Karenina" einen Grundsatz über Bord werfen müssen:
"Wenn Varianten zur Verfügung standen, und das ist ja beim Übersetzen andauernd der Fall, habe ich mich immer für die kürzeste entschieden. Hier nicht, und zwar aus klanglichen Gründen: Wenn Sie schreiben würden, 'Alle glücklichen Familien gleichen einander ... ' dann gluckst das mit diesen "GLs" so vor sich, das fand ich grauenhaft."
Trotz des gelungenen Kompromisses zwischen Kürze und Lautgestalt hat die Übersetzerin ein wenig mit Tolstojs Roman-Anfang gehadert:
"Geärgert hat mich der erste Satz deshalb, weil man bei einer Sentenz einfach nicht sehr viel an einer Übersetzung machen kann, die ist nun mal so langweilig wie der erste Satz beim Autor. Sentenz ist Sentenz, und natürlich möchte man bei einer Neuübersetzung möglichst rasch dem Leser zeigen – bei mir geht's jetzt in eine andere Richtung. Aber das kann ich erst mit dem zweiten Satz zeigen."
Drunter und drüber ging es bei den Oblonskis. Die Frau des Hauses hatte erfahren, dass ihr Mann eine Liaison hatte mit einer Französin, die als Gouvernante im Haus gewesen war, und hatte ihrem Mann verkündet, dass sie nicht mehr im selbem Haus mit ihm leben könne. Diese Situation dauerte schon den dritten Tag und wurde sowohl von den Eheleuten wie von allen Familienmitgliedern und Hausgenossen als qualvoll empfunden. Alle Familienmitglieder und Hausgenossen hatten das Gefühl, dass ihr Zusammenleben keinen Sinn habe und dass in jedem Absteigequartier die zusammengewürfelten Gäste mehr miteinander verbinde als sie, die Familienmitglieder und Hausgenossen der Oblonskis. Die Frau des Hauses kam nicht aus ihren Räumen, ihr Mann war den dritten Tag nie daheim. Die Kinder rannten wie verloren im Haus herum; die Engländerin hatte sich mit der Wirtschafterin zerstritten und schrieb einer Freundin ein Billet, sie möge sich nach einer neuen Stelle für sie umtun; der Koch hatte gestern das Weite gesucht, noch während des Diners; Küchenmagd und Kutscher baten um Auszahlung."
Es ist die schöne, lebensvolle Anna Karenina, die aus Petersburg herbeieilt, um die Ehe ihres leichtsinnigen Bruders Stepan Oblonski zu kitten. Die Mission gelingt, doch Anna, die mit einem hohen Beamten verheiratet ist, verliebt sich auf dieser Reise in den strahlenden jungen Offizier Wronski. Es ist der Anfang ihres tragischen Endes, denn Anna, die auf ihrer Liebe besteht, wird von ihrem Mann zum Verzicht auf ihren Sohn gezwungen und von der Gesellschaft, selbst von engen Freunden, geächtet. Als sie schließlich an der Zuneigung des Mannes, dem sie alles geopfert hat, zweifeln muss, wirft sie sich vor den Zug. Lew Tolstoj, der später so sittenstrenge wie misogyne Erzähler, begleitet seine unglückliche Heldin mit Mitleid und unverhohlener Sympathie.
"Anna Karenina", einer der größten Romane der Weltliteratur, wurde insgesamt 20 Mal ins Deutsche übertragen – Rosemarie Tietze hat nachgezählt. Ihre Neuübersetzung ist die 21. – doch wohl die erste, die mit Anmerkungen und Nachwort aus der Hand des Übersetzers veröffentlicht wird. Bei der neuen "Anna Karenina" ist also alles aus einem Guss – der Leser profitiert davon. Dass gerade Neuübersetzungen heute oft von den Übersetzern kommentiert und mit einem Nachwort versehen erscheinen, zeigt wie sehr sie sich als Literatur-Erforscher und Vermittler sehen und wie stark auf seiten der Verlage und des Publikums die Wertschätzung für ihre Arbeit gewachsen ist.
"Neuübersetzungen sind immer dann notwendig, wenn ein Werk der Weltliteratur, wie das hier bei 'Anna Karenina' der Fall ist, ungefähr 50 Jahre nicht mehr ins Deutsche gebracht wurde. Beim Übersetzen haben sich die Zielvorgaben und Strategien außerordentlich geändert. Es ist so, dass frühere Übersetzer darauf aus waren, eine möglichst klare Inhaltsangabe zu geben. Bei früheren Übersetzungen hat sich die sprachliche Gestalt nie soweit ausgewirkt, wie das heute der Fall wäre."
Die Übersetzerin spricht von der Makrostruktur eines Werks, die auch frühere Übersetzungen immer gewahrt haben, während sie dem sprachlichen Gewebe, dem Sprachkunstwerk zu wenig Beachtung schenkten.
"Wiederholungen hat man früher meist gemieden, man hat sie aufgelöst – oder hat sie nur, wenn sie ganz nah beieinander standen, wahrgenommen als Absicht des Autors und dann auch wiedergegeben im Deutschen. Meiner Ansicht nach macht Tolstoj auf eine für die damalige Zeit ganz unübliche Weise sehr, sehr stark Wiederholungen. Er arbeitet nicht nur bei den Wörtern, sondern auch im Satzbau mit Wiederholungsschleifen, die zum Teil so aufdringlich sind, dass sie geradezu an Gertrude Stein erinnern. Das ist eine Grundstruktur, die ich versucht habe nachzubilden."
