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Genderforscherin Geier zu Identitätspolitik
„Wir müssen anerkennen, dass es Verschiedenheit in der Gesellschaft gibt“

Die Genderforscherin Andrea Geier kritisiert eine Gleichsetzung von linker und rechter Identitätspolitik. Dadurch, sowie durch Begriffe wie „Cancel Culture“, „kommen Positionen in den Raum, die so tun, als ob Rassismus und Rassismuskritik irgendwie dasselbe seien“, sagte Geier im Dlf.

Andrea Geier im Gespräch mit Stephanie Rohde |
Illustration einer wütenden Frau, die zwei Personen anschreit
Andrea Geier: Verschiedenheit äußert sich zum Teil auch in Diskriminierung und Privilegierung (dpa / Zoonar.com / Toni Rantala)
Die Identitätspolitik von rechts führe zu Ausschließung, Hass und Gewalt, hatte Wolfgang Thierse am 25. Februar im Deutschlandfunk gesagt. Zugleich kritisierte der ehemalige Bundestagspräsident eine Cancel Culture in linker Identitätspolitik. "Das heißt, man will sich nicht mehr mit Leuten auseinandersetzen, diskutieren, den Diskurs führen, die Ansichten haben, die einem nicht passen. Das ist ziemlich demokratiefremd und wenn nicht sogar demokratiefeindlich", so Thierse.
Wolfgang Thierse, ehem. Praesident des Deutschen Bundestages, in Berlin.
Dieser Ansicht widerspricht Andrea Geier, Professorin an der Uni Trier für Literaturwissenschaft und Genderforschung. "Diese Art und Weise, über linke Identitätspolitik zu sprechen, die ist sehr alarmistisch geworden und die ist sehr problematisch geworden." Tatsächlich wolle linke Identitätspolitik eigentlich das, was Thierse ebenfalls wolle, sagte Geier – "nämlich eine Anerkennung von Vielfalt und Gleichheit".
Sie beobachte einen zunehmend alarmistischen Ton derer, die linke Identitätspolitik kritisieren und sich "selber zum Opfer machen einer Identitätspolitik anderer, die zum Beispiel rassismuskritisch ist – das müssen wir bearbeiten."
Linke Identitätspolitik - Partikularinteressen versus soziale Verantwortung?
Kulturelle Anerkennung von Minderheiten gehört zu den Themen linker Politik. Doch es gibt Kritik, auch aus linken Lagern: Die Vertretung der Interessen Einzelner befördere den Aufstieg der Rechten.
Um zu mehr gegenseitigem Verständnis in Diskursen zu gelangen, sei es wichtig, anzuerkennen, dass Erfahrungswelten anderer Menschen durchaus andere sein können als die eigenen, betonte Geier.
"Als weiße Wissenschaftlerin hab’ ich bestimmte Probleme im akademischen Raum definitiv nicht, die schwarze Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben. Und wenn ich dann als Weiße angesprochen werde, ist das einfach eine Tatsache. Dafür kann ich nichts, aber dazu muss ich mich verhalten. Und das ist das, was eigentlich wichtig ist, wenn jemand angesprochen wird als weiße Person oder als männliche Person, zu fragen: Was hat das gemacht mit mir, was bedeutet das für meine Positionierung, was gibt mir das möglicherweise auch für Chancen, was hat mir das eröffnet?"

Das Interview in voller Länge:

