Medizin
Warum es auf das Geschlecht (und Gender) ankommt

In der Medizin waren lange Zeit Männer der Standard. Das hat Folgen, vor allem für Frauen. Sie bekommen keine adäquate Behandlung. Die geschlechtersensible Medizin will das ändern. Davon profitiert nicht nur ein Geschlecht, sondern alle.

    Eine Grafik mit einem Herz in der Mitte. Drei Menschen in weißen Kitteln stehen um das Herz und behandeln es.
    Geschlechtsspezifische Unterschiede kennen: Vielleicht kann man ein Herz nicht reparieren, doch bei einer Erkrankung kommt es darauf an, schnell zu reagieren. (IMAGO / fStop Images / Malte Mueller)
    Ein Herzinfarkt ist ein medizinischer Notfall. Doch die Symptome dafür sind bei Männern und Frauen verschieden. So kann ein Herzinfarkt bei Frauen schleichend sein, aber bei Männern ein plötzliches Ereignis. Der Grund sind biologische Unterschiede. Die Medizin war lange Zeit nur auf Männer konzentriert, viele Daten stammten von ihnen. Das beginnt sich langsam zu ändern.

    Inhalt

    Warum unterscheiden sich Symptome von Männern und Frauen?

    Ob bei Herzerkrankungen oder Depression – Frauen und Männer sind von Krankheiten anders betroffen und haben unterschiedliche Symptome. Das hat vor allem biologische Ursachen – so haben Frauen zwei X-Chromosome, Männer hingegen nur ein X- und ein kürzeres Y-Chromosom.
    „Das ist per se schon ein riesiger Unterschied“, sagt die Medizinerin Ute Seeland. Sie hat an der Universität in Magdeburg den einzigen Lehrstuhl für Gendermedizin in Deutschland und ist Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin. Durch den Unterschied der Chromosomen reagieren männliche und weibliche Körper anders – bis hin zum Immunsystem.

    Interesse an Hormonen war lange gering

    Die biologischen Unterschiede betreffen die Anatomie, die Physiologie, die Genetik und die Sexualhormone. Vor allem Geschlechtshormone spielen eine große Rolle, unterstreicht Vera Regitz-Zagrosek. Die Kardiologin hat 2020 das Buch „Gendermedizin“ herausgebracht und forscht seit vielen Jahren zu dem Thema.
    Das Interesse am Zusammenhang zwischen Hormonen und Krankheiten sei lange gering gewesen, sagt Regitz-Zagrosek. Doch seitdem bekannt sei, dass auch Männer im Laufe ihres Lebens hormonellen Schwankungen ausgesetzt sind und dies Einfluss auf ihre Gesundheit hat, sei das Interesse gewachsen.
    Als Beispiel für unterschiedliche Symptome bei den Geschlechtern werden oft Herzkreislauf-Erkrankungen genannt. Während Männer von einem Angina pectoris, ein stechender Schmerz in der Brust, bei einem Herzinfarkt berichten, leiden Frauen meist über eine längere Zeit über Schlappheit.
    „Unter anderem liegt das daran, dass es unterschiedliche Ursachen gibt für die Durchblutungsstörung des Herzmuskels“, erläutert Ute Seeland die Symptome. So seien bei der „klassischen Durchblutungsstörung“ Gefäße verengt, bei Frauen wurde indes festgestellt, dass „das das Gefäß über die ganze Strecke verändert ist“. Das sei bei der Diagnostik mit Kontrastmitteln nicht zu sehen, so die Medizinerin.

    Seit wann gibt es Gendermedizin?

    Eigentlich ist es trivial: Frauen und Männer sind unterschiedlich. Doch in der Medizin wurde lange Zeit nur ein standardisierter männlicher Körper in den Blick genommen. Wie Medikamente bei Frauen wirken, wie bei ihnen Krankheitsbilder aussehen und Krankheiten, von denen besonders ein Geschlecht betroffen ist, wurde erst Ende des 20. Jahrhunderts langsam in den Blick genommen.
    Frauen waren in Studien unterrepräsentiert, erläutert Regitz-Zagrosek. Sie ist eine der Vorreiterinnen der Gendermedizin in Deutschland und Professorin an der Berliner Charité. Fehlende Forschungen führten zu fehlenden Daten. Man spreche deswegen von einem „Gender Data Gap“, einer Datenlücke zum Geschlecht.
    Das hat sich ausgehend von den USA seit den 80er-Jahren geändert. Seit den 90er-Jahren setzte auch ein Umdenken in Deutschland ein. Regitz-Zagrosek erhielt erst 2003 eine Professur für frauenspezifische Gesundheitsforschung mit Schwerpunkt Herzkreislauf-Erkrankungen an der Charité.

    Grundlagenwissen ebnet Weg für Gendermedizin

    Erst jetzt habe sich das Fach Geschlechtersensible Medizin in Deutschland etabliert, erläutert die Medizinerin Ute Seeland von der Universität Magdeburg. Sie besetzt seit März 2024 die bundesweit erste Professur in Vollzeit und mit klinischer Anbindung für das Fachgebiet Geschlechtersensible Medizin. Man sei aber noch am Anfang, auch wenn in den vergangenen fünf bis sieben Jahre Fortschritte gemacht wurden und geschlechtersensible Inhalte etwa an der Berliner Charité ins Studium aufgenommen wurden.
    Dass es „signifikante Unterschiede zwischen Männer und Frauen“ gibt, wurde auch in den Forschungen der vergangenen Jahre deutlich, wie der Neurowissenschaftler Frank Kirchhoff erklärt. So sei erst in den vergangenen Jahren entdeckt worden, wie grundlegende Mechanismen des Nervensystems, der Leber oder der Niere funktionierten. Auch ein anderer Meilenstein der Wissenschaft trugen dazu bei: Vor 25 Jahren wurde das menschliche Genom entschlüsselt.

