" Von einer nicht herrschenden Elite zu sprechen wäre sinnlos, denn eine Elite, die nicht herrscht, ist nach meiner Meinung keine Elite. "
Für die Soziologin und Politikwissenschaftlerin Olga Kryschtanowskaja ist der Begriff "politische Elite" eigentlich eine Tautologie. Ihr Buch weiß wenig anzufangen mit Debatten wie der neuen deutschen Suche nach "Bildungseliten". Zur Elite gehören diejenigen, die Macht im Staat haben. So erklärt sich auch die Leitfrage von Kryschtanowskajas nun auch auf Deutsch erschienener "Anatomie der russischen Elite":
" Wer sind sie, die neuen Herrscher Russlands? Die alten Personen in neuem Gewand oder ein neues Geschlecht, das die sowjetische Vergangenheit nicht vergessen will? "
Angefangen mit der Perestrojka, über die Jelzin’sche Liberalismus-Variante, gefolgt von der Wirtschaftskrise im August 1998 bis hin zur Herrschaft Putins führt sie den Leser durch ein Dickicht von Namen und Zahlen. Mehrere gesellschaftliche Umbrüche vollzogen sich in Russland im Laufe von Kryschtanowskajas Karriere. Diese Krisen bilden das strukturelle Gerüst der Autorin bei ihrer Analyse über die Menschen, die in Russland Macht ausüben. Die Autorin ist bekannt als mutige Wissenschaftlerin, die bereits vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion westliche soziologische Untersuchungsmethoden auf die sowjetische Gesellschaft anwandte.
" Die Perestrojka stülpte das Land um, die Nomenklatura brach zusammen, und im Bürokratenapparat herrschte das Chaos. Keiner wusste mehr, was erlaubt war und was nicht. Wir marschierten in die Zentrale der Moskauer Stadtauskunft. Wie sich herausstellte, konnte man dort jetzt die "Geheimadressen" für vier Rubel das Stück kaufen. So kamen wir an einzigartige Informationen, die den Grundstock unserer Datenbank bildeten. ... Nun mussten wir unsere Wunschpartner nur noch dazu bewegen, mit uns zu reden. "
Unter "Elite" versteht die Autorin die Angehörigen der obersten Führung, Parlamentarier, sowie das politisch-administrative Spitzenpersonal in den Regionen Russlands. Hinzu kommt die von ihr als Businesselite definierte Gruppe der russischen Top-Verdiener, deren Vertreter sich häufig gern auch selbst als Oligarchen bezeichnen und über ihre finanziellen Einflussmöglichkeiten auch politische Macht erworben haben. Die Veränderungen in Russland während der vergangenen knapp zwanzig Jahre bieten Überraschungen: So findet Kryschtanowskaja heraus, dass sich der Herrschaftsapparat in diesem Zeitraum personell verachtfacht hat. Achtmal mehr "tschinovniki" - zu deutsch: Funktionäre - innerhalb der diversen Verwaltungsstrukturen als noch zu Zeiten der Sowjetunion? Dabei galt die doch schon als bürokratisch verfettet... Die Business-Eliten - so Kryschtanovskajas Beobachtung - besetzten zum Nachteil der alt-sowjetische Elite schon einmal weit mehr als die Hälfte der Positionen im politischen Bereich. Allerdings scheine jetzt, unter Putin, die "politische" Gesellschaft wieder Aufwind zu spüren:
" Unter Gorbatschow und Jelzin hat das Land zwei Schritte vorwärts in Richtung Demokratisierung getan, aber unter Putin einen großen Schritt zurück. "
Noch anderthalb Jahre vor Putins Machtantritt, im August 1998, hat es in Russland eine Finanzkrise gegeben, die eben diese Business-Elite qualitativ veränderte und quantitativ reduzierte. Nach der Krise waren, so Kryschtanowskaja,...
"...vom ursprünglichen Bestand der Business-Elite etwa 15 Prozent übrig geblieben. Diese tiefgreifende Erneuerung ging mit wesentlichen Strukturveränderungen auf dem russischen Markt einher. "
So konzentrierte sich wirtschaftliche Macht in den Händen Weniger, und ab 1998 veränderte sich die russische Elite noch einmal ganz erheblich. Dieser Prozess aber sei die Ursache für die politischen Umbrüche der letzten Jahre.
