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Gemeinsam gegen Erdogans Allmacht

Die Türkei erlebt derzeit nie da gewesene Proteste gegen die Regierung Erdogan. Politisch völlig gegensätzliche Gruppen wehren sich gegen den autoritären Politikstil des Ministerpräsidenten - der bleibt jedoch auf Konfrontationskurs. Und könnte bei der nächsten Wahl doch wieder gewinnen.

Von Luise Sammann |
    "Sie wollen diese Bäume ausreißen und stattdessen eine Shoppingmall aufbauen. Wir sind hier, um dagegen zu protestieren! Das hier ist der letzte grüne Fleck in dieser Gegend."

    "Ich habe meine Kindheit in diesem Park verbracht, ich verbinde lauter Erinnerungen mit ihm. Wie können die es wagen, meine Bäume zu verletzen und ihnen die Arme zu brechen? Wie können die glauben, sie hätten das Recht dazu?"

    Am Anfang war es nur eine kleine Gruppe von Anwohnern und Umweltschützern, die sich für die jahrzehntealten Bäume im Istanbuler Gezi-Park interessierte. Die Bewohner der Bosporusmetropole sind nicht gerade ein naturverbundenes Volk: Jeden Tag verschwinden in ihrer unaufhörlich wachsenden Stadt Grünflächen. Als zum Beispiel angekündigt wurde, dass drei Millionen Bäume für eine dritte Bosporusbrücke weichen sollten, gingen nur ein paar Hundert Menschen auf die Straße. Der Rest freute sich auf die Aussicht, weniger im Stau stecken zu müssen. Zu den jetzigen Demonstrationen aber strömen seit vergangener Woche Zehntausende:

    Junge, Alte – manche mit konservativem Schnauzbärtchen, manche mit Che-Guevara-T-Shirt. Mädchen, die aussehen, als ob sie heimlich die Schule schwänzten, um dabei zu sein; Studenten, ausgerüstet mit Schals und Zitronenhälften, deren Saft sie sich gegen das Tränengas der Polizei in die Augen reiben; Bankangestellte, die sich in Anzug und Krawatte unter die Menge mischen. An "Extremisten" und "Bandenmitglieder" - aufgestachelt von ausländischen Geheimdiensten, wie die Regierung von Ministerpräsident Erdogan es den Demonstranten erst gestern wieder unterstellte - erinnern sie nicht.

    "Hier sind die Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsgruppen, mit unterschiedlichen Ideen und Vorstellungen. Einige gehören sogar zu denen, die bei den letzten Wahlen noch für diese Regierung gestimmt haben."

    "Ich habe noch nie so eine Demonstration gesehen ... Die Leute haben die Nase voll, sie suchen ein Ventil für ihre Wut. Sie wollen, dass etwas passiert."

    "Es begann mit ein paar Bäumen, aber dann wurde es etwas ganz anderes. Wir waren eigentlich keine politischen Menschen – sind es auch heute nicht. Aber es reicht einfach!"

    Was aber treibt all diese Menschen auf die Straße, was bringt sogar politische Feinde in der Türkei – wie zum Beispiel die Anhänger der kurdischen Partei BDP und der rechtsnationalistischen Partei MHP – dazu, gemeinsam zu demonstrieren?

    Mit solchen Fragen beschäftigt sich dieser Tage der Politikwissenschaftler Birol Caymaz von der Istanbuler Galatasaray-Universität. Auch für ihn und seine Kollegen herrscht Ausnahmezustand: "Keiner von uns hat das kommen sehen", sagt er ehrlich:

    "Das Ganze begann wie eine Jugendbewegung, aber es ist keine, die wir bereits kennen. Es ist tatsächlich eine Bewegung, die sich aus völlig unterschiedlichen Typen zusammensetzt. Ein ganz neues Phänomen!"

    Doch wer sich unter die Demonstranten mischt, die auch jetzt - zehn Tage nach Beginn der Proteste - noch auf dem Taksim-Platz campieren und die sich weiterhin in verschiedenen türkischen Städten Straßenschlachten mit der Polizei liefern, der findet neben zahlreichen Unterschieden auch ein verbindendes Element: eine immer stärkere Empörung über Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan - den bislang wohl beliebtesten türkischen Politiker, der seit zehn Jahren jede Wahl im Land für sich entscheidet.

    Die türkischen Proteste richten sich nicht, wie etwa die der Occupy-Bewegung, gegen übergeordnete Systeme und Strukturen, betont auch Politikwissenschaftler Caymaz. Sie richten sich vor allem gegen eine Person.