Stephanie Rohde: Gefährden Rechte wie Linke mit ihrer Identitätspolitik den Zusammenhalt in der Gesellschaft?
Andrea Geier: Rechte Identitätspolitik zielt darauf ab, diesen Zusammenhalt zu gefährden – es geht tatsächlich darum, eine bestimmte Idee von Volk und von Nation herzustellen –, während linke Identitätspolitik was anderes will. Sie will eigentlich das, was zum Beispiel Herr Thierse möchte, nämlich eine Anerkennung von Vielfalt und Gleichheit. Insofern ist jetzt erst mal wichtig, dass man das auseinanderhält. Rechte und linke Identitätspolitik wollen nicht dasselbe, sondern sie haben unterschiedliche Ziele, und umstritten ist bei linker Identitätspolitik, so wie Herr Thierse sie dargestellt hat, mit welchen Mitteln das geschieht. Diese Art und Weise, über linke Identitätspolitik zu sprechen, die ist sehr alarmistisch geworden und die ist sehr problematisch geworden. Das zeigt gerade so ein Begriff wie Cancel Culture, dass der in diesem Kontext fällt, wo es sozusagen um gefühlte Einschränkungen geht und gefühlte Verbotskulturen.
Erwiderung auf Wolfgang Thierse - Privilegien und Machtpositionen als solche erkennen Der frühere Bundestagspräsident Wolfang Thierse erkenne das strukturelle Problem nicht an, dass derzeit weiße, heterosexuelle und patriarchal geprägte Menschen den Ton angeben, kommentiert Anna Seibt.
Rohde: Genau das beklagt Wolfgang Thierse ja auch in dem Ton, den wir eben gehört haben, zu sagen, da werden missliebige Meinungen ausgeschlossen aus dem Diskurs. Man muss sich ja tatsächlich fragen, wie soll eine Verständigung stattfinden, wenn man nur noch in getrennten Räumen reden kann und die andere Seite eigentlich gar nicht mehr gehört werden darf mit ihrer Meinung.
Geier: An diese Problembeschreibung stelle ich immer die Rückfrage: Wer wird denn hier von wem nicht gehört? Wir haben ein ganz interessantes Phänomen, dass Menschen, die eine große Reichweite haben, sehr öffentlichkeitswirksam darüber klagen, dass man irgendetwas angeblich nicht mehr sagen könne. Die sind sehr prominent vertreten in der Öffentlichkeit damit, dass man angeblich etwas nicht sagen könne. Das ist ein Paradox, dem muss man sich erst mal stellen. Das heißt, man muss die Rückfrage auch stellen: Wer kann denn wo überhaupt seine Meinung äußern, wer kann denn wen kritisieren, auf welchem Weg? Und dann kann man anfangen, diese gefühlten Einschränkungen tatsächlich sich anzuschauen, also die Idee von: Wer verbietet wem etwas? Ich finde es wichtig, Unsicherheit ernst zu nehmen – woher kommt dieser Eindruck, dass angeblich man etwas nicht mehr sagen könne? Und die Formulierung, finde ich, weist eher darauf hin, dass es eben tatsächlich darum geht, es geht um Unsicherheiten, weil sich Dinge ändern. Das heißt, wir sind in dem, was eigentlich genau eingefordert wird, wir sind in einem Aushandlungsprozess, wo es auch mal kritisch werden kann, wo es sogar vielleicht unangenehm werden kann, wo Deutungsmacht infrage gestellt wird, wo Positionen infrage gestellt werden, und das empfinden Leute als Angriffe, die sozusagen für sich in Anspruch nehmen, unbehelligt bleiben zu wollen und sich keinen unangenehmen Situationen aussetzen zu müssen und einfach zu behaupten, na ja, wir wollen eben Gemeinsamkeit, das will ich doch auch, aber die wollen die Regeln festsetzen, nach denen diese Gleichheit und diese Anerkennung sich ausdrücken soll. Das heißt, eigentlich wird denen, die Kritik üben, denen wird der Raum abgesprochen, das zu tun, und nicht denen, die immer schon ihre Meinung sagen konnten.
Kontroverse um Thierse - Journalismus als identitätspolitisches Bekenntnis Im Zeichen eines dramatischen technischen, ökonomischen und generationellen Medienwandels verändert sich auch das publizistische Selbstverständnis, meint Stephan Detjen.

