"Ich wusste natürlich auch damals schon, dass alles anders gewesen war, als Dad noch klein war. Man kann es schließlich an allen Ecken und Enden sehen: die hohen Türme mit den zahllosen Wohneinheiten, die im Ödland aufragen. Die Straßen, deren Asphalt mal ganz glatt und eben gewesen war und den sich nun die Wildnis zurückholt. Die Tausende und Abertausende verendeten Autos, an denen wir schon vorübergekommen sind."
Irgendwo in Europa, die Menschheit hat sich in Kriegen beinahe selbst vernichtet. Dabei mitgeholfen hat ein seltsames Virus. Wir befinden uns im Jahr 2064.
"Grenzpatrouillen der Brokes. Sie sprachen dieses Gemisch, das sich in diesen Breiten durchgesetzt hat."
Die Sprache ist Deutsch, versetzt mit einigen türkischen Einsprengseln. Aber ansonsten reden die Menschen 2064 nicht anders als 2020, 44 Jahre zuvor – oder doch?
"Die Boss trug als einzige keinen Helm, sie saß da wie eine verdammte Königin."
100% gendergerechte Sprache
Die Boss ist die Anführerin einer postapokalyptischen Motorradgang. Eine Frau und kein Mann, daher nicht der, sondern die Boss.
Judith Vogt: "Es gab verschiedene Hürden, vor denen wir standen. Eines davon war, dass wir in der Prosa auf Gender-Stern oder Gender-Gap verzichtet haben, sondern dass wir Umschreibungen gemacht haben. Da war ich anfangs unsicher, ob uns das in jeder Situation und in jeder Formulierung glücken würde."
Judith Vogt hat den Roman "Wasteland" zusammen mit ihrem Mann Christian Vogt geschrieben. Das Besondere: in "Wasteland" gibt es zu 100% gendergerechte Sprache. Soll heißen, wenn in einer Gruppe Männer und Frauen vorhanden sind, dann werden auch beide benannt. Das generische Maskulinum ist Vergangenheit. Hier geht es nicht um Marktbesucher, sondern…
"Für die, die den Markt besuchen, gibt es bei den Baracken ein Badehaus."
Künstlerische Selbstbevormundung?
Und anstatt Wachen heißt es:
"Das Haus befindet sich nah an der Grenze und auch nah an den Wachbaracken, sodass die Wachenden einem die Hand wieder festzurren, sobald man die Baracke verlässt."
Judith Vogt: "Ich glaube, es war meine Idee. Letztendlich habe ich einfach sehr häufig gehört, dass es nicht möglich ist, im Deutschen gendergerecht zu schreiben, in der Prosa. Und da habe ich mich gefragt, ist es wirklich nicht möglich? Ich könnte es ja mal ausprobieren."
Judith Vogt hat nicht nur zahlreiche Science-Fiction- und Fantasy-Romane zusammen mit ihrem Mann geschrieben – sie beschäftigt sich regelmäßig auch auf anderen Kanälen mit dem Thema Gleichberechtigung und Diversity in der Literatur, unter anderem in einem eigenen Podcast. Aber warum überhaupt Literatur gendergerecht schreiben – ist das nicht künstlerische Selbstbevormundung? Und sind Partizip-Konstruktionen wie Wachende anstatt Wachen nicht unästhetisch?
"Auf den ersten Blick denkt man sich, das ist jetzt nicht der Ort, wo man so was machen sollte, denn die geschlechtersensible Sprache hat so einen Touch des Bürokratischen, so als würde das nur vorgeschrieben und als würde das nicht von den Sprechern und Sprecherinnen kommen. Deswegen bringt man das gar nicht mit Literatur in Verbindung," sagt Literaturwissenschaftlerin Veronika Schuchter. "Tatsächlich ist es aber so, dass gerade die Literatur sich ja auch eignen würde um da kreativ vielleicht neue Wege zu gehen, damit man jetzt nicht das Binnen-I oder den Genderstern in Texte einbaut, sondern sich überlegt, wie kann ich das kreativ ganz anders machen."
Geschlechterrollen in der Literaturkritik
Veronika Schuchter forscht an der Uni Innsbruck über die Bedeutung von Geschlechterrollen in Literaturkritik. Sie meint: die Debatte über gendergerechte Sprache – ob in Literatur oder in anderen Texten – werde viel zu emotional geführt – Gleichberechtigung in der Sprache sei keine Frage von Ideologie oder Bevormundung – sondern lediglich von Gewohnheit. "Die meisten Leserinnen und Leser kommen noch relativ wenig damit in Kontakt und finden das erstmal komisch, aber je mehr man das liest und auch verwendet umso normaler wird das und das würde dann in 20 Jahren, wenn das regelmäßig gemacht wird, dann wäre das gar keine große Sache mehr."
Und schon jetzt fällt auf: es fällt kaum noch auf. Wasteland ist zwar gendergerecht geschrieben – bemerken tut man es beim Lesen aber kaum. Für Schuchter bedeutet das: das Ding ist gut gemacht. Das Science Fiction-Setting eignet sich gut für solche Experimente, meint sie. Andere Genres haben es da etwas schwerer, das gibt auch die Autorin Judith Vogt zu.
"Ich habe vor kurzem auch ein Interview gelesen mit mehreren belletristischen Autor*innen, die alle sagten: Ja,sie fänden das mal interessant einen gendergerechten Roman in Prosa zu schreiben und zu gucken, ob es geht. Aber es wäre ja jetzt einfach nicht möglich, einen Roman im zeitgenössischen Berlin anzusiedeln und die Leute würden sich dann so unterhalten. Es würde halt unecht wirken. Und damit haben sie vermutlich bis zu einem gewissen Grad recht. Wenn wir die Gegenwart nehmen und irgendwelche Gang-Kriege in Berlin oder so was, die vielleicht auch noch massiv irgendwie sexistisches Gedankengut transportieren oder so, dann ist das natürlich super schwierig zu sagen, die sprechen jetzt aber alle gendergerecht."