Sandra Pfister: Viele sind genauso talentiert wie vorherige Studienanfänger, aber ihre Leistungen sind erst mal dünner, die meisten können etwas weniger. So sieht es an der Hochschule München aus bei den Schulabgängern, die sich für Mathe und Ingenieurwissenschaften entschieden haben. Nur ein Ausschnitt, aber Ähnliches berichten ja viele Hochschullehrer.
Wie sieht es jetzt in den Geisteswissenschaften aus? Offenbar auch nicht besser. Die Texte, die die Studierenden abgeben, sind oft nicht durchdacht, eine schlechte Grammatik, Probleme, in lange Texte einzusteigen, auch darüber hören wir Klagen seit Jahren. Und fast möchte man sagen: Ja, früher war alles besser, hört jetzt auf damit, das Lamento, dass es mit der Jugend von heute den Bach runtergeht, das ist nun wirklich schon uralt!
Aber vielleicht hat sich ja auch wirklich Tiefgreifendes verändert! Darüber reden wir jetzt mit Professor Gerhard Wolf, unter anderem Mittelalterphilologe an der Universität Bayreuth, er beobachtet das schon lange. Guten Tag, Herr Wolf!
Gerhard Wolf: Guten Tag!
"Vonseiten des Staates wurde einiges unternommen"
Pfister: Herr Wolf, Sie haben ja schon vor vier Jahren gesagt: Moment, vielleicht ist das nur mein Eindruck und andere haben ja viel bessere Studierende! Und damals haben Sie so eine Art Umfrage unter Kollegen gemacht, 70 haben geantwortet und dadurch haben Sie sich bestätigt gefühlt, dass Studierende in Ihren, in den geisteswissenschaftlichen Fächern, einfach weniger fit waren, damals zumindest, als früher. Jetzt sind vier Jahre vergangen. Ist es denn besser geworden oder schlimmer?
Wolf: Vonseiten des Staates wurde ja einiges unternommen. Der Bund hat erhebliche Gelder für die Universitäten bereitgestellt, um solche Brückenkurse, wie es sie ja in den Naturwissenschaften schon seit geraumer Zeit gibt, auch in den Geisteswissenschaften anzubieten. Und hier stelle ich eine Verbesserung fest. Also, wir bieten ja selber solche Brückenkurse auch an, das andere Fahrwasser als die Naturwissenschaften, und wir haben jetzt in diesem Semester festgestellt, dass das erste Mal keine Studenten in diesen Brückenkursen durchgefallen sind. Und das ist schon ein gewisser Fortschritt.
Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Es hat sich nicht … Das liegt nicht daran, dass die Studenten jetzt besser ausgebildet von der Schule an die Universität kämen, sondern dass unsere Maßnahmen gegriffen haben. Also, das Niveau der Schulabgänger ist gegenüber dem Zeitraum, den Sie angesprochen haben, also vor vier, fünf Jahren, nicht besser geworden, das kann man eindeutig sagen.
"Der Run an die Hochschulen ist ungebremst"
Pfister: Wenn Sie so konstatieren, das Niveau sinkt, worauf führen Sie es zurück? Nur auf die kürzere Gymnasialzeit oder dass eben jetzt mehr junge Menschen überhaupt Abitur machen und dann naturgemäß auch welche darunter sind, die das nicht so brillant machen wie zu den Zeiten, wo es noch ein sehr kleiner Ausschnitt der Gesellschaft war?
Wolf: Ja, beides trifft zu. Das Letztere hängt natürlich auch damit zusammen, dass der Run an die Hochschulen ja ungebremst ist, und da sind notwendigerweise auch viele dabei, die für die Universitäten und Hochschulen nicht geeignet sind. Dieses Phänomen hat sich noch nicht wesentlich geändert. Die andere Frage mit G8 und G9 ist auch nicht so leicht zu beantworten, weil, ich sage mal, so 25 Prozent der Abiturienten, die brauchen wirklich kein G9, die sind mit G8 gut bedient, aber den anderen fehlt einfach die Übung, das ist das Entscheidende.
Die haben nicht mehr die Zeit, Texte in Ruhe zu lesen, die haben auch nicht mehr die Zeit, selber Texte zu schreiben, so wie das früher der Fall war, das wird jetzt alles in acht Jahren abgehandelt, und da ist es fast notwendigerweise, dass bei diesen weniger begabten Studenten, sage ich mal vorsichtig, die Kompetenzen, die Schreib- und Lesekompetenzen einfach nicht so weit sind, wie wenn sie neun Jahre auf der Schule gewesen wären.
"Wir sind ja keine Fortsetzung des Gymnasiums"
Pfister: Andererseits haben sich natürlich auch die Zeiten verändert, Digitalisierung, es wird anders gelesen, es wird vielleicht auch nicht mehr so breit gelesen. Das trifft doch eigentlich alle. Also, muss man die da nicht ein bisschen in Schutz nehmen, weil sich die Zeiten einfach ändern?
Wolf: Wir haben – da gebe ich Ihnen recht – das Problem, dass insgesamt das Wissen gering geschätzt wird durch die Digitalisierung, weil jeder meint, es sei ja zu jedem beliebigen Zeitpunkt aus dem Netz abrufbar. Das ist aber im unmittelbaren Diskurs im Seminar gar nicht möglich und schon gar nicht in der Klausur. Deswegen gibt es dann auch relativ oder gab es jetzt in letzter Zeit relativ hohe Durchfallquoten auch bei unseren Anfangssemestern. Und das muss man sich irgendwann mal realisieren, dass sich die Zeiten dann doch nicht so stark verändert haben.
Pfister: Sie haben ja auch gesagt, viele sind einfach nicht geeignet von denen, die jetzt kommen. Einspruch: Hängen da nicht die Professoren zu sehr an ihrem Bild vom belesenen Bildungsbürgerspross, der schon von sich aus irgendwie den rechten Weg finden will? Müssen Sie nicht Ihre Lehre verändern?
Wolf: Ja, das können wir tun, aber dann würde die Universität ihr Selbstverständnis aufgeben. Weil, wir sind ja keine Fortsetzung des Gymnasiums, eine Art von Highschool vielleicht oder von College, sondern wir sollen ja aus unserer Forschung heraus lehren. Und die Kolleginnen und Kollegen sind nicht bereit, also in den Geisteswissenschaften, jedenfalls die meisten nicht, hier wesentliche Abstriche zu machen. Da muss sich die Gesellschaft entscheiden, was sie will, ob sie sozusagen Gymnasium Plus möchