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Generäle vor Gericht

Die "Operation Fahne" beginnt im Morgengrauen des 12. September 1980. Um vier Uhr verlassen die Panzer der türkischen Armee im ganzen Land ihre Garnisonen, besetzen Straßenkreuzungen und fahren vor Regierungsgebäuden und Politikerwohnungen vor. Der Militärputsch beendet abrupt eine Periode der politischen Lähmung und Gewalt in der Türkei. Auf den Straßen Ankaras und Istanbuls herrschten Ende der 70er-Jahre bürgerkriegsähnliche Zustände. Linke und faschistische Gruppen waren in blutige Auseinandersetzungen verstrickt. Der Staat reagierte hilflos. Hinzu kam eine wachsende wirtschaftliche Misere: Die Inflation lag bei 100 Prozent, internationale Kredite für die Türkei waren wegen der Besetzung Nordzyperns blockiert. Die Generäle fühlten sich zum dritten Mal in der jungen Geschichte des Landes berufen, die Republik Mustafa Kemal Atatürks vor dem vermeintlichen Untergang zu bewahren. Heute fast 29 Jahre später könnten die Verantwortlichen von damals zur Rechenschaft gezogen werden:

Von Gunnar Köhne, Istanbul |
    Fast 29 Jahre ist es her, dass Oral Calislar die bellende Stimme Kenan Evrens im Radio vernahm. Leider habe die Demokratie versagt, ruft der Generalstabschef, darum müssten nun die Streitkräfte des Landes Glück und Wohlstand des türkischen Volkes garantieren. Das Militär hatte geputscht. Calislar, Chefredakteur einer kleinen linken Zeitung, wusste, was das auch für ihn persönlich bedeutete:

    "Vier Wochen später wurde ich verhaftet und saß anschließend vier Jahre im Zuchthaus. Danach war ich acht Jahre auf der Flucht, unter anderem zwei Jahre in Deutschland. Ich zähle mich darum zu den Opfern dieses Putsches."

    Alle Parteien und Gewerkschaften wurden mit sofortiger Wirkung verboten, das Parlament aufgelöst. An die Spitze eines "Nationalen Sicherheitsrates" wurde der General Kenan Evren berufen. Mit den Vollmachten des Ausnahmezustandes ausgestattet, gingen die Militärs in den folgenden Monaten erbarmungslos gegen Intellektuelle und Linke vor. Mehr als 180.000 Menschen wurden inhaftiert, die meisten von ihnen auch gefoltert. 171 Menschen starben offiziell an den Folgen der Misshandlungen. Zehntausende mussten ins Ausland fliehen.

    Evren ließ 1982 über eine Verfassung abstimmen, in der die lebenslange Immunität der Putschisten garantiert wurde. Nun soll dieser Paragraf wieder gestrichen werden - so will es jedenfalls die oppositionelle Republikanische Volkspartei. Oral Calislar, heute wieder Journalist in Istanbul, hält diesen Schritt für längst überfällig:

    "Dieses Kapitel muss aufgearbeitet werden. Denn solange die damals Verantwortlichen als geachtete Mitglieder dieser Gesellschaft gelten dürfen, so lange wird es weiterhin Offiziere geben, die Staatsstreiche für legitim halten. Um Militärputsche in diesem Land ein für alle Mal aus zuschließen, muss der 12. September aufgearbeitet werden."

    Tagebuchaufzeichnungen eines früheren Marinebefehlshabers belegen, dass das Land zuletzt 2004 kurz vor einem Putsch stand. Doch die nahezu uneingeschränkte Macht der Armee beginnt zu schwinden, wie die derzeitigen Gerichtsverfahren gegen eine Gruppe nationalistischer Verschwörer zeigt. Unter den Angeklagten der so genannten "Ergenekon-Gruppe" befinden sich sogar Ex-Generäle. Vergangene Woche verabschiedete das Parlament in Ankara ein Gesetz, dass künftig die uneingeschränkte Strafverfolgung von Soldaten im Dienst vor zivilen Gerichten ermöglicht. Ein Tabubruch - denn Uniformträger mussten sich in der Türkei bislang nur vor Militärgerichten verantworten.

    Auf den Vorstoß der Opposition, die Putschisten von 1980 anzuklagen, reagierte Regierungschef Erdogan zurückhaltend - offensichtlich bemüht, das angespannte Verhältnis zur heutigen Militärspitze nicht weiter zu belasten. Dass die greisen Generäle tatsächlich noch vor Gericht kommen werden, glaubt auch Oral Calislar nicht. Viel wichtiger sei ein anderer Aspekt:

    "Heute noch gilt die von den Putschisten entworfene Verfassung von 1982 - mit ihren undemokratischen Bestimmungen und Organen: den Militärgerichten, dem eingeschränkten Parteiengesetz, den allmächtigen Kontrollgremien für Hochschulen und Medien und so weiter. Die Aufarbeitung des September-Putsches reicht also viel tiefer als nur bis zu den damaligen Akteuren."

    Putschgeneral Kenan Evren lebt heute 91-jährig zurückgezogen in einer schwer bewachten Villa an der türkischen Riviera und widmet sich ganz der Malerei. Die Ausstellungen seiner Stillleben und dezenten Akte stoßen regelmäßig auf großes Interesse. Er ließ ausrichten, dass über die Aufhebung seiner Immunität das Volk in einem Referendum entscheiden solle. Stimme die Mehrheit dafür, werde er Selbstmord begehen.