    "Die Regierung - das bedeutet in der Türkei in den letzten Jahren eigentlich nur noch eine Person. Wir haben hier ein Führungsverhalten, in dem alles alleine entschieden wird und kein Raum für Diskussion ist. In Bezug auf die 30er-Jahre nennt man das Personenkult: Mustafa Kemal Atatürk in der Türkei, Stalin oder Lenin in der Sowjetunion – und im Extremfall auch Faschisten wie Mussolini."

    Die Furcht vor Erdogans Allmacht wuchs schrittweise. Nicht nur im Westen, sondern auch in der Türkei selbst wurde meist der Vorwurf der schleichenden Islamisierung gegen Erdogan und seine AKP vorgebracht. Wie zum Beweis, dass er am Bosporus einen zweiten Iran ausrufen wolle, wurde sein politischer Feldzug gegen Alkohol und Zigaretten angeführt. Und tatsächlich: Erst in der vergangenen Woche bezeichnete Erdogan im Fernsehen erneut ausdrücklich jeden Alkoholkonsumenten als Alkoholiker:

    "Wir müssen Vorsichtsmaßnahmen treffen, um die Jugend und das Volk vor den schädlichen Folgen des Alkohols zu schützen, vor Alkoholabhängigkeit, die eine Gefahr für die Volksgesundheit darstellt. Ich bin Vater, ich bin Mensch und ich bin Ministerpräsident - das ist meine Verantwortung."

    Bei Appellen bleibt es meist nicht, wenn der türkische Ministerpräsident sich einmal um die Gesundheit seiner Bürger sorgt: Die Gesetzgebung zum Thema Alkohol wird immer schärfer in der Türkei. Allein die Biersteuer stieg um mehr als 700 Prozent seit Erdogans Amtsantritt. Während Bars und Restaurants mit Alkoholausschank schließen, wächst die Zahl der Moscheen. Auch das ein Beweis für all jene, die schon immer vor Erdogan und seiner islamischen Politik gewarnt hatten.

    Allerdings: Wäre das Problem wirklich nur die Religiosität des Ministerpräsidenten - warum hätten dann am Freitag Tausende Demonstranten auf dem Istanbuler Taksim-Platz gemeinsam gebetet, Politisches und Religiöses in aller Öffentlichkeit vermischt? Wäre es der Alkohol an sich, wieso würden dann Umfragen zeigen, dass die große Mehrheit der Türken sowieso in Abstinenz lebt? Und wäre es der wachsende Nationalismus am Bosporus, wieso wären dann unter den Demonstranten ausgerechnet Anhänger der nationalistischen Oppositionspartei MHP?
    Die Ereignisse der letzten Tage zeigen: Es geht nicht nur um einen Aspekt von Erdogans Politik. Es geht nicht um einen Park oder ein erlassenes Gesetz, das er einfach wieder zurücknehmen könnte. Es geht ums Grundsätzliche. Politikwissenschaftler Caymaz:

    "Die AK-Partei trifft Entscheidungen, die das Privatleben der Menschen stark beeinflussen. Besonders in der letzten Zeit werden diese Entscheidungen gefällt, ohne irgendwelche Kompromisse einzugehen. In den letzten Jahren wurde das immer sichtbarerer – und der Taksim-Platz war jetzt der Ort, um dazu Nein zu sagen."

    Alkoholverbote oder tief greifende Schulreformen, Mega-Bauprojekte oder das am Ende doch nicht umgesetzte Abtreibungsverbot. Erdogans Wunsch wird im türkischen Parlament - wo seine Partei weit mehr als die Hälfte aller Sitze innehat - schnell zum Befehl, seine Denkweise zur Staatsräson.

    Jeder Türke spürt, wer im Land den Ton vorgibt. Wenn Erdogan seine Landsleute dazu auffordert, mindestens drei Kinder pro Familie zu zeugen, wenn er im Zuge der Schulreform erklärt, er wolle eine "religiöse Jugend heranziehen" oder wenn er, wie Ende 2012, eine beliebte Fernsehserie kritisiert, weil der Osmanische Sultan dort angeblich nicht heldenhaft genug dargestellt wird.

    "So einen Vorfahr haben wir nicht! Der Sultan Süleyman, den wir kennen, verbrachte 30 Jahre auf dem Rücken eines Pferdes und nicht im Harem, so wie es diese Serie weismachen will. Ich verurteile die Regisseure und die Besitzer des Senders vor der ganzen Nation. Und obwohl wir die Verantwortlichen bereits verwarnt haben, erwarten wir auch vom Gericht eine Entscheidung."

    Die war am Ende gar nicht mehr nötig. Der ausstrahlende Sender kündigte von sich aus an, die Serie früher auslaufen zu lassen als geplant.

    Der türkische Ministerpräsident hat eine klare Vorstellung von seiner Gesellschaft und er nutzt seine in zehn Jahren stetig angewachsene Macht dazu, sie nach seinem Willen zu formen.

