Diese Sätze stehen in dem "Schlusswort", das Reinhard Jirgl seiner jetzt publizierten Trilogie "Genealogie des Tötens" angefügt hat. Es ist mittlerweile rund vierzehn Jahre her, dass Jirgl diese Trilogie abgeschlossen hatte. Damals war der Fünfunddreissigjährige in der DDR ein Schriftsteller ohne jedes veröffentlichte Werk; einer, der seit den 70er Jahren seine Texte abzukapseln versucht hatte "von der verfügten "Normalität" im gesellschaftlichen Sprechen und Habitus" jenes Staats; und der, nach Ausbildung und Elektronik-Studium, ein paar Jahre an der "Akademie der Wissenschaften" als Ingenieur gearbeitet hatte, bis sich ihm seit 1978 ausgerechnet in der Beleuchtungstechnik an der Berliner "Volksbühne" eine andere Tarnung bot, seine Textwelten weiter auszubauen.
Dass Jirgl sich weigert, den Tod aus der menschlichen Lebens-Erfahrung auszublenden, ist an seinen in den 90er Jahren neu entstandenen - und immerhin endlich auch veröffentlichten - Romanen oft registriert worden. Diese großen Romane, "Abschied von den Feinden", "Hundsnächte" und "Die atlantische Mauer", haben ihm Literaturpreise, aber auch den Ruf eines widerborstigen "Weltverfinsterers" eingetragen, der sich darauf spezialisiert habe, vor allem die Schuttplätze des Lebens aufzusuchen und hartnäckig immer wieder alle geläufigen Glücks- und Heilsversprechen zu zertrümmern. Bei solchen Echos auf seine Versuche, die literarischen Formen des Realismus zu radikalisieren, die ihn oft in die Ecke morbider Schwarzmalerei stellen, ist es nicht erstaunlich, wenn Jirgl eine "Linie gleicher Unverschämtheit" von den staatssozialistischen bis zu den glückspornographischen Zukunftsverheißern der heutigen Zeit laufen sieht.
Genealogie des Tötens, bei Hanser als Typoskript vom Format eines Berliner Telephonbuchs, allerdings nur in kleiner Auflage erschienen, gehört zu seinem "Nachlass zu Lebzeiten", wie Jirgl diese Trilogie mit Robert Musils treffendem Titel für Texte bezeichnet hat, die nach ihrem Entstehen für Jahre aussichtslos in Schubläden verschwinden. Das könnte leicht den Eindruck hervorrufen, dass die drei Teile dieser "Genealogie des Tötens" nur museale Rückblicke auf Jirgls 80er-Jahre-Textproduktion und allenfalls noch auf das Spätstadium der DDR zulassen.
Doch das wäre ein irriger Eindruck. Sicher, diese Trilogie schließt auch eine Leerstelle der Chronologie von Jirgls Schreibpraxis in den 80er Jahren, namentlich zwischen dem "Mutter Vater Roman" und dem aus kurzen Prosatexten konfigurierten sogenannten Schichtungsroman "Im offenen Meer", die kurz nach der Wende publiziert worden sind, damals aber kaum beachtet wurden. Viel entscheidender ist aber, dass die "Genealogie des Tötens" am Motiv der Gewalt und ihren Strukturen, die in jeder Form von Gesellschaft virulent sind, erkennen lässt, aus welcher strategischen Position und in welcher literarischen Form Jirgl auf solche Motivkomplexe zuzugreifen pflegt. Zu seiner strategischen Position findet sich in dem Schlusswort jetzt übrigens eine aufschlußreiche Erläuterung:
Meine hartnäckige Nichtteilnahme auch an sogenannten Widerstands-Diskursen zu Zeiten der innerdeutschen Teilung, zudem die Tatsache - wie seinerzeit Cézanne nur für sich selbst malte - nur für mich allein zu schreiben, erlaubten mir in jeglicher Hinsicht ein Höchstmaß an schriftstellerischer Freiheit; ich hatte es "nur" mit den eigenen Anforderungen und der eigenen Verantwortung zu tun. Dem gefundenen ästhetischen Entwurf, ohne irgend Rücksichtnahme auf Verkaufbarkeit, gerecht zu werden, galt und gilt noch immer mein gesamtes Schreiben.
Man muss folglich auch in dieser "Genealogie des Tötens" auf die Formen achten, in denen hier, mit Anspielung des Titels auf Nietzsches "Genealogie der Moral", von der "Macht zum Töten" als einem - wie Jirgl schreibt - "konstanten Bestandteil jeder Moral" erzählt wird, wobei - wie es weiter heißt - das "Töten keineswegs ausschließlich des Blutvergießens (bedarf)". Die einzelnen Teile dieser Trilogie legen gewissermaßen einen Querschnitt durch das einmal sogenannte "zentralbeheizte Neandertal", und in jedem der drei Texte kehrt das Motiv des Tötens wieder als ein elementares Muster, das in der Zivilisationsgeschichte offenbar sowohl dem individuellen Handeln als auch den Strukturen der Gesellschaften eingeprägt bleibt.
