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Gelungene Nothilfe

Nach dem Erdbeben auf Haiti reagierten internationale Hilfsgruppen schnell. Deswegen werden die meisten Bewohner von Port-au-Prince heute, drei Monate danach, mit dem Notwendigen versorgt. Bis die Bewohner wieder in festen Häusern leben können und das Gemeinwesen funktioniert, kann es aber noch lange dauern.

Von Michael Castritius |
    Singen lenkt ab. Die 200 Kinder in einem Notzentrum stört weder die Enge der Kirchenräume noch die schweißtreibende Hitze. Etwas spielen, etwas tanzen, Gespräche mit den Erwachsenen, das vertreibt zumindest für ein paar Stunden die Erinnerungen an die Katastrophe, die die Kleinen ab drei Jahren traumatisiert haben.

    Und mit Unterstützung der deutschen Kindernothilfe gibt es einmal am Tag warmes Essen, das ist auch drei Monate nach dem Beben noch lange keine Selbstverständlichkeit hier in Wharf Jeremie, einem der schlimmsten Slums von Port-au-Prince. Drei Viertel der 200 Kinder sind Restavecs, Kindersklaven, die in fremden Familien schuften müssen. Die 13-jährige Ketlène putzte gerade die Hütte, als am 12. Januar Port-au-Prince in Schutt und Asche fiel.

    "Ich bin vor Angst aus dem Haus gerannt und hingefallen, wieder aufgestanden und noch mal hingefallen, weil es so gewackelt hat. Da habe ich gesehen, dass alle Leute im Dreck lagen und bin auch liegen geblieben. Angst habe ich heute noch. Gerade gestern Abend gab es ein Nachbeben und alle Leute hatten ganz viel Panik. Manchmal träume ich nachts vom Erdbeben und dann sehe ich mich im Meer, das Wasser steigt immer mehr und ich sterbe."

    Über eine Million Kinder sind durch das Erdbeben obdachlos geworden, leben jetzt auf der Straße, auf Plätzen und Freiflächen. Viele haben Zelte oder Planen aus der internationalen Hilfe erhalten, andere warten noch.

    Das haitianische Rote Kreuz hat Wasser auf den ehemaligen Militärflughafen von Port-au-Prince gebracht. Kinder, Männer und Frauen stehen in der Gosse und seifen sich ein, Schamgefühle haben keinen Platz, Intimsphäre gibt es hier in dem provisorischen Lager tausender Obdachloser sowieso nicht. Notdürftige Hütten, Zelte sind hier Fehlanzeige. Wütende Frauen scharen sich um mein Mikrofon.

    Blanc, Weißer, das ist die übliche, nicht unhöfliche Anrede für Fremde. Blanc, warum bekommen wir hier nur Wasser, sonst nichts, klagen die ausgemergelten Frauen durcheinander. Ausgehungert seien sie sich selbst überlassen. Der Lärmpegel steigt, als ich nach der haitianischen Regierung frage. "Nichts, nichts, Präsident Préval hat gar nichts für uns getan." Nur Jesus stehe ihnen bei, hier, zwischen dem Müll, der sich auf dem verlassenen Gelände angesammelt hatte. Tagsüber brennt die Sonne auf die elendigen Behausungen, abends steht oft alles unter Wasser. Heftige Tropengüsse künden von der beginnenden Regenzeit.

    Ja, da am ehemaligen Militärflughafen gebe es noch Defizite, sagt mir später der Koordinator der Hilfsorganisation Oxfam Marcel Stössel - trotz der internationalen Hilfe, die wahrlich historische Ausmaße hat.

    "Im Großen und Ganzen kommt die Hilfe an. Es gab keine Epidemien nach dem Erdbeben, es gab keine Hungersnot, und das ist auch ein Erfolg der Haitianer selbst, die sich auch selbst geholfen haben, aber auch der ganzen Hilfsorganisationen, dass es nicht zu einer zweiten Katastrophe kam."

    Oxfam hat eine Umfrage durchgeführt: was wollen die Haitianer am dringendsten. Ergebnis: erstens Jobs, zweites Schulen, drittens feste Unterkünfte und viertens nationale Produktion.

    Überall sind Trupps damit beschäftigt, Schutt abzutragen. Denn von Wiederaufbau kann in Port-au-Prince noch lange nicht die Rede sein. Erst wenige Trümmerberge sind beseitigt. Seit einer Woche fressen sich Bagger in die Ruine des Nationalpalastes - ein symbolisches Bild, der Stolz der Nation wird zermalmt.

    Mit Bargeld-gegen-Arbeit-Programmen schlagen Organisationen wie die deutsche Welthungerhilfe gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie bezahlen Haitianer mit dem Mindestlohn, rund vier Euro am Tag, dafür, Schutt abzutragen.