Rosemarie Tietzes Übersetzung verstößt gegen das unausgesprochene Credo ihrer Vorgänger, besonders in der wörtlichen Rede das flüchtig Dahingesagte, das Unfertige und die halben Sätze zu vervollständigen und im Deutschen schön und ordentlich erscheinen zu lassen. So gelingt es der Übersetzerin, Tolstojs stilistische Vielfalt in der Rede seiner Helden sichtbar zu machen. Anregung und Schützenhilfe hat sie sich übrigens bei einem deutschen Zeitgenossen des Autors geholt.
"Da war für mich grundlegend wichtig die Lektüre von Fontane, und nicht nur seiner Romane, die ja im übrigen ein ähnliches Thema behandeln, sondern was mir wirklich am allermeisten genützt hat, war sein Briefwechsel, sein Ehebriefwechsel. Er hat mir sehr viel Aufschluss gegeben, was in der damaligen Zeit an Umgangssprachlichem möglich war."
Ein guter Übersetzer schreibt nichts hin, was er selbst nicht versteht. Weil Rosemarie Tietze nicht verstehen konnte, warum Schnee und Wind ins Annas Eisenbahnabteil eindringen, wenn die Waggontür geöffnet wird, ist sie nach Petersburg ins russische Eisenbahn-Museum gereist – sie konnte sich das Innere dieses Waggons einfach nicht vorstellen. Aber auch dort fand sich kein Modell, das Tolstojs Beschreibung entsprochen hätte. Erst in einer englischen Ausgabe von Nabokovs großartigem Aufsatz über "Anna Karenina" entdeckte die Übersetzerin eine Zeichnung von Nabokovs Hand, aus der hervorgeht, dass es sich um einen Wagen mit offenen, nicht abgetrennten Abteilen gehandelt haben muss. Weil es streng genommen also gar kein Abteil ist, in dem die Heldin reist, heißt es nun in der Neuübersetzung "Compartiment".
Als russischer Adliger und Gutsbesitzer, der sich in der Zeit, als er "Anna Karenina" schrieb, hingebungsvoll um die Landwirtschaft kümmerte, und überdies ein Pferdenarr und passionierter Jäger war, benutzt Tolstoj hin und wieder Fachbegriffe, deren deutsche Entsprechung ebenfalls nicht leicht zu ermitteln war.
"Zum Beispiel die Schnepfenjagd. Schnepfen werden bei uns heute gar nicht mehr gejagt. Wo finden Sie dann jemanden, der Ihnen über die Schnepfenjagd Auskunft gibt?"
"Lewins Blick fuhr nach rechts, nach links, und da zeigte sich vor ihm, am trüb-blauen Himmel, über den schon verschwimmenden zarten Trieben an den Espenwipfeln, ein streichender Vogel. Er strich geradewegs auf ihn zu, unmittelbar über seinem Kopf erklang das Quorren, das sich anhörte, als würde straff gespannter Stoff langsam zerrissen; schon war der lange Stecher und der Hals des Vogels zu sehen, und in dem Moment, als Lewin anlegte, zuckte hinter dem Gebüsch, wo Oblonski stand, ein roter Blitz; der Vogel schoss wie ein Pfeil herab und schwang sich erneut hoch. Wieder zuckte ein Blitz, ein Schlag war zu hören, und mit den Schwingen flatternd, als suchte er sich in der Luft zu halten, stockte der Vogel, verharrte einen Augenblick und klatschte schwer auf den sumpfigen Boden."
"Es steckt eine ganz große Kunstfertigkeit darin, wie Tolstoj in Nebenbemerkungen, in ganz kleinen Versatzstücken und Splittern ein Bild seiner Zeit zeichnet. Das Buch spielt in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts, also in dem Jahrzehnt, nachdem in Russland die Leibeigenschaft aufgehoben wurde. Und das heißt, dass in dieser Zeit das Ganze soziale Gefüge geändert wurde. Es mussten neue Gesetze eingeführt werden, es gab neue Institutionen, zum Beispiel das Semstvo, die Vertretung einiger Stände in der Provinz, die bestimmte Mitspracherechte bekommen. Das ist ein Hintergrund, der unbedingt dazu gehört. Und diesen Hintergrund klar und farbig werden zu lassen, das war auch eines der wichtigsten Ziele meiner Arbeit."
Rosemarie Tietze hat historische Begriffe nicht umschrieben, auch auf die Gefahr hin, dass ein heutiger Leser sie kaum mehr kennt. So bleibt die Übersetzung von den Schmutzpartikeln der Umschreibung frei – und ein Blick in die Anmerkungen, die gebündelt und nach Seitenzahlen sortiert am Schluss stehen, sorgt bei Bedarf für Aufklärung. Einige Hinweise verdankt die Übersetzerin übrigens dem glühenden Tolstoj-Verehrer Nabokov, der einst die ersten hundert Seiten des Romans mit Anmerkungen versah.
In ihrem Nachwort nimmt Rosemarie Tietze ihre Vorgänger in Schutz – auch Übersetzungen spiegeln den Erkenntnisstand ihrer Zeit. Die Vorstellung von einer "richtigen", endgültigen Übersetzung, die ein Spiegelbild des Originals wäre, lehnt die Übersetzerin ohnehin ab. Auch wenn sich in fünfzig Jahren wieder ein Übersetzer der gewaltigen Mühe einer Neu-Übersetzung unterziehen wird – hier und jetzt haben wir eine "Anna Karenina", die gelungen ist und allen Freunden großer Erzählkunst ans Herz gelegt sei.
Lew Tolstoi, Anna Karenina.
Neu übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze.
Carl Hanser Verlag 2009, 1285 Seiten.