Ich kann die Welt der Dinge nicht besiegen. Jeder Baum kann Galgen sein. Jeder Gashahn auch Ersticken. Jedes Fenster ist auch Absprung.
heißt es einmal, und an anderer Stelle:
Der Lebenstrieb, ein schicksalhaftes Kraftfeld für Vernichtung.
Die drei Teile von "Genealogie des Tötens" sind: "Klitaemnestra Hermafrodit & "Mamma Pappa Tsombi". Ein Text", der die Jahreszahl 1985 trägt, "MER - Insel der Ordnung. Ein Testament" von 1988 sowie "Kaffer. Nachrichten aus dem zerstörten Leben" mit der Datierung 1986/ 1990. Diese Texte sind innerhalb weniger Jahren neben Jirgls offizieller Arbeit an der "Volksbühne" entstanden, und Reflexe der Tätigkeit am Theater - und auch des Einflusses von Heiner Müller - finden sich vor allem in den beiden ersten Texten, die sich zumindest zum Teil auch der Dramen-Form bedienen.
"Klitaemnestra Hermafrodit" greift über den Stoff und die Form der Tragödien "Iphigenie in Aulis" und "Elektra" des Euripides auf den KlytaimestraMythos zurück - also auf die Urgeschichte jener zwischen den Göttern, der Staatraison und den familiären Bindungen zerrissenen mykänischen Herrscherfamilie, die sich in den Verkettungen von Iphigenies Opferung und den folgenden Gatten- und Muttermorden langsam dezimiert. Bei dieser Adaption hat Jirgl dem antiken Tragödienstoff immer wieder Spurenelemente der Gegenwart eingepflanzt, etwa wenn er Agamemnon nach zehn Jahren des trojanischen Krieges wie über eine Welt der industriellen Vernutzung von Leben sagen läßt:
Die Toten rufen mich und alle Namen, mit Würmerzunge aus Efeumaul, und meißeln Silben in den Stein. Ein Zittern in der Welt aus den Fabriken, Verwesung im Dreischichtsystem. Der Meißelschlag der Toten kitzelt meine Sohlen!
Mit "Mamma Pappa Tsombi" ist dieser antiken Familientragödie die komplementäre Geschichte einer Familie im kleinbürgerlichen Milieu einer Großstadt angefügt, die in ihrem sprachlosen Alltag allmählich zerrieben wird, bis die ältere Tochter, die elfjährige Tine, eines Nachts den schlafenden Eltern die Kehlen durchschneidet - so als könne das Messer auf diese Weise vom unerträglichen Leerlauf dieses Lebens befreien, der sich etwa in der Sprache von Tines debiler jüngerer Schwester Fine zeigt. Mehr als die drei Worte "Mamma Pappa Tsombi" hat sie niemals gelernt, Tag für Tag auf dem Schoß ihres biertrinkenden Vaters, der mit ihr stundenlang Horror- und Splatterfilm-Videos anzusehen pflegte.
Jetz Fineken kuckma jetz hammsese inner Falle aus der Sack Gasse kommtze nich mehr raus. Loos Tsombies reißt ihrn Arschauf - bääx - die kotzn ihre ganzn Eingeweide überse rüber bei dem Unfall damals vom Günter lags Gehirn aufer Straße weißrote Suppe der muß dem direkt übern Kopf gefahren sein das Zeug war übern Asfalt verspritzt als wär der Schädel explodiert das Komische sonst nicht 1 1ziger Knochen kaputt nicht mal 1 Prellung. Tausche gut erhaltene Leiche (Körper zur Ersatzteilgewinnung) gegen Führerschein Klasse 5 - (Säuft) - Und wenn mir der Kärrl nochma so-kommt wie gestern ziehch ihmn Schraumschlüssl üwer de Birne und wenner zehnmal Meister is. Denkt er kann mich zum Hipper machng. "Das Getriebe vom Siehmunnfümfziger dahintn abschmieren Kollege bevor Sie nicht wissen was Sie tun solln". Am Freitachnachmittach-um-drei der Wixer. Nichnochmalmit-mir-du-. - (Säuft) - Hui Fineken kummadah der Olle hat den jungschen Rammler von seim Töchterchen in seine Hobbidrehbank eingeschpannt unt - unt - untah haut ihm der Bohrer inne Birne. Wußte doch immer diese Bastler sinnischt andres alswie Sadistn unt Tsombies
Ob im Zugriff auf mythologisches Material in der Tragödienform, ob im Zugriff auf Alltagsmaterial in einem mehrstimmigen Synchrontext wie "Mamma Pappa Tsombi" - im ersten Teil dieser Trilogie ist das Töten für die Protagonisten jeweils der Versuch, sich in ihren unmöglich gewordenen Lebenslagen wenigstens noch die Illusion eines Auswegs zu erzwingen, obwohl es letztlich zwar "keine Lösung, (...) aber auch keine Nicht-Lösung" ist. Doch genau diese dämonische Logik, weder eine Lösung noch eine Nicht-Lösung zu sein, sorgt mit dafür, dass das Töten auch unter den Bedingungen heutiger Zivilisationen ein beunruhigend konstanter Bestandteil ihrer Wirklichkeiten bleibt.