" Wladimir Putins Sicherheitsrat von 2002 ähnelt nach Umfang und Zusammensetzung dem Politbüro der Sowjetzeit wesentlich stärker als das Gremium aus dem Jahre 1993. Boris Jelzin legte anfangs das Schwergewicht auf Mitglieder der Regierung und die Chefs der Repressionsorgane. 1999 erhöhte er den Anteil Letzterer weiter, holte die Parlamentspräsidenten herein, ließ jedoch die Chefs der Regionen außen vor. Wladimir Putin nahm sie wieder auf ... Wichtigste Gruppe im Putin'schen "Politbüro" sind ... die Chefs der Repressions- und Kontrollorgane. "
Tatsächlich stieg im Verlauf von Putins Amtszeit der Anteil der Mächtigen mit militärischem Hintergrund um fast das Fünffache im Vergleich zur Jelzin-Zeit, die Zahl von Eliteangehörigen mit zivil-akademischem Grad halbierte sich. Diese Studien zu den Veränderungen der Bildungsmerkmale der zeitgenössischen russischen Eliten bilden den interessantesten Teil von Kryschtanowskajas Buch. Politische Formen - so Kryschtanowskajas Auffassung - verändern sich ausschließlich als Ergebnis von Machtkämpfen konkurrierender Eliten. Macht hat in ihrem Modell stets das gleiche Gesicht. Werte oder Ideologien scheinen dabei keine erstrangige Rolle zu spielen. Vielleicht wirken deshalb Teile ihrer Analyse nicht stets nachvollziehbar, verharren sie doch nicht selten im Deskriptiven: Etwa wenn sie anführt, von Putin Beförderte und Neuernannte innerhalb der Elite stammten...
"...aus den Sicherheits- und Repressionsorganen bzw. sind Freunde und Kollegen aus St. Petersburg, aber bei weitem nicht alle haben Zugang zur strategischen Elite gefunden. Immer wieder habe ich bei Kontakten mit hochgestellten Beamten der Präsidialadministration festgestellt, dass sie über wichtige Projekte des Präsidenten nicht informiert waren. "
Ein Ex-KGBler, ein Geheimdienst-Mann, der bei einer soziologischen Umfrage mal so eben die politische Strategie seines Vorgesetzten ausplaudert? Das würde nicht nur die Geburt einer neuen Elite bedeuten: Es wäre die Geburt einer neuen Spezies. Denn es dürfte wohl kaum verwundern, dass eine Elite aus Geheimdienstlern auf Transparenz und Informationsvermittlung nach außen keinen besonders großen Wert legt. Seltsam, dass eine erfahrene Spezialistin wie Kryschtanowskaja dies offenbar so hingenommen hat. Doch die Autorin verweilt nicht lange bei solchen Fragestellungen und kehrt lieber schnell zur ihrer Detektivgeschichte über die "russische Elite" zurück:
" Als Putin zwei Monate im Amt war, traf er sich im Mai 2000 zum ersten Mal mit einer Gruppe einflussreicher Geschäftsleute in einem Landhaus außerhalb von Moskau. Diese Begegnung hieß unter den Oligarchen künftig nur noch die "Grillparty". Dort wurde ein Neutralitätsabkommen geschlossen. Putin versprach, nichts gegen die Oligarchen zu unternehmen. Dafür verlangte er von ihnen, sie sollten sich aus der Politik heraushalten. "
Der Leser erfährt nur teilweise, wie die Geschichte ausgeht. Dieser Pakt wird nicht von allen Beteiligten eingehalten werden; nach und nach müssen bestimmte Oligarchen das Land verlassen - wie zum Beispiel Wladimir Gusinskij und Boris Beresowskij. Oder: Sie werden sogar verhaftet und wegen Steuerhinterziehung angeklagt wie Michail Chodorkowskij.