    Männer sind im Vorteil

    Doch noch ist es ein weiter Weg zu einer geschlechtersensiblen Medizin. Ute Seeland verweist auf ein wichtiges Problem in der Forschung: Oftmals würden die erhobenen Daten in einen Topf geworfen und nicht nach Geschlecht differenziert. Das Ergebnis: Es gibt Daten über einen Menschen, „den es eigentlich gar nicht gibt“. Dabei seien Männer im Vorteil, „weil die Daten eher auf Männer passen“, so Seeland.
    Die Magdeburger Professorin plädiert im Sinne der geschlechtersensiblen Medizin dafür, die erhobenen Daten nach Geschlechtern zu differenzieren und zu untersuchen. Darüber hinaus seien jedoch noch weitere Daten relevant, etwa das Alter oder der soziokulturelle Kontext. „Den Durchschnittsmenschen gibt es nicht“, unterstreicht Seeland.

    Was bedeuten die fehlenden Daten zu Frauen bei Medikamenten?

    Wie Medikamente vom Körper verarbeitet werden, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Das Geschlecht ist einer davon. Unter anderem ist das Verhältnis von Wasser, Fett und Muskulatur bei Frauen- und Männerkörpern verschieden. Dadurch werden „Arzneimittel unterschiedlich vom Körper aufgenommen und dann in den Blutkreislauf abgegeben“, sagt der Neurowissenschaftler Frank Kirchhoff
    Diese geschlechtsspezifische Funktionsweise von Arzneimitteln kann aufgrund fehlender Daten bzw. Studien dazu führen, dass Medikamente nicht wirken, weil beispielsweise die Zielorgane nicht erreicht werden. Außerdem können sie falsch dosiert oder in der falschen Form dargereicht werden.
    Als Beispiel nennt die Medizinerin Vera Regitz-Zagrosek gängige Schlafmittel. Diese werden von Frauen langsamer verstoffwechselt als von Männern. Lange wurden in den USA bei Frauen die gleiche Dosierung eingesetzt – bis vor etwa zehn Jahren. Dann habe die US-Zulassungsbehörde Verkehrsunfälle untersucht. Dabei wurde festgesellt, „dass ein Teil davon wohl auf überhöhte Konzentration dieses Schlafmittels im Blut der Frauen zurückgeführt werden konnte“.
    Das Ergebnis: „Die Amerikaner haben verlangt, dass in die Beipackzettel für dieses Medikament geschrieben wird, dass Frauen eine niedrigere Dosis nehmen sollen.“ Außerdem wurde eine Pille mit niedriger Dosierung für Frauen auf den Markt gebracht.

    Geht es bei Gendermedizin nur um Frauen?

    Nein, es geht um alle Geschlechter. Im Mittelpunkt steht dabei der individuelle Patient bzw. die individuelle Patientin – mit dem jeweiligen Geschlecht. Vera Regitz-Zagrosek, ehemalige Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité Berlin, formuliert es so: „Mediziner müssen wissen, dass sich Frauen und Männer in vielen biologischen Gegebenheiten unterscheiden.“
    Das Geschlecht ist aber nicht nur biologisch bestimmend. Auch der soziokulturelle Bereich sei wichtig, unterstreicht die Medizinerin Ute Seeland. Dieser gesellschaftliche Bereich wird im Englischen als Gender bezeichnet.
    Der soziokulturelle Bereich werde in der medizinischen Forschung zu wenig beachtet, so Seeland. Doch Gender beeinflusse, wie man medizinische Angebote wahrnimmt oder wie Menschen von Ärzten behandelt werden. Als Beispiele nennt die Medizinerin Brustkrebs und Osteoporose.

    Auch Männer können Brustkrebs bekommen

    Brustkrebs tritt hundertfach häufiger bei Frauen auf. Für sie gibt es Vorsorgeuntersuchungen sowie ein Bewusstsein darüber, dass sie von der Krankheit betroffen sein können. Weniger bekannt sei dagegen, dass auch Männer daran erkranken können. Betroffene und ihre Partnerinnen würden dann nicht daran denken, dass sie ebenfalls Brustkrebs haben könnten berichtet Seeland. „Wenn man zum Arzt oder zur Ärztin geht, ist es nicht unbedingt so, dass zuerst der Gedanke des Brustkrebses kommt. Das ist gefährlich.“
    Ein weiteres Beispiel ist Osteoporose. Viele Mediziner wüssten nicht, dass auch Männer daran erkranken können. Die Folge: Wenn überhaupt erfolgt die Diagnose erst sehr spät. Außerdem seien Osteoporose-Medikamente nur für Frauen zugelassen.
    Auch trans Personen kommt geschlechtersensible Medizin zugute. Die Medizinerin Seeland nennt Beispiele: Wenn es etwa um den Knochenbau geht, sei das biologische Geschlecht wichtig; wenn es sich dagegen um eine Herz-Kreislauf-Erkrankung handelt, spielte die Phase der Hormonbehandlung eine Rolle.

    rzr

    Redaktionell empfohlener externer Inhalt

    Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.