In die nach antikem Schema aufgebaute Tragödienform von "Klitaemnestra Hermafrodit" hat Jirgl als Episoden einige Prosatexte eingesprengt, die Alltagsszenen oder Motive aus der 80er-Jahre-Gegenwart aufgreifen. Durch diese Pole der Gegenwart entsteht ein Magnetfeld, in dem der KlytaimestraMythos - wie Jirgl es nennt - "verbraucht" wird "wie ein Industrieprodukt", also die Gegenwärtigkeit der mythischen Stoffe aufscheint. Wie aktuell solche Versuche bleiben können, auf diese Weise die mythische Urgeschichte in einer "Genealogie des Tötens" bis in die keineswegs nur nach dem Muster der "Kleingartnpatzelle Deh Deh eR" geformten modernen Zivilisationen zu verfolgen, zeigt eine dieser Episoden, ein längerer Prosatext mit dem Titel "Heart of Clay". Er schildert - wie in der Parabel eines eisigen Albtraums - die Dienstfahrt eines Beamten in eine fremde Stadt, in deren Schritt für Schritt unheimlicherer Atmosphäre er schließlich durch die Begegnung mit einer Frau, die ihn einst verlassen hatte, dazu verführt wird, ein Massaker anzurichten. Mit einer Maschinenpistole bewaffnet, kämmt er systematisch die Stockwerke einer sogenannten "ZENTRALE" durch und erschießt alle Chefs, deren Ermordung aber hingenommen wird, als gehöre deren Auswechselbarkeit von vornherein zum System dieser "ZENTRALE".
DRAUSSEN 1 blauer Tag, in den Lüften Bittermandel + Abgas, Getümmel der Töne, Ab-Flüsse strömen. Die Stadt rauscht ihre Katarakte herab. Häuser, jene düstren Schilde der Nacht, Gemäuer aus bröckligem Ziegel jetzt, Windböen fahrn durch leere Fenster - diese Stadt bleibt menschen-Los, welliges Rinnsel, Wände blatternarbig, schimmeliggelb, Hausecken urinverätzt. Manche Fenster hinter Rollos, faltigen Lidern aus Holz, verborgen. Auf den Gehsteigen die Alibis zuletzt gehabter Nacht - Zigarettenkippen Frommshäute verschorfte Watten Schnapsflaschen leer + zerschellt, + Kotzefladen vor Laternenpfählen - ich gehe durch den Trödel fremder Lust. Vielleicht unterbrechen jetzt die Radiostationen ihre frühmorgendlichen Musiksendungen, die UNGEHEUERLICHKEIT zu verkünden denen, die UNGEHEUERLICHKEITEN stets so rasch vergessen: MORD IN DER ZENTRALE! :In allen Etagen habe ich Büttel diskret routiniert perfekt die Leichen der Chefs forträumen sehn. Später, erst jetzt + schon auf dem Weg zurück zu der Frau, fiel mir ein, dass ich versäumt hatte nachzuschaun, wer die toten Chefs ersetzen mag: 1 Mann? 1 Frau? : die Zentrale wird von dieser Entscheidung nicht betroffen sein. Ich werde zurückgehen zu dieser Frau + ihr sagen, dass nichts sich verändert hat.
Nicht nur in diesem Text eines Serienmörders, der nach dem ersten Mord die späteren aufgehört hat zu zählen, befindet sich Jirgls "Genealogie des Tötens" inmitten jener Phänomene, auf die nach Ereignissen wie am 11. September oder dem Massaker von Erfurt stets nachträglich mit sogenannten Gewalt-Debatten hilflos reagiert wird. Die Frage ist, warum gerade eine Literatur wie die Jirgls, der oft ihre morbide Realitätsverzerrung vorgeworfen wird, tatsächlich aber sehr präzise solche in den Gesellschaften schlummernden Gewaltpotentiale erfaßt.
Macht + Tod sind ohne Sprache
schreibt Jirgl einmal, und diese "Genealogie des Tötens" muß als Versuch verstanden werden, für diese sonst so unheimlich sprachlosen Phänomene eine Sprache zu finden. In diesem Kontext sind auch die beiden anderen Teile der Trilogie erstaunlich aktuell geblieben, die nicht so sehr von plötzlich hervorbrechenden Gewaltakten, sondern von tödlichen Gewaltstrukturen der Gesellschaft selbst handeln. Dabei weisen die Prosasprache und Erzähltechniken von "MER - Insel der Ordnung" und "Kaffer. Nachrichten aus dem zerstörten Leben" schon sehr stark auf Jirgls 90er-Jahre-Romane voraus.
"Kaffer", das Schlussstück der Trilogie, lässt in der heruntergekommenen Parterrewohnung eines Berliner Hinterhofs einen alten Mann, der mit dem kauzigen Sarkasmus einer Beckett-Figur dem eigenen Ende entgegentreibt, durch die Erinnerungsfluchten seines Lebens trudeln. Offenbar ist er schon lange zu einem Fall für das staatliche Medizin- und Psychatrie-System geworden. In der Küche dieser Wohnung hat sich jedenfalls "ein Bewacher" einquartiert, ein Psychiater, der sich allerdings so tief in diesen Fall verbissen hat, dass er längst selbst in den Untergangssog des Alten geraten ist und von ihm kaum mehr zu unterscheiden wäre, wenn er nicht über die Beamten-Insignien staatlicher Macht verfügte:
Solange noch 1 Stempel auf diesem Schreibtisch liegt, bin ich ihm überlegen und niemand wird merken dass 1 Kranker 1 Kranken 1 Krankheit zuweist, ist jedes meiner Worte Urteil auch & Ende.