" Putin hat das big business Russlands bezwungen. Dieses hat sich in seine Niederlage geschickt und die Waffen gestreckt. Die Bürokratie hat gesiegt. "
Auch wenn der ehemalige Ölmagnat Chodorkowskij in Kryschtanowskajas Buch stellenweise ein wenig idealisiert daherkommt, wirken ihre Schlussfolgerungen insgesamt doch vergleichsweise neutral und ideologiefrei - im Verhältnis zu andern Kritikern des Putin-Regimes. Putins Konstrukt einer von oben, aus Moskau, bis nach unten in die tiefste Provinz durchgreifenden "Machtvertikale" unterwirft nun - so die Autorin - alle Eliten, auch hohe Militär-Kader, den kleinen Machtzirkel, der sich um den Präsidenten herum gebildet hat. Dies, so drängt sich der Eindruck auf, spiegelt dessen theoretische Absicht wider. Die Analyse der sich daraus ergebenden Praxis, vor allem aber ihrer Effektivität, muss hingegen zwangsläufig noch auf sich warten lassen. - Jener bündigen Beobachtung Kryschtanowskajas aber lässt sich indes schon heute kaum widersprechen:
" In den 15 Jahren der Reformen hat Russland zwei Schritte vorwärts zu Demokratie und Marktwirtschaft getan, und nun einen Schritt zurück. "
Olga Kryschtanowskaja: Anatomie der russischen Elite - Die Militarisierung unter Putin
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005,
448 S., EUR 19,90
Für die Soziologin und Politikwissenschaftlerin Olga Kryschtanowskaja ist der Begriff "politische Elite" eigentlich eine Tautologie. Ihr Buch weiß wenig anzufangen mit Debatten wie der neuen deutschen Suche nach "Bildungseliten". Zur Elite gehören diejenigen, die Macht im Staat haben. So erklärt sich auch die Leitfrage von Kryschtanowskajas nun auch auf Deutsch erschienener "Anatomie der russischen Elite":
" Wer sind sie, die neuen Herrscher Russlands? Die alten Personen in neuem Gewand oder ein neues Geschlecht, das die sowjetische Vergangenheit nicht vergessen will? "
Angefangen mit der Perestrojka, über die Jelzin’sche Liberalismus-Variante, gefolgt von der Wirtschaftskrise im August 1998 bis hin zur Herrschaft Putins führt sie den Leser durch ein Dickicht von Namen und Zahlen. Mehrere gesellschaftliche Umbrüche vollzogen sich in Russland im Laufe von Kryschtanowskajas Karriere. Diese Krisen bilden das strukturelle Gerüst der Autorin bei ihrer Analyse über die Menschen, die in Russland Macht ausüben. Die Autorin ist bekannt als mutige Wissenschaftlerin, die bereits vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion westliche soziologische Untersuchungsmethoden auf die sowjetische Gesellschaft anwandte.
" Die Perestrojka stülpte das Land um, die Nomenklatura brach zusammen, und im Bürokratenapparat herrschte das Chaos. Keiner wusste mehr, was erlaubt war und was nicht. Wir marschierten in die Zentrale der Moskauer Stadtauskunft. Wie sich herausstellte, konnte man dort jetzt die "Geheimadressen" für vier Rubel das Stück kaufen. So kamen wir an einzigartige Informationen, die den Grundstock unserer Datenbank bildeten. ... Nun mussten wir unsere Wunschpartner nur noch dazu bewegen, mit uns zu reden. "
Unter "Elite" versteht die Autorin die Angehörigen der obersten Führung, Parlamentarier, sowie das politisch-administrative Spitzenpersonal in den Regionen Russlands. Hinzu kommt die von ihr als Businesselite definierte Gruppe der russischen Top-Verdiener, deren Vertreter sich häufig gern auch selbst als Oligarchen bezeichnen und über ihre finanziellen Einflussmöglichkeiten auch politische Macht erworben haben. Die Veränderungen in Russland während der vergangenen knapp zwanzig Jahre bieten Überraschungen: So findet Kryschtanowskaja heraus, dass sich der Herrschaftsapparat in diesem Zeitraum personell verachtfacht hat. Achtmal mehr "tschinovniki" - zu deutsch: Funktionäre - innerhalb der diversen Verwaltungsstrukturen als noch zu Zeiten der Sowjetunion? Dabei galt die doch schon als bürokratisch verfettet... Die Business-Eliten - so Kryschtanovskajas Beobachtung - besetzten zum Nachteil der alt-sowjetische Elite schon einmal weit mehr als die Hälfte der Positionen im politischen Bereich. Allerdings scheine jetzt, unter Putin, die "politische" Gesellschaft wieder Aufwind zu spüren:
" Unter Gorbatschow und Jelzin hat das Land zwei Schritte vorwärts in Richtung Demokratisierung getan, aber unter Putin einen großen Schritt zurück. "
Noch anderthalb Jahre vor Putins Machtantritt, im August 1998, hat es in Russland eine Finanzkrise gegeben, die eben diese Business-Elite qualitativ veränderte und quantitativ reduzierte. Nach der Krise waren, so Kryschtanowskaja,...
"...vom ursprünglichen Bestand der Business-Elite etwa 15 Prozent übrig geblieben. Diese tiefgreifende Erneuerung ging mit wesentlichen Strukturveränderungen auf dem russischen Markt einher. "
So konzentrierte sich wirtschaftliche Macht in den Händen Weniger, und ab 1998 veränderte sich die russische Elite noch einmal ganz erheblich. Dieser Prozess aber sei die Ursache für die politischen Umbrüche der letzten Jahre.
