Auf Tierrippen oder Teilen aus Geweihen sind sie festgehalten – bildliche Szenen aus der Altsteinzeit. Ende des 19. Jahrhunderts wurden solche Artefakte aus dem sogenannten Paläolithikum, das von circa 600.000 bis 10.000 vor Christus reichte, in Höhlen in Frankreich gefunden. Menschen und Tiere sind darauf abgebildet. Manche der Menschenfiguren halten einen geraden Gegenstand in ihrer Hand. Nach Meinung vieler Urhistoriker müsse es sich dabei um eine Waffe handeln, schreibt Marylène Patou-Mathis. Und weil nur männliche Figuren diesen Gegenstand in der Hand hielten, sei für die Forscher klar gewesen: In der Urzeit war die Jagd reine Männersache.
Allerdings: Für diese früheste Epoche menschlichen Lebens könnte diese Deutung schlichtweg falsch sein, meint die französische Ur- und Frühhistorikerin: „Andere Beobachtungen widersprechen dieser Annahme, etwa die sehr geringe Zahl entsprechender Funde, die Zuschreibung der – oft kleinen und nicht mit deutlichen Geschlechtsmerkmalen ausgestatteten – Umrisse zu einem bestimmten Geschlecht und die Identifikation einer Waffe anhand eines einzigen, geraden Strichs.“
Vorschnelle Rückschlüsse auf die Vergangenheit
Die Erkenntnis, die aus diesem archäologischen Rätsel folgt, ist so ernüchternd wie simpel: Es gibt sehr Vieles, was wir über unsere allerersten Vorfahren nicht wissen.
Das habe aber Archäologen und Anthropologen bis vor Kurzem nicht davon abgehalten, nach Funden fossiler Skelette, Wandmalereien und anderen Kunstgegenständen vorschnelle Rückschlüsse auf die Lebenswirklichkeit der Urmenschen zu ziehen – Rückschlüsse, die, so schreibt die Autorin in ihrem Buch „Weibliche Unsichtbarkeit“, ganz klar auf neuzeitlichen Sexismus und Paternalismus zurückzuführen seien:
„Die Urgeschichtsschreibung ist eine junge, erst Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Wissenschaft. Wahrscheinlich haben die Rollen, die beiden Geschlechtern in den ersten Texten dieser neuen Disziplin zugeschrieben wurden, mehr mit der Realität der damaligen Epoche zu tun als mit der Zeit der Höhlenmenschen.“
Einseitige Zuschreibungen an Frauen – bis heute
So gebe es bis heute keine eindeutigen Belege für die These, dass Frauen im Paläolithikum von der Jagd ausgeschlossen waren. Die Autorin macht deutlich, dass diese Tatsache nicht nur für die Geschichtsschreibung wichtig ist: Denn Frauen müssten bis heute gegen einseitige Zuschreibungen ihrer vermeintlichen „Natur“ oder körperlichen Schwäche ankämpfen, die auf jenen Funden aus der Urzeit und auch aus nachfolgenden Epochen basierten.
Derzeit gibt es laut der Autorin keine Gewissheit darüber, dass der Status von Frauen in der Urzeit niedriger gewesen sei als derjenige der Männer. Schmuck als Grabbeilage sei beispielsweise sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Skeletten gefunden worden.
Die Beispiele der Autorin für vorschnelle archäologische Interpretation betreffen aber nicht nur die Altsteinzeit – im Jahr 1880 wurde laut Patou-Mathis ein Skelett im Norden der schwedischen Insel Björkö geborgen, zusammen mit einem Schwert, zwei Lanzen, 25 Pfeilen, zwei Pferden und einem Spielbrett mit Figuren. Für die damaligen Experten sei die Sache klar gewesen: Sie hätten geglaubt, die Überreste eines Wikingeranführers gefunden zu haben. 2017 sei das Skelett einer DNA-Analyse unterzogen worden. Und siehe da: „Der angebliche Wikingerkrieger aus der Mitte des 10. Jahrhunderts war eine circa 30-jährige Kriegerin von ungefähr 1,70 Meter Größe.“
Relevanz der Geschlechterarchäologie
Solche und weitere Forschungsergebnisse reichten durchaus aus, um alte Geschlechterklischees über die Rolle und den Status von Frauen in der Urzeit zu entlarven.
Diese Stereotype rühren laut Patou-Mathis auch daher, dass Männer die Archäologie lange Zeit dominierten. Erst nach dem Ersten Weltkrieg habe es die ersten Urhistorikerinnen gegeben. Frauen hätten aber bis in die 1980er-Jahre kaum selbst an Ausgrabungen teilgenommen und stattdessen im Labor gearbeitet. Seit den 1970er-Jahren stellten Vertreterinnen und Vertreter der sogenannten „Geschlechterarchäologie“ die patriarchal geprägten Thesen über die Geschlechterrollen in der Urzeit infrage – ein wichtiges Anliegen, das auch Marylène Patou-Mathis teilt, die die Abteilung für Ur- und Frühgeschichte des staatlichen Naturkundemuseums in Frankreich leitet.
In ihrem Buch bettet sie archäologische Befunde in einen Abriss über Frauenfeindlichkeit und misogyne Gewalt von der Antike bis hin zum 20. Jahrhundert ein. Dies sei der gesellschaftliche Rahmen, auf dem die paternalistischen Deutungen in der Archäologie und der Anthropologie basierten. Sie bietet damit einen – zuweilen etwas unstrukturierten und Frankreich-lastigen – Einstieg in die lange Geschichte der Unterdrückung der Frau. Hier findet sich allerdings nichts Neues.
Gelungene Dekonstruktion patriarchaler Mythen
Spannend und originell sind jedoch die Kapitel, in denen Marylène Patou-Mathis anhand neuester archäologischer Erkenntnisse althergebrachte Mythen über die vermeintliche „Natur“ der Frau radikal dekonstruiert. Dass sie ihre Thesen eher zurückhaltend formuliert, ist eine große Stärke des Buchs. Diese evidenzbasierte wissenschaftliche Haltung steht in gelungenem Kontrast zu den sexistischen Proklamationen, die sie bloßlegt.
Dank Patou-Mathis‘ Ausführungen wird sehr deutlich, wie unredlich es ist, spärliche archäologische Funde zu ideologisieren. Ihr Fazit könnte weitrechende Strahlkraft auch auf andere Disziplinen haben: „Je mehr wir über die Urgeschichte wissen, umso mehr zeigt sich, dass das Patriarchat keinerlei anthropologische Grundlage hat.“
Marylène Patou-Mathis: „Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann“, Übersetzung: Stephanie Singh, Hanser Verlag, 288 Seiten, 24 Euro.