Berlin-Tempelhof, in der türkisch geprägten Sehitlik-Moschee. Eine weiße Kuppel mit bunten Mosaikfenstern, ein dicker, grüner Teppich - und ein Dutzend Muslime beim nachmittäglichen Niederknien. Das fünfmalige Beten am Tag gehört zu den sogenannten fünf Säulen des Islam - genauso wie das Glaubensbekenntnis, das Ramadan-Fasten, die Pilgerfahrt nach Mekka - und: die Zakat, die Armensteuer. Jeder Gläubige sei zu dieser "guten Tat" verpflichtet, erklärt Gemeindevorsitzender Ender Cetin.
"Das heißt: Ein Vierzigstel von unserem Ersparnis einmal im Jahr zum Beispiel an Arme - und Armut heißt wirklich unter der Armutsgrenze lebende Menschen - abzugeben. Das wären also 2,5 Prozent von dem, was ich unterm Kopfkissen habe, erspart habe. Wenn ich 2015 10.000 Euro gespart habe, muss ich davon eben 250 Euro abgeben."
Zakat bedeute Reinigung - und beziehe sich auf die Reinigung von Sünden - so der Gemeindechef. Wie zahlt ein Muslim seine Almosensteuer?
"Die meisten machen das privat. Sie sind dann zum Beispiel in der Türkei und schauen: Braucht ein Schüler, ein Student wirklich Hilfe - weil ein Sozialstaat wie hier gibt es da nicht - und da findet man welche, die das wirklich nötig haben."
Hilfe für "nahe und ferne Nachbarn"
Neben der Armensteuer gebe es im Islam auch die freiwillige Gabe, die Sadaqa. Beide Spendenarten seien zuerst einmal für die Umma bestimmt, für die Gemeinschaft der Gläubigen. Doch der Koran spreche auch davon, dem "nahen" und dem "fernen Nachbarn" zu helfen. Für Ender Cetin bedeutet dies, auch Andersgläubige zu unterstützen sowie Nichtgläubige.
"Es wird an über 100 Stellen im Koran immer wieder betont, dass der Glaube und die gute Tat zusammenstehen. Jede gute Tat, auch wenn es ein Staubkörnchen ist von der Größe her, wird sozusagen den Segen bekommen."
"Drei begleiten den Gestorbenen zum Grab: seine Angehörigen, sein Vermögen und seine Taten. Zwei davon, nämlich die Angehörigen und sein Vermögen, verlassen ihn. Das Dritte, sein Verdienst, bleibt bei ihm." Aus der Überlieferung eines Gefährten des Propheten Mohamed.
Auf dem Hof der Berliner Sehitlik-Moschee herrscht buntes Treiben: Viele Muslime kommen hierher, um auch "gute Taten" für Asylsuchende zu leisten - die aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammen.
"Deswegen ist es jeden Tag so, dass Leute Sachen bringen wollen, fragen: Können wir kochen, können wir Besuche abstatten? Und wir bekommen von Gott gleichsam ein Tablett präsentiert, wo wir ganz viele Segen bekommen können - nämlich durch die Flüchtlinge, die gerade in unserem Land sind."
Auch im Judentum hat die gute Tat einen besonderen Stellenwert.
"Aufgabe ist, unsere Welt zu verbessern unter dem Königreich Gottes."
Der Berliner Rabbiner Walter Rothschild, ein gebürtiger Brite, spricht von "Tikkun Olam", von der "Reparatur" der Welt durch gute Werke. In seiner Religion gibt es 613 Gebote, Mizwot: etwa Regeln für das Hüten des Schabbat, die Gründung einer Familie, den Krankenbesuch und die finanzielle Unterstützung für Bedürftige.
Helfen als Menschenpflicht
"Zum Beispiel auf hoher See - man sieht jemanden, der ertrinkt - man hilft! Sogar dem Feind, wenn nötig. Es soll keine Frage sein: Darf ich? Soll ich? Man muss! Es ist eine Pflicht! Als Mensch! Ist es eine Frage der guten Laune oder: Ich würde sehr gerne helfen, aber leider habe ich meinen guten Anzug an heute? Nein, man muss! Also Pflichten sind Pflichten!"
Über die Mitzwa, die gute Tat, heißt es in den überlieferten "Sprüchen der Väter", die ethische Fragen behandeln:
"Eine Mitzwa führt zu einer weiteren Mitzwa."
Aus dieser Tradition heraus hat sich in der jüdischen Gemeinschaft ein "Tag der guten Taten" entwickelt, der Mitzvah Day. Die Idee entstand vor 20 Jahren in den USA: Juden sollten sich einmal im Jahr - öffentlich - für Hilfsbedürftige einsetzen. Seit 2012 gibt es den Mitzvah Day auch in Deutschland. Im vergangenen November wurde er bundesweit von 2000 Juden begangen. Dabei setzten sich - auch in dieser Religionsgemeinschaft - viele für syrische Flüchtlinge ein. Ein interreligiöser Brückenschlag - von Mensch zu Mensch. Rabbiner Rothschild betont, dass es im Judentum auch den Ansatz gibt, anonym zu helfen - und somit auf jeglichen Dank zu verzichten.
"Wenn jemand einem armen Menschen Geld gibt, und der arme Mensch weiß, von wem das Geld kommt - und muss dankbar sein - dann bekommt er das Geld, ist aber erniedrigt. Wenn man das Geld anonym gibt, dann ist er dankbar, muss sich aber bei keiner bestimmten Person bedanken. Aber beide sind zufrieden: Der Spender bekommt das Gefühl 'ich habe meine Pflicht erfüllt', und der Bedürftige bekommt, was er bedarf."
"Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten", heißt es im Jakobusbrief des Neuen Testaments, einem Mahn- und Lehrschreiben des Christentums.
Also ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, an sich selbst tot.
Im Zentrum steht die Motivation
Jens Schröter ist evangelischer Theologe an der Berliner Humboldt-Universität. Der Professor bilanziert, dass die christliche Ethik der jüdischen in vielen Fragen ähnelt. Allerdings spiele - besonders im Protestantismus - die Motivation einer guten Tat eine zentrale Rolle.
"Das ist ja auch etwas, was in der christlichen Tradition immer wieder heraus gestellt wird, dass es nicht darum gehen könne, die guten Werke deshalb zu tun, damit man selber vor Gott als gerecht dasteht. Sondern, dass man es aus einer inneren Überzeugung heraus tut - aus dem Herzen heraus."
Schröter verweist auf historische Entgleisungen, auf kirchlichen Missbrauch: So habe es im frühen 16. Jahrhundert eine Aufrechnung guter mit schlechten Taten gegeben. Der Eintritt ins Paradies sei damals zu einer Frage der Mathematik verkommen.
"Es gibt diese Situation in der spätmittelalterlichen Kirche - die ja dann auch etwas mit der Kritik Luthers an der römisch-katholischen Kirche zu tun hat - wo in der Tat es so verkündigt wurde, als ob man sich durch gute Taten Ablass von Sünden erwerben kann. Das entspricht sicher nicht dem Geist der jüdischen und christlichen Religion."
Ob Armensteuer, Mitzwa-Day oder Nächstenliebe "mit Herz" - für die Religions-Experten ist klar: Ohne gute Taten kommen weder Muslime noch Juden noch Christen aus.
"Diese Ethik der Zuwendung zu Bedürftigen ist in den drei monotheistischen Religionen tief verankert", sagt Jens Schröter.