" Wladimir Putins Sicherheitsrat von 2002 ähnelt nach Umfang und Zusammensetzung dem Politbüro der Sowjetzeit wesentlich stärker als das Gremium aus dem Jahre 1993. Boris Jelzin legte anfangs das Schwergewicht auf Mitglieder der Regierung und die Chefs der Repressionsorgane. 1999 erhöhte er den Anteil Letzterer weiter, holte die Parlamentspräsidenten herein, ließ jedoch die Chefs der Regionen außen vor. Wladimir Putin nahm sie wieder auf ... Wichtigste Gruppe im Putin'schen "Politbüro" sind ... die Chefs der Repressions- und Kontrollorgane. "
Tatsächlich stieg im Verlauf von Putins Amtszeit der Anteil der Mächtigen mit militärischem Hintergrund um fast das Fünffache im Vergleich zur Jelzin-Zeit, die Zahl von Eliteangehörigen mit zivil-akademischem Grad halbierte sich. Diese Studien zu den Veränderungen der Bildungsmerkmale der zeitgenössischen russischen Eliten bilden den interessantesten Teil von Kryschtanowskajas Buch. Politische Formen - so Kryschtanowskajas Auffassung - verändern sich ausschließlich als Ergebnis von Machtkämpfen konkurrierender Eliten. Macht hat in ihrem Modell stets das gleiche Gesicht. Werte oder Ideologien scheinen dabei keine erstrangige Rolle zu spielen. Vielleicht wirken deshalb Teile ihrer Analyse nicht stets nachvollziehbar, verharren sie doch nicht selten im Deskriptiven: Etwa wenn sie anführt, von Putin Beförderte und Neuernannte innerhalb der Elite stammten...
"...aus den Sicherheits- und Repressionsorganen bzw. sind Freunde und Kollegen aus St. Petersburg, aber bei weitem nicht alle haben Zugang zur strategischen Elite gefunden. Immer wieder habe ich bei Kontakten mit hochgestellten Beamten der Präsidialadministration festgestellt, dass sie über wichtige Projekte des Präsidenten nicht informiert waren. "
Ein Ex-KGBler, ein Geheimdienst-Mann, der bei einer soziologischen Umfrage mal so eben die politische Strategie seines Vorgesetzten ausplaudert? Das würde nicht nur die Geburt einer neuen Elite bedeuten: Es wäre die Geburt einer neuen Spezies. Denn es dürfte wohl kaum verwundern, dass eine Elite aus Geheimdienstlern auf Transparenz und Informationsvermittlung nach außen keinen besonders großen Wert legt. Seltsam, dass eine erfahrene Spezialistin wie Kryschtanowskaja dies offenbar so hingenommen hat. Doch die Autorin verweilt nicht lange bei solchen Fragestellungen und kehrt lieber schnell zur ihrer Detektivgeschichte über die "russische Elite" zurück:
" Als Putin zwei Monate im Amt war, traf er sich im Mai 2000 zum ersten Mal mit einer Gruppe einflussreicher Geschäftsleute in einem Landhaus außerhalb von Moskau. Diese Begegnung hieß unter den Oligarchen künftig nur noch die "Grillparty". Dort wurde ein Neutralitätsabkommen geschlossen. Putin versprach, nichts gegen die Oligarchen zu unternehmen. Dafür verlangte er von ihnen, sie sollten sich aus der Politik heraushalten. "
Der Leser erfährt nur teilweise, wie die Geschichte ausgeht. Dieser Pakt wird nicht von allen Beteiligten eingehalten werden; nach und nach müssen bestimmte Oligarchen das Land verlassen - wie zum Beispiel Wladimir Gusinskij und Boris Beresowskij. Oder: Sie werden sogar verhaftet und wegen Steuerhinterziehung angeklagt wie Michail Chodorkowskij.
" Putin hat das big business Russlands bezwungen. Dieses hat sich in seine Niederlage geschickt und die Waffen gestreckt. Die Bürokratie hat gesiegt. "
Auch wenn der ehemalige Ölmagnat Chodorkowskij in Kryschtanowskajas Buch stellenweise ein wenig idealisiert daherkommt, wirken ihre Schlussfolgerungen insgesamt doch vergleichsweise neutral und ideologiefrei - im Verhältnis zu andern Kritikern des Putin-Regimes. Putins Konstrukt einer von oben, aus Moskau, bis nach unten in die tiefste Provinz durchgreifenden "Machtvertikale" unterwirft nun - so die Autorin - alle Eliten, auch hohe Militär-Kader, den kleinen Machtzirkel, der sich um den Präsidenten herum gebildet hat. Dies, so drängt sich der Eindruck auf, spiegelt dessen theoretische Absicht wider. Die Analyse der sich daraus ergebenden Praxis, vor allem aber ihrer Effektivität, muss hingegen zwangsläufig noch auf sich warten lassen. - Jener bündigen Beobachtung Kryschtanowskajas aber lässt sich indes schon heute kaum widersprechen:
" In den 15 Jahren der Reformen hat Russland zwei Schritte vorwärts zu Demokratie und Marktwirtschaft getan, und nun einen Schritt zurück. "
Olga Kryschtanowskaja: Anatomie der russischen Elite - Die Militarisierung unter Putin
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005,
448 S., EUR 19,90