    Damit wird aufgeräumt und es kommt etwas Kaufkraft unter die Bevölkerung. An den Straßenrändern floriert wieder das normale Chaos der informellen Verkäufer - schon vor dem Beben haben sich 90 Prozent der haitianischen Erwerbstätigen ohne geregelte Arbeit durchgeschlagen.

    Die Nothilfe soll nach und nach auslaufen, außer für die Bedürftigsten. Schließlich muss auch der Wirtschaftskreislauf langsam wieder in Gang kommen, wenn es alles umsonst gibt, kann das nicht klappen. Michael Kühn von der Welthungerhilfe zieht eine Zwischenbilanz.

    "Selbst wenn ich sagen würde, dass die Nothilfe-Maßnahmen hier in Haiti erfolgreich angelaufen sind, kann man nicht davon sprechen, dass eine Bilanz überhaupt positiv sein kann, dafür ist das Ausmaß der Katastrophe einfach viel zu groß und viel zu umfassend. Die Nothilfe-Maßnahmen der beteiligten internationalen Akteure sind sehr schnell angelaufen für das Maß an logistischem Albtraum, was man hier in Port-au-Prince vorfindet. Selbstverständlich reicht das nicht. Das wichtigste im Moment ist, dass die Menschen so schnell wie möglich wieder in festen Häusern wohnen können. Das wird sicherlich noch ein bis zwei Jahre dauern."


    Auch die internationale Gemeinschaft denkt im Fall von Haiti langfristig. Denn hier müssen nicht nur Gebäude aufgebaut werden, sondern ein funktionierender Staat. Schon vor dem Beben lebten 80 Prozent der Menschen im Elend. Von Neuanfang spricht auch Reginald Boulos, Präsident der Industrie- und Handelskammer, und geht mit Selbstkritik voran.

    "Wenn 90 von 1000 Kindern im Säuglingsalter sterben, ist das nicht die größte Menschenrechtsverletzung, die man sich vorstellen kann? Ich sehe jeden Tag, wie in diesem Land Menschenrechte verletzt werden; einfach nur, indem zum Beispiel Kindern das Grundrecht auf Bildung vorenthalten wird. Dazu kommen Vergewaltigungen, Gewalt. Das sind kriminelle Taten. Aber für fehlende Bildung und Gesundheitsversorgung sind wir verantwortlich, als Staat. Wir sind also auch kriminell."

    Natürlich müssten die Haitianer ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen - unter internationaler Kontrolle. Sein Verband hat dazu Punkte erarbeitet, die in den Plan der Regierung eingeflossen sind.

    "Wir glauben an eine gute Zukunft für Haiti, wenn wir lernen, unser Land zu lieben. In der Dominikanischen Republik, in Brasilien lieben sie ihr Land. Die Haitianer aber wollen eigentlich nur eins: ein Visum, um nach Europa oder in die USA zu gehen. Sie wollen weg! Wenn die Bevölkerung nichts anderes mehr will, fehlt dir einfach die Energie, um zu träumen, um dein Land voranzubringen, um eine Vision für die Mittelschicht zu entwickeln. Mit Mittelschicht sind Hunderttausende kleine Unternehmen gemeint. Wir haben hier fünf Sektoren, die eine Schlüsselrolle für die Entwicklung von Haiti spielen müssen: Landwirtschaft, Geflügel- und Rinderzucht, Textilindustrie, Tourismus und jetzt, nach dem Erdbeben, Häuserbau und Stadtentwicklung."

    Hilfe weit über die Nothilfe hinaus, ein besseres Haiti als vor dem Erdbeben soll entstehen. Mit einer Regierung und einer Verwaltung, die sich um die Bedürfnisse der Menschen kümmern, mit einer Wirtschaft, die produziert und Jobs schafft, statt nur zu importieren, und mit einem Bildungssystem, das späteren Generationen die Möglichkeit gibt, an besseren Lebensbedingungen mitzuarbeiten.

    Eine Utopie? Nicht, wenn auch die internationalen Entwicklungshilfeorganisationen umdenken, analysiert Bernice Robertson von dem renommierten Thinktank Crisis Group.

    "Unzählige Nichtregierungsorganisationen arbeiteten hier in Haiti, schon vor dem Erdbeben, zu viele, als dass sie von der Regierung kontrolliert werden könnten. Die machen gute Arbeit, kommen aber nicht zusammen. Das war Teil des Problems. Die haitianische Regierung will das jetzt korrigieren, die Entwicklungshilfe in ihren Plan einbinden. Das Land hat wirklich eine Chance, solider neu gegründet zu werden, sodass es fundamentale Dienstleistungen anbieten und soziale Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen kann. Ist das unmöglich? Wir denken, das kann funktionieren."