    Der Politiker Erdogan will sein Volk nicht vertreten, er will es erziehen.

    Einen ähnlichen Regierungsansatz gab es schon einmal in der Geschichte der Türkei:

    Mustafa Kemal Atatürk hieß der Mann, der 1923 aus den Überresten des Osmanischen Reiches die türkische Republik schuf - und vor dessen Büste türkische Schüler bis heute strammstehen, wenn sie morgens die türkische Nationalhymne singen.

    Der gebildete Staatsmann erschuf das Ideal vom modernen Türken: säkular, nach Westen gewandt, modern… Er legte das Wochenende vom islamischen Freitag auf den Sonntag, er ersetzte das arabische Alphabet am Bosporus durch das lateinische, verbot das Kopftuch in staatlichen Einrichtungen und vieles mehr. Dass er die große Mehrheit der ländlich und religiös geprägten Gesellschaft mit dieser Politik überging, hielt er für ein notwendiges Übel. Wie Erdogan sah auch Atatürk sich als Erzieher des türkischen Volkes.

    Allerdings könnten Erdogans und Atatürks Türkei-Bilder unterschiedlicher kaum sein. Atatürk, der die Vermischung von Religion und Politik als Krankheit des Osmanischen Reichs ausgemacht hatte, schaffte während seiner Regierung vieles ab, was Erdogan nun - mehr als 80 Jahre später - offenbar wieder einführen will: Nicht nur die Lockerung des Kopftuchverbotes deutet darauf hin, sondern auch die auffällig häufige Berufung auf die osmanischen Vorfahren: Egal ob in Politik, Literatur oder TV - eine regelrechte Re-Osmanisierung hat die Türken unter Erdogan ergriffen. Mit jeder politischen Handlung scheint Erdogan erneut beweisen zu wollen, dass die Zeit der Bevormundung der Masse durch eine kleine, selbst ernannte kemalistische Elite vorbei ist.

    "Viele Eingriffe der letzten Zeit wirken wie eine Rache an der Politik Atatürks in den den 30er Jahren,"

    - erklärt Politikwissenschaftler Birol Caymaz das Auftreten Erdogans.

    "Damals wurde versucht, mit der Macht des Staates einen neuen Bürger zu kreieren. Heute passiert das wieder, aber diesmal eben durch eine konservativ-religiöse Politiker-Generation."

    Es ist der ungelöste Konflikt zwischen den eher säkularen Anhängern Atatürks, den Kemalisten, und den eher religiösen Anhängern Erdogans, der die Türkei seit ihrer Gründung vor 90 Jahren spaltet. Einst hieß das auch: Stadt gegen Land, gebildet gegen ungebildet. Doch längst hat Erdogan auch die Städte erobert, längst sitzen seine Anhänger in den Universitäten und immer häufiger geben sie auch in der Wirtschaft den Ton an.

    Und so sind natürlich viele Kemalisten unter den Demonstranten, die dieser Tage lauthals Erdogans Rücktritt fordern.

    Entscheidend aber dafür, dass die Proteste derartige Ausmaße annahmen, sind die Anderen. Die, die Erdogan bisher machen ließen oder ihn sogar unterstützten - weil sie von der Bevormundung durch die alten Eliten genug hatten, oder ganz einfach, weil sie vom Wirtschaftsaufschwung der letzten zehn Jahre profitierten.

    Zu ihnen gehörte einst auch Bülent Peker. Dessen Brief an Erdogan, abgedruckt am 4. Juni in der türkischen Tageszeitung "Radikal", erlangte schnell Berühmtheit im Land.

    "Verehrter Herr Ministerpräsident.
    Leider muss ich mich erst vorstellen, falls sie (…) mich sonst als Provokateur bezeichnen…”


    …heißt es da gleich zu Anfang, in Anlehnung an die vielen Reden, in denen Erdogan dieser Tage wieder und wieder auch friedliche Demonstranten als Extremisten und Provokateure, als organisierte Banden oder Randgruppen bezeichnet.

    "Sie sollten wissen, dass ich seit dem ersten Tag Ihrer Regierung an der Seite Ihrer Partei stand, als Wähler und Unterstützer. Ich habe bei jeder Wahl für die AKP gestimmt. Letzte Woche dann ging alles los (…): Ich sah den Hass und die Gewalt der Polizei. Wir sahen, wie sie die Zelte der Demonstranten in Brand steckten und wie sie mit ich-weiß-nicht-wie-viel Bar Wasser auf die Köpfe der Menschen schossen. Diese Bilder machten mich traurig…"

    Umfragen sagten für Erdogan 51,4 Prozent für die nächsten Wahlen voraus, Kurz, bevor die Proteste am Taksim-Platz begannen. Kein Wandel war in Sicht, Erdogan schien unantastbar. Nicht nur auf dem Land, wie viele glauben, sondern auch in den Städten stehen weite Teile der türkischen Bevölkerung hinter ihm: Knapp die Hälfte aller Istanbuler gab ihm bei den Wahlen im Jahr 2011 ihre Stimme - auch, weil die Opposition am Bosporus seit Jahren keine ernsthaften Alternativen anbietet. Sie ist mitschuldig daran, dass dem Ministerpräsidenten die "Macht zu Kopf gestiegen" ist, heißt es dieser Tage nicht selten in der Türkei.