Auch nicht-eigene Erfahrungswelten anerkennen

Rohde: Das kann man aber auch anders sehen, also jetzt wieder mit Herrn Thierse gedacht tatsächlich. Man kann ja auch sagen, Identitätspolitik wird dazu genutzt, dass Menschen eben in Täter und Opfer unterteilt werden, also dass dem Opfer per se niemand widersprechen darf und der Täter oder die Täterin darf nicht mehr sprechen. Sehen Sie diese Tendenz nicht auch, dass da ganz klar sozusagen ein Signal gesendet wird, bestimmte Leute dürfen sich aus einer bestimmten Position heraus nicht mehr zu Wort melden?
Geier: Ich sehe das in dieser Radikalität nicht. Was ich sehe, ist, dass wenn so Begriffe wie "Betroffenheit" ganz negativ verwendet werden, und das zeigt sich bei Herrn Thierse, auch wenn er über Opfersein spricht. Wenn wir über Identitätspolitik sprechen, dann geht es ja erst mal darum, zu sagen, ich anerkenne, dass es in deiner Erfahrungswelt etwas gibt, was es in meiner nicht gibt, zum Beispiel hautfarbenbezogenen Rassismus als weiße Person, das erlebe ich nicht. Das heißt, ich muss erst mal anerkennen, dass die Erfahrungswelt anderer Menschen anders ist als meine eigene. Und diese Anerkennung, die ist der Ausgangspunkt. Wenn die nicht da ist, wenn so getan wird, als wenn es reicht, zu sagen, wir wollen doch alle gleich sein und wir wollen doch alle Vielheit und die wollen wir auch alle anerkennen, dann sorgt das natürlich auch für eine gewisse Unduldsamkeit, weil zum Beispiel über Rassismus schon sehr, sehr lange gesprochen wird. Über diese Gleichsetzung von linker und rechter Identitätspolitik, über so Begriffe wie Cancel Culture, kommen Positionen in den Raum, die so tun, als ob Rassismus und Rassismuskritik irgendwie dasselbe seien, weil das eine ist links und das andere ist rechts, und dann haben wir plötzlich eine Gleichsetzung von etwas, was wir als pluralistische Gesellschaft auf gar keinen Fall gleichsetzen dürfen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, das auszudifferenzieren und nicht so zu tun, auf der einen Seite sind die Opfer und die haben plötzlich eine große Macht, sondern wir müssen diese Machtfantasien uns anschauen: Wer kann tatsächlich wem irgendwas verbieten? Wer hat die Deutungsmacht momentan? Wer hat wie viel Sprechraum und wer wird immer noch nicht gehört? Wenn wir diese Dynamik tatsächlich anschauen, dann bin ich sofort bereit zu sagen, das kann im Einzelfall sicher auch unangenehm sein oder es kann auch mal sich in Formen ausdrücken, die nicht in Ordnung sind, ja, aber das heißt nicht, dass das grundsätzliche Anliegen diskussionswürdig oder gar diffamierbar wäre mit diesem Begriff "Identitätspolitik". Es ist ganz wichtig, diese Ansprüche ernst zu nehmen und den alarmistischen Ton derer, die linke Identitätspolitik kritisieren, den zurückzunehmen und von diesem Alarmismus und von dem Reden über Zumutung und sich selber zum Opfer machen einer Identitätspolitik anderer, die zum Beispiel rassismuskritisch ist, das müssen wir bearbeiten. Ich finde hier diese Opferpose, also die Art und Weise, wie man sich darüber aufregt, dass jemand anders Ansprüche an einen stellt und einen Raum der Verhandlung fordert von bestimmter Deutungsmacht oder Sprechpositionen, das sind alles berechtigte Ansprüche.