Der Psychiater weiß, dass sein Urteil den Alten in eine Anstalt bringen wird, wenn er ihm ein "Bekenntnis zur Asozialität & insbesondere zur Gewalt" entlocken kann; folglich wäre dieses Urteil ein "Todesurteil", und zwar in dem modernen und unblutigen Sinne, dass der Alte dann verurteilt wäre, in der Klinik zu sterben. In den grotesken Szenerien zwischen dem Alten und dem Psychiater ist folglich ein System der Bespitzelung vorgeführt, von dessen Erfolg auch die Zukunft dieses Psychiaters abhängt. Denn nur wenn es ihm gelingt, den Alten in einer Anstalt mundtot zu machen, würden auch die Spuren seiner jahrelangen Praxis verwischt, sein Opfer auch auf eine bizarre Weise sexuell ausgebeutet zu haben.
Das makabre Duell zwischen den Sprachschüben des verstörten Alten und den Bespitzelungstechniken seines Bewachers erreicht manchmal die Komik eines Beckett-Stücks; aber ähnlich wie bei Beckett erzeugt sie vor allem Höllengelächter, denn dieser Text verfolgt immerhin, wie sich der Impuls des Tötens ohne weiteres der Machtstrukturen eines offiziell von humanistischer Moral gespeisten Systems der Medizin bedienen kann. Noch ein Stück weiter getrieben ist diese Höllenfahrt ins "Kraftfeld für Vernichtung", das Gesellschaft heißt, in dem umfangreichsten - und erzählerisch überzeugendsten - Mitteltext dieser Trilogie. In "MER - Insel der Ordnung" ist auf der Ostsee-Insel Hiddensee auf geradezu klassische Weise der Mikrokosmos einer Gesellschaft installiert. Drei Männer verschiedenen Alters, deren Ehen gescheitert sind, werfen schon auf ihrer Urlaubsreise zur Insel allesamt ein Auge auf eine im Zug mitreisende junge Frau.
Während sie nach der Ankunft weiter um die Gunst der jungen Frau konkurrieren und dabei die Charakterzüge und Viten der drei Männer zum Vorschein kommen, die jeweils in Ich-Form von den Ereignissen erzählen, verwandelt sich die Urlaubsinsel, nachdem auf dem Festland ein Atomkrieg ausgebrochen scheint, binnen kurzer Zeit in einen Polizeistaat. Vom Festland abgeschnitten und auf die mangelhaften Ressourcen zum Überleben zurückgeworfen, schwelen unter der Polizeistaats-Ordnung allerdings diverse Konflikte zwischen der einheimischen Bevölkerung, den Urlaubern und der Ordnungsmacht weiter.
Zwar wird einerseits notdürftig ein Lazarett eingerichtet, um die sich nach den nuklearen Explosionen plötzlich häufenden Erkrankungen jedenfalls solange zu behandeln, wie es medizinische Vorräte gibt, und auch eine Arbeitsvermittlung für die plötzlich festsitzenden Urlauber entsteht, denen als Lohn eine bessere Lebensmittelversorgung versprochen wird. Doch andererseits bilden sich auch Schwarzmärkte mit mafiösen Strukturen gewalttätiger Gruppen und finden Brandstiftungen statt, obwohl die Polizei jeden Aufruhr der von Informationen abgeschnittenen Bevölkerung zu unterdrücken sucht. Wie eine Satire auf die Bedeutung des Theaters im einstmals "real existierenden Sozialismus" ist es, dass einer der drei Männer, ein Physiker, schließlich ein Theaterstück schreibt, das die Bevölkerung selbst aufführt. Dieses Stück soll den Eingesperrten auf der Insel eigentlich die Möglichkeit einer Flucht weisen. Doch das einzige Ergebnis der Aufführung ist nur die Entdeckung, dass bei der Lebensmittelversorgung auf der Insel längst die Grenze zum Kannibalismus überschritten ist.
In dieser erzählerischen Versuchsanordnung hat Jirgl allerlei charakteristische Elemente der DDR benutzt, um das Modell einer Gesellschaft zu entwerfen, die im Moment einer der modernen Groß-Katastrophen, wie sie in den 80er Jahren ja etwa mit der Kernschmelze des Tschernobyl-Reaktors eingetreten war, ihre innerste Struktur zeigt. Die Faustregel für das Leben in solchen modernen Gesellschaften lautet bei Jirgl:
In kleinen Schritten haben wir uns unseren Glücken angenähert = in großen Schritten sind wir auf unsere Katastrofen zugeeilt.
Eine Flucht ist aus solchen Gesellschaften nicht mehr möglich, deren Fortexistenz darauf beruht, die Menschen selbst, also die eigene Substanz, buchstäblich aufzuzehren. Mit dieser Anti-Utopie, dass sich Tod und Töten auf je eigene Weise mitten in modernen Gesellschaften weiter vollziehen, rückt Jirgl den Selbsttäuschungen des zivilisatorischen Fortschritts vehement zuleibe. Wenn diese zu schön sind, um wahr zu sein, sind ihre literarischen Demontagen zu wahr, um schön zu sein. Die einzige Verheißung, die Jirgls Realismus übrig lässt, ist ein kleiner Konjunktiv am Realitätsmaximum.
Aus der Verzweiflung (...) könnte das Um-Lernen folgen.
Dass Jirgl sich weigert, den Tod aus der menschlichen Lebens-Erfahrung auszublenden, ist an seinen in den 90er Jahren neu entstandenen - und immerhin endlich auch veröffentlichten - Romanen oft registriert worden. Diese großen Romane, "Abschied von den Feinden", "Hundsnächte" und "Die atlantische Mauer", haben ihm Literaturpreise, aber auch den Ruf eines widerborstigen "Weltverfinsterers" eingetragen, der sich darauf spezialisiert habe, vor allem die Schuttplätze des Lebens aufzusuchen und hartnäckig immer wieder alle geläufigen Glücks- und Heilsversprechen zu zertrümmern. Bei solchen Echos auf seine Versuche, die literarischen Formen des Realismus zu radikalisieren, die ihn oft in die Ecke morbider Schwarzmalerei stellen, ist es nicht erstaunlich, wenn Jirgl eine "Linie gleicher Unverschämtheit" von den staatssozialistischen bis zu den glückspornographischen Zukunftsverheißern der heutigen Zeit laufen sieht.
Genealogie des Tötens, bei Hanser als Typoskript vom Format eines Berliner Telephonbuchs, allerdings nur in kleiner Auflage erschienen, gehört zu seinem "Nachlass zu Lebzeiten", wie Jirgl diese Trilogie mit Robert Musils treffendem Titel für Texte bezeichnet hat, die nach ihrem Entstehen für Jahre aussichtslos in Schubläden verschwinden. Das könnte leicht den Eindruck hervorrufen, dass die drei Teile dieser "Genealogie des Tötens" nur museale Rückblicke auf Jirgls 80er-Jahre-Textproduktion und allenfalls noch auf das Spätstadium der DDR zulassen.
Doch das wäre ein irriger Eindruck. Sicher, diese Trilogie schließt auch eine Leerstelle der Chronologie von Jirgls Schreibpraxis in den 80er Jahren, namentlich zwischen dem "Mutter Vater Roman" und dem aus kurzen Prosatexten konfigurierten sogenannten Schichtungsroman "Im offenen Meer", die kurz nach der Wende publiziert worden sind, damals aber kaum beachtet wurden. Viel entscheidender ist aber, dass die "Genealogie des Tötens" am Motiv der Gewalt und ihren Strukturen, die in jeder Form von Gesellschaft virulent sind, erkennen lässt, aus welcher strategischen Position und in welcher literarischen Form Jirgl auf solche Motivkomplexe zuzugreifen pflegt. Zu seiner strategischen Position findet sich in dem Schlusswort jetzt übrigens eine aufschlußreiche Erläuterung:
Meine hartnäckige Nichtteilnahme auch an sogenannten Widerstands-Diskursen zu Zeiten der innerdeutschen Teilung, zudem die Tatsache - wie seinerzeit Cézanne nur für sich selbst malte - nur für mich allein zu schreiben, erlaubten mir in jeglicher Hinsicht ein Höchstmaß an schriftstellerischer Freiheit; ich hatte es "nur" mit den eigenen Anforderungen und der eigenen Verantwortung zu tun. Dem gefundenen ästhetischen Entwurf, ohne irgend Rücksichtnahme auf Verkaufbarkeit, gerecht zu werden, galt und gilt noch immer mein gesamtes Schreiben.
Man muss folglich auch in dieser "Genealogie des Tötens" auf die Formen achten, in denen hier, mit Anspielung des Titels auf Nietzsches "Genealogie der Moral", von der "Macht zum Töten" als einem - wie Jirgl schreibt - "konstanten Bestandteil jeder Moral" erzählt wird, wobei - wie es weiter heißt - das "Töten keineswegs ausschließlich des Blutvergießens (bedarf)". Die einzelnen Teile dieser Trilogie legen gewissermaßen einen Querschnitt durch das einmal sogenannte "zentralbeheizte Neandertal", und in jedem der drei Texte kehrt das Motiv des Tötens wieder als ein elementares Muster, das in der Zivilisationsgeschichte offenbar sowohl dem individuellen Handeln als auch den Strukturen der Gesellschaften eingeprägt bleibt.
Ich kann die Welt der Dinge nicht besiegen. Jeder Baum kann Galgen sein. Jeder Gashahn auch Ersticken. Jedes Fenster ist auch Absprung.
heißt es einmal, und an anderer Stelle:
Der Lebenstrieb, ein schicksalhaftes Kraftfeld für Vernichtung.
Die drei Teile von "Genealogie des Tötens" sind: "Klitaemnestra Hermafrodit & "Mamma Pappa Tsombi". Ein Text", der die Jahreszahl 1985 trägt, "MER - Insel der Ordnung. Ein Testament" von 1988 sowie "Kaffer. Nachrichten aus dem zerstörten Leben" mit der Datierung 1986/ 1990. Diese Texte sind innerhalb weniger Jahren neben Jirgls offizieller Arbeit an der "Volksbühne" entstanden, und Reflexe der Tätigkeit am Theater - und auch des Einflusses von Heiner Müller - finden sich vor allem in den beiden ersten Texten, die sich zumindest zum Teil auch der Dramen-Form bedienen.
"Klitaemnestra Hermafrodit" greift über den Stoff und die Form der Tragödien "Iphigenie in Aulis" und "Elektra" des Euripides auf den KlytaimestraMythos zurück - also auf die Urgeschichte jener zwischen den Göttern, der Staatraison und den familiären Bindungen zerrissenen mykänischen Herrscherfamilie, die sich in den Verkettungen von Iphigenies Opferung und den folgenden Gatten- und Muttermorden langsam dezimiert. Bei dieser Adaption hat Jirgl dem antiken Tragödienstoff immer wieder Spurenelemente der Gegenwart eingepflanzt, etwa wenn er Agamemnon nach zehn Jahren des trojanischen Krieges wie über eine Welt der industriellen Vernutzung von Leben sagen läßt:
Die Toten rufen mich und alle Namen, mit Würmerzunge aus Efeumaul, und meißeln Silben in den Stein. Ein Zittern in der Welt aus den Fabriken, Verwesung im Dreischichtsystem. Der Meißelschlag der Toten kitzelt meine Sohlen!
Mit "Mamma Pappa Tsombi" ist dieser antiken Familientragödie die komplementäre Geschichte einer Familie im kleinbürgerlichen Milieu einer Großstadt angefügt, die in ihrem sprachlosen Alltag allmählich zerrieben wird, bis die ältere Tochter, die elfjährige Tine, eines Nachts den schlafenden Eltern die Kehlen durchschneidet - so als könne das Messer auf diese Weise vom unerträglichen Leerlauf dieses Lebens befreien, der sich etwa in der Sprache von Tines debiler jüngerer Schwester Fine zeigt. Mehr als die drei Worte "Mamma Pappa Tsombi" hat sie niemals gelernt, Tag für Tag auf dem Schoß ihres biertrinkenden Vaters, der mit ihr stundenlang Horror- und Splatterfilm-Videos anzusehen pflegte.
Jetz Fineken kuckma jetz hammsese inner Falle aus der Sack Gasse kommtze nich mehr raus. Loos Tsombies reißt ihrn Arschauf - bääx - die kotzn ihre ganzn Eingeweide überse rüber bei dem Unfall damals vom Günter lags Gehirn aufer Straße weißrote Suppe der muß dem direkt übern Kopf gefahren sein das Zeug war übern Asfalt verspritzt als wär der Schädel explodiert das Komische sonst nicht 1 1ziger Knochen kaputt nicht mal 1 Prellung. Tausche gut erhaltene Leiche (Körper zur Ersatzteilgewinnung) gegen Führerschein Klasse 5 - (Säuft) - Und wenn mir der Kärrl nochma so-kommt wie gestern ziehch ihmn Schraumschlüssl üwer de Birne und wenner zehnmal Meister is. Denkt er kann mich zum Hipper machng. "Das Getriebe vom Siehmunnfümfziger dahintn abschmieren Kollege bevor Sie nicht wissen was Sie tun solln". Am Freitachnachmittach-um-drei der Wixer. Nichnochmalmit-mir-du-. - (Säuft) - Hui Fineken kummadah der Olle hat den jungschen Rammler von seim Töchterchen in seine Hobbidrehbank eingeschpannt unt - unt - untah haut ihm der Bohrer inne Birne. Wußte doch immer diese Bastler sinnischt andres alswie Sadistn unt Tsombies
Ob im Zugriff auf mythologisches Material in der Tragödienform, ob im Zugriff auf Alltagsmaterial in einem mehrstimmigen Synchrontext wie "Mamma Pappa Tsombi" - im ersten Teil dieser Trilogie ist das Töten für die Protagonisten jeweils der Versuch, sich in ihren unmöglich gewordenen Lebenslagen wenigstens noch die Illusion eines Auswegs zu erzwingen, obwohl es letztlich zwar "keine Lösung, (...) aber auch keine Nicht-Lösung" ist. Doch genau diese dämonische Logik, weder eine Lösung noch eine Nicht-Lösung zu sein, sorgt mit dafür, dass das Töten auch unter den Bedingungen heutiger Zivilisationen ein beunruhigend konstanter Bestandteil ihrer Wirklichkeiten bleibt.
In die nach antikem Schema aufgebaute Tragödienform von "Klitaemnestra Hermafrodit" hat Jirgl als Episoden einige Prosatexte eingesprengt, die Alltagsszenen oder Motive aus der 80er-Jahre-Gegenwart aufgreifen. Durch diese Pole der Gegenwart entsteht ein Magnetfeld, in dem der KlytaimestraMythos - wie Jirgl es nennt - "verbraucht" wird "wie ein Industrieprodukt", also die Gegenwärtigkeit der mythischen Stoffe aufscheint. Wie aktuell solche Versuche bleiben können, auf diese Weise die mythische Urgeschichte in einer "Genealogie des Tötens" bis in die keineswegs nur nach dem Muster der "Kleingartnpatzelle Deh Deh eR" geformten modernen Zivilisationen zu verfolgen, zeigt eine dieser Episoden, ein längerer Prosatext mit dem Titel "Heart of Clay". Er schildert - wie in der Parabel eines eisigen Albtraums - die Dienstfahrt eines Beamten in eine fremde Stadt, in deren Schritt für Schritt unheimlicherer Atmosphäre er schließlich durch die Begegnung mit einer Frau, die ihn einst verlassen hatte, dazu verführt wird, ein Massaker anzurichten. Mit einer Maschinenpistole bewaffnet, kämmt er systematisch die Stockwerke einer sogenannten "ZENTRALE" durch und erschießt alle Chefs, deren Ermordung aber hingenommen wird, als gehöre deren Auswechselbarkeit von vornherein zum System dieser "ZENTRALE".
DRAUSSEN 1 blauer Tag, in den Lüften Bittermandel + Abgas, Getümmel der Töne, Ab-Flüsse strömen. Die Stadt rauscht ihre Katarakte herab. Häuser, jene düstren Schilde der Nacht, Gemäuer aus bröckligem Ziegel jetzt, Windböen fahrn durch leere Fenster - diese Stadt bleibt menschen-Los, welliges Rinnsel, Wände blatternarbig, schimmeliggelb, Hausecken urinverätzt. Manche Fenster hinter Rollos, faltigen Lidern aus Holz, verborgen. Auf den Gehsteigen die Alibis zuletzt gehabter Nacht - Zigarettenkippen Frommshäute verschorfte Watten Schnapsflaschen leer + zerschellt, + Kotzefladen vor Laternenpfählen - ich gehe durch den Trödel fremder Lust. Vielleicht unterbrechen jetzt die Radiostationen ihre frühmorgendlichen Musiksendungen, die UNGEHEUERLICHKEIT zu verkünden denen, die UNGEHEUERLICHKEITEN stets so rasch vergessen: MORD IN DER ZENTRALE! :In allen Etagen habe ich Büttel diskret routiniert perfekt die Leichen der Chefs forträumen sehn. Später, erst jetzt + schon auf dem Weg zurück zu der Frau, fiel mir ein, dass ich versäumt hatte nachzuschaun, wer die toten Chefs ersetzen mag: 1 Mann? 1 Frau? : die Zentrale wird von dieser Entscheidung nicht betroffen sein. Ich werde zurückgehen zu dieser Frau + ihr sagen, dass nichts sich verändert hat.
Nicht nur in diesem Text eines Serienmörders, der nach dem ersten Mord die späteren aufgehört hat zu zählen, befindet sich Jirgls "Genealogie des Tötens" inmitten jener Phänomene, auf die nach Ereignissen wie am 11. September oder dem Massaker von Erfurt stets nachträglich mit sogenannten Gewalt-Debatten hilflos reagiert wird. Die Frage ist, warum gerade eine Literatur wie die Jirgls, der oft ihre morbide Realitätsverzerrung vorgeworfen wird, tatsächlich aber sehr präzise solche in den Gesellschaften schlummernden Gewaltpotentiale erfaßt.
Macht + Tod sind ohne Sprache
schreibt Jirgl einmal, und diese "Genealogie des Tötens" muß als Versuch verstanden werden, für diese sonst so unheimlich sprachlosen Phänomene eine Sprache zu finden. In diesem Kontext sind auch die beiden anderen Teile der Trilogie erstaunlich aktuell geblieben, die nicht so sehr von plötzlich hervorbrechenden Gewaltakten, sondern von tödlichen Gewaltstrukturen der Gesellschaft selbst handeln. Dabei weisen die Prosasprache und Erzähltechniken von "MER - Insel der Ordnung" und "Kaffer. Nachrichten aus dem zerstörten Leben" schon sehr stark auf Jirgls 90er-Jahre-Romane voraus.
"Kaffer", das Schlussstück der Trilogie, lässt in der heruntergekommenen Parterrewohnung eines Berliner Hinterhofs einen alten Mann, der mit dem kauzigen Sarkasmus einer Beckett-Figur dem eigenen Ende entgegentreibt, durch die Erinnerungsfluchten seines Lebens trudeln. Offenbar ist er schon lange zu einem Fall für das staatliche Medizin- und Psychatrie-System geworden. In der Küche dieser Wohnung hat sich jedenfalls "ein Bewacher" einquartiert, ein Psychiater, der sich allerdings so tief in diesen Fall verbissen hat, dass er längst selbst in den Untergangssog des Alten geraten ist und von ihm kaum mehr zu unterscheiden wäre, wenn er nicht über die Beamten-Insignien staatlicher Macht verfügte:
Solange noch 1 Stempel auf diesem Schreibtisch liegt, bin ich ihm überlegen und niemand wird merken dass 1 Kranker 1 Kranken 1 Krankheit zuweist, ist jedes meiner Worte Urteil auch & Ende.
Der Psychiater weiß, dass sein Urteil den Alten in eine Anstalt bringen wird, wenn er ihm ein "Bekenntnis zur Asozialität & insbesondere zur Gewalt" entlocken kann; folglich wäre dieses Urteil ein "Todesurteil", und zwar in dem modernen und unblutigen Sinne, dass der Alte dann verurteilt wäre, in der Klinik zu sterben. In den grotesken Szenerien zwischen dem Alten und dem Psychiater ist folglich ein System der Bespitzelung vorgeführt, von dessen Erfolg auch die Zukunft dieses Psychiaters abhängt. Denn nur wenn es ihm gelingt, den Alten in einer Anstalt mundtot zu machen, würden auch die Spuren seiner jahrelangen Praxis verwischt, sein Opfer auch auf eine bizarre Weise sexuell ausgebeutet zu haben.
Das makabre Duell zwischen den Sprachschüben des verstörten Alten und den Bespitzelungstechniken seines Bewachers erreicht manchmal die Komik eines Beckett-Stücks; aber ähnlich wie bei Beckett erzeugt sie vor allem Höllengelächter, denn dieser Text verfolgt immerhin, wie sich der Impuls des Tötens ohne weiteres der Machtstrukturen eines offiziell von humanistischer Moral gespeisten Systems der Medizin bedienen kann. Noch ein Stück weiter getrieben ist diese Höllenfahrt ins "Kraftfeld für Vernichtung", das Gesellschaft heißt, in dem umfangreichsten - und erzählerisch überzeugendsten - Mitteltext dieser Trilogie. In "MER - Insel der Ordnung" ist auf der Ostsee-Insel Hiddensee auf geradezu klassische Weise der Mikrokosmos einer Gesellschaft installiert. Drei Männer verschiedenen Alters, deren Ehen gescheitert sind, werfen schon auf ihrer Urlaubsreise zur Insel allesamt ein Auge auf eine im Zug mitreisende junge Frau.
Während sie nach der Ankunft weiter um die Gunst der jungen Frau konkurrieren und dabei die Charakterzüge und Viten der drei Männer zum Vorschein kommen, die jeweils in Ich-Form von den Ereignissen erzählen, verwandelt sich die Urlaubsinsel, nachdem auf dem Festland ein Atomkrieg ausgebrochen scheint, binnen kurzer Zeit in einen Polizeistaat. Vom Festland abgeschnitten und auf die mangelhaften Ressourcen zum Überleben zurückgeworfen, schwelen unter der Polizeistaats-Ordnung allerdings diverse Konflikte zwischen der einheimischen Bevölkerung, den Urlaubern und der Ordnungsmacht weiter.
Zwar wird einerseits notdürftig ein Lazarett eingerichtet, um die sich nach den nuklearen Explosionen plötzlich häufenden Erkrankungen jedenfalls solange zu behandeln, wie es medizinische Vorräte gibt, und auch eine Arbeitsvermittlung für die plötzlich festsitzenden Urlauber entsteht, denen als Lohn eine bessere Lebensmittelversorgung versprochen wird. Doch andererseits bilden sich auch Schwarzmärkte mit mafiösen Strukturen gewalttätiger Gruppen und finden Brandstiftungen statt, obwohl die Polizei jeden Aufruhr der von Informationen abgeschnittenen Bevölkerung zu unterdrücken sucht. Wie eine Satire auf die Bedeutung des Theaters im einstmals "real existierenden Sozialismus" ist es, dass einer der drei Männer, ein Physiker, schließlich ein Theaterstück schreibt, das die Bevölkerung selbst aufführt. Dieses Stück soll den Eingesperrten auf der Insel eigentlich die Möglichkeit einer Flucht weisen. Doch das einzige Ergebnis der Aufführung ist nur die Entdeckung, dass bei der Lebensmittelversorgung auf der Insel längst die Grenze zum Kannibalismus überschritten ist.
In dieser erzählerischen Versuchsanordnung hat Jirgl allerlei charakteristische Elemente der DDR benutzt, um das Modell einer Gesellschaft zu entwerfen, die im Moment einer der modernen Groß-Katastrophen, wie sie in den 80er Jahren ja etwa mit der Kernschmelze des Tschernobyl-Reaktors eingetreten war, ihre innerste Struktur zeigt. Die Faustregel für das Leben in solchen modernen Gesellschaften lautet bei Jirgl:
In kleinen Schritten haben wir uns unseren Glücken angenähert = in großen Schritten sind wir auf unsere Katastrofen zugeeilt.
Eine Flucht ist aus solchen Gesellschaften nicht mehr möglich, deren Fortexistenz darauf beruht, die Menschen selbst, also die eigene Substanz, buchstäblich aufzuzehren. Mit dieser Anti-Utopie, dass sich Tod und Töten auf je eigene Weise mitten in modernen Gesellschaften weiter vollziehen, rückt Jirgl den Selbsttäuschungen des zivilisatorischen Fortschritts vehement zuleibe. Wenn diese zu schön sind, um wahr zu sein, sind ihre literarischen Demontagen zu wahr, um schön zu sein. Die einzige Verheißung, die Jirgls Realismus übrig lässt, ist ein kleiner Konjunktiv am Realitätsmaximum.
Aus der Verzweiflung (...) könnte das Um-Lernen folgen.