    "Das ist nicht mehr der Premierminister, den die Türken kannten. Wir haben es mit zwei unterschiedlichen Tayyip Erdogans zu tun. Viele Menschen konnten sich gut mit dem alten arrangieren, aber nicht mit dem neuen. Wenn eine Partei lange Zeit an der Regierung bleibt und eine Person alle Macht auf sich vereint, passieren solche Veränderungen."

    Nicht nur mit der immer direkteren Einmischung in den Lebensstil seiner Bürger, sondern auch mit den immer brutaleren Polizeieinsätzen der letzten Monate, mit Studentenverhaftungen und unangemessenen Attacken gegen demonstrierende Fußballfans, ist der türkische Ministerpräsident zu weit gegangen, glaubt Politikwissenschaftler Caymaz.
    Die brutale Polizeigewalt gegen friedliche Baumschützer in Istanbul war der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte.

    Entscheidend war dabei vor allem ein Trend, der sich in der Türkei seit Jahren schneller ausbreitet als irgendwo sonst in Europa - und den Erdogan nicht zufällig jüngst zum Staatsfeind Nummer Eins erklärte: Social Media, die sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter.

    "Wir haben von den Protesten erst gar nichts gehört. Aber wir verfolgen Twitter, dort hat jemand geschrieben, dass die Menschen sich hier versammeln und so sind wir gekommen,"

    …erklärte eine junge Demonstrantin am Taksim-Platz zu Beginn der Proteste. Während sich um sie herum bereits Zehntausende versammelt hatten, liefen im türkischen Fernsehen Kochshows und Serien.

    "Das Ganze hat sichtbar gemacht, wie schlecht die Qualität unserer Medien ist..."

    …bewertet die Medienwissenschaftlerin Ceren Sözeri die Ereignisse der letzten Tage.

    "Fast alle Medienbosse der Türkei sind gleichzeitig Investoren im Energie-, Auto- oder im Tourismussektor. Und deswegen achten diese Medienbosse bei allem, was sie tun darauf, eine gute Beziehung zur Regierung zu pflegen... In gewissem Sinne hatte die miserable Berichterstattung aber auch einen positiven Effekt, denn sie hat viele Menschen aufgeweckt."

    Aufgewacht sind in diesen Tagen tatsächlich viele Menschen in der Türkei. Eine ganze Generation, so sagen manche. Eine Generation, der ihre Eltern nach zwei Militärputschen in den 70er- und 80er-Jahren nur eins beigebracht hatten: Halt dich raus! Eine Generation außerdem, die durch den relativen Reichtum der letzten Jahre vor allem materialistische Ziele hatte, sich aus Rechten und Freiheiten nicht allzu viel machte, solange die Arbeitslosenzahlen sanken.
    Nun aber ist diese Generation wach geworden.

    "Und das zeigt uns, dass die Demokratie in diesem Land theoretisch noch am Leben ist und neue Dynamik gewinnen kann. Deswegen sollten wir hoffnungsvoll sein,"

    …resümiert Politikwissenschaftler Caymaz.

    Keiner weiß, ob sich an Erdogans Politik in nächster Zeit etwas ändern wird. Bisher deutet wenig darauf hin. In seinen Reden verdammt er die Demonstranten auf eine Art, die bisher den Despoten der arabischen Welt vorbehalten war. Dabei kann er sich sicher sein, dass weite Teile der Türken - egal ob auf dem Land oder in großen Städten wie Istanbul und Ankara - nach wie vor fest zu ihm halten. Erdogan ist kein Diktator, er ist ein demokratisch gewählter Regierungschef.

    Doch auch wenn die Wahlen im kommenden Jahr seine große Beliebtheit ein weiteres Mal bestätigen sollten: Was in den letzten Tagen in der Türkei passiert ist, lässt sich nicht mehr ungeschehen machen.

    "Die nächsten Generationen werden ihren Weg mit dem Wissen gehen, dass so etwas möglich ist. Das Ganze ist ein soziales Phänomen, mehr als ein Politisches. Und ich glaube, dass es als solches in das Bewusstsein der Türken eingehen wird."