Sich die eigene Position in der Gesellschaft verdeutlichen

Rohde: Lassen Sie uns ganz kurz noch bei dieser Opferposition bleiben oder die Frage, wer spricht da, weil die ist ja zunehmend relevant geworden in dem Diskurs, also dass es vielleicht nicht mehr so viel darum geht, was wird eigentlich gesagt, isoliert betrachtet, sondern auch die Frage, von wem wird das gesagt. Herr Thierse beklagt ja, dass er da reduziert wird quasi auf seine Identität, und dann gesagt wird, weil er diese Identität hat, darf er nichts mehr sagen, also dass man nur darauf schaut, wer spricht da.
Geier: Man kann das ganz schön rumdrehen, sich mal in die anderen Schuhe setzen und sagen, was die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, also zum Beispiel Herr Thierse, gerade erfahren, ist, als Angehöriger einer Gruppe wahrgenommen zu werden – das ist eine klassische Minderheitenerfahrung. Das ist sozusagen etwas, was unserem Anspruch an Individualität, Menschen individuell wahrzunehmen, widerspricht. Insofern kann ich auch nachvollziehen, dass jemand sagt, wie kann man mich reduzieren auf solche Positionen. Aber das ist jetzt genau der Raum der Verhandlung, um zu sagen, schau her, was mit Minderheiten passiert, wie jemand zum Beispiel mit Rassismus konfrontiert wird aufgrund seiner Hautfarbe. Das hat nichts mit einer individuellen Einschätzung zu tun, sondern mit Projektionen und mit Stereotypisierungen und eben mit Diskriminierung. Erst wenn ich anerkenne, dass die Erfahrung, die eigene soziale Positionierung, etwas ausmacht in der Art und Weise, wie ich mich in der Gesellschaft bewege, aber auch wie ich Sprechräume gestalten kann, welche Möglichkeiten und Chancen mir eröffnet werden, erst wenn wir das anerkennen, dann können wir ja weitergehen einen Schritt und tatsächlich zu den Idealen kommen, die eingefordert werden, nämlich alle Menschen gleich zu behandeln und als Individuen anzusehen. Das heißt, ja, hier wird was spiegelbildlich gerade gemacht. Es wird gesagt, guck mal, was eigentlich mit uns als denen, die wir zu anderen gemacht werden – wie zum Beispiel People of Colour oder schwarze Deutsche –, was mit uns passiert, und wir spielen jetzt einfach mal zurück, dass das, was du dir erarbeitet hast, nicht alles auf individueller Leistung beruht, sondern erst mal auf einer Position.
Als weiße Wissenschaftlerin hab ich bestimmte Probleme im akademischen Raum definitiv nicht, die schwarze Wissenschaftler*innen, und wenn ich dann als Weiße angesprochen werde, ist das einfach eine Tatsache. Dafür kann ich nichts, aber dazu muss ich mich verhalten. Und das ist das was eigentlich wichtig ist, wenn jemand angesprochen wird als weiße Person oder als männliche Person, zu fragen: Was hat das gemacht mit mir" Was bedeutet das für meine Positionierung? Was gibt mir das möglicherweise auch für Chancen? Was hat mir das eröffnet? Und von da aus zu reflektieren und sozusagen den Sprung zu wagen, die Vorstellung zu wagen, wie es anders sein könnte und wie wir eigentlich in einer Gesellschaft zusammenleben wollen, in der nicht alle sozusagen dieselben Chancen qua bestimmter Merkmale haben.
Rohde: Das heißt aber, Sie erwarten eigentlich von jemandem wie jetzt zum Beispiel Herrn Thierse, dass er sich auch positioniert und möglicherweise auch als Betroffenen empfindet, also tatsächlich auch seine Privilegien versteht, um dann die Betroffenheit der anderen Seite auch nachvollziehen zu können. Er äußert sich ja ein bisschen anders und sagt eben, die Betroffenheit sollte nicht entscheidend sein, also das subjektive Empfinden darf gar nicht entscheidend sein, sondern das vernünftig begründete Argument.
Geier: Ich finde es falsch, das gegeneinander zu stellen. Die Tatsache, dass ich anerkenne, dass ich eine bestimmte Position in der Gesellschaft habe, widerspricht ja nicht der Tatsache, dass ich vernünftige Argumente vorbringen kann. Mir ist dieser Widerspruch, der hier aufgemacht wird, vollständig unklar. Worum es eigentlich zu gehen scheint, ist, dass eine Idee da ist von Erfahrungen machen - jemanden, irgendwie, emotional - und dann kann er nicht vernünftig sein. Das sind völlig falsche Überlagerungen. Worum es geht, ist, dass wir anerkennen, dass es Verschiedenheit gibt in der Gesellschaft und dass diese Verschiedenheit sozusagen zum Teil auch eben sich in die Diskriminierung und Privilegierung äußert und dass das eine Bedeutung hat. Das heißt ja nicht, dass wir uns nicht darüber verständigen können, das vernünftige Argument schließt das ja überhaupt nicht aus. Deswegen meinte ich vorhin, dass Betroffenheit so negativ konnotiert ist, ist selber ein Problem, denn es bedeutet ja nicht, dass ich keine vernünftige Beschreibung des Zustandes machen kann, es heißt nur, anzuerkennen, dass nicht alle von vornherein gleich sind, sondern Gleichheit das Ziel ist. Gleichheit kann nicht proklamiert werden, und einfach zu sagen, wir brauchen Gemeinschaft und deswegen haben wir sie jetzt, sondern daran muss gearbeitet werden. Die Voraussetzung dafür ist, anzuerkennen, was der Status quo ist, und das bedeutet eben zum Beispiel, sich bewusst zu machen, dass es Menschen gibt, die machen Rassismuserfahrungen, und andere, die machen keine.
Rohde: Machen wir das mal konkret, und zwar am Beispiel von Blackfacing, also von Weißen, die sich zu Unterhaltungszwecken schwarz anmalen oder angemalt haben in Shows, im Theater. Wolfgang Thierse sieht dieses Blackfacing auch positiv, wir hören mal kurz rein:
Thierse: Kulturelle Aneignung über Hautfarben und ethnische Grenzen hinweg muss möglich sein, das ist ein Wesenselement von Kultur. Grenzüberschreitung, Aneignung von anderem, von Fremdem, sich zueigen machen, dabei die Unterschiede zwar wahrzunehmen, das Eigene wahrzunehmen …
Rohde: Frau Geier, übersieht man möglicherweise die positive Funktion von so etwas wie Blackfacing, wenn man es durchweg als rassistisch bezeichnet?
Geier: Es gibt keine positive Kulturaneignung von Blackfacing, weil das ja voraussetzen würde, dass Blackfacing jemals Teil einer schwarzen Kultur war. Aneignen von einer anderen Kultur kann ich mir sowieso nur, was zu einer anderen Kultur gehört. Blackfacing ist immer schon ein Produkt einer weißen Fantasie. Es ist eine Darstellungspraxis, die kommt aus den sogenannten Minstrel Shows, also weiße Schauspieler*innen spielen für ein weißes Publikum, zur Belustigung eines weißen Publikums schwarz sein, führen das vor mit diskriminierenden stereotypisierenden Vorstellungen, und es macht es nicht besser, wenn man dann sozusagen so tut, als ob die individuelle Handlung in einem anderen Kontext – nehmen wir mal Theater – sozusagen das als eine andere Kulturpraxis bezeichnen würde. Das ist es nämlich genau nicht, denn da haben wir wieder eine weiße Tradition. Deswegen sind das alles Praktiken, die man wirklich in keiner Weise als positive Kulturaneignung beschreiben kann. Was Herrn Thierse fehlt, ist eine Idee von Macht.

Die Haut anderer als Maske zu tragen? Eine Grenzüberschreitung

Rohde: Wie meinen Sie das?
Geier: Wenn ich Blackfacing als positive Kulturaneignung beschreibe, dann hab ich ja nicht nur eine Idee davon, dass ein Sichbefremdenlassen von anderem oder in andere Schuhe schlüpfen irgendwie eine nette spielerische Idee ist, sondern dieses Moment von Aneignung ist ja immer ein Moment von Macht. Und dann ist ja die Frage, wer eignet sich wessen Kultur an, und dann sind wir sofort auch in Räumen, wo klar ist, dass es hier Machtungleichheit gibt. Also die Kulturaneignung ist ja eine, die immer in einer Relation und in einer Beziehung funktioniert und nicht so unschuldig ist – jeder schlappt mal in irgend wessen anderen Schuhe, sondern die ist eine, die ist auch mit historischen Bedeutungen belegt, wer sich in wessen Schuhe und wessen Maskeraden sozusagen ausführen kann. Herr Thierse wischt das einfach mal beiseite und macht das zu einem lustigen, sozusagen befreienden oder bereichernden Spiel, und das ist es nicht. Jemand anderes Haut als Maske zu tragen, ist eine Aneignung, die auch eine Grenzüberschreitung ist.
Rohde: Schauen wir noch auf die Gendersprache: Der Eindruck ist da bei einigen, auch bei Wolfgang Thierse, entstanden, dass gendersensible Sprache an Unis angeordnet wird. Stimmt das?
Geier: Universitäten haben durchaus Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache oder inklusiven Sprachgebrauch, aber wie das Wort schon sagt, das sind eben Leitfäden, und es gibt keinen Fall, in dem irgendwo klar gewesen wäre, dass einem Studierenden vorgeschrieben worden wäre, geschlechtergerechte Sprache zu nutzen und dann entweder eine Note verweigert oder schlechter bewertet worden wäre, weil nicht geschlechtergerechte Sprache benutzt worden ist. Herr Thierse behauptet das, und ich wüsste gerne mal, ob es irgendeinen Beleg dafür gibt. Ich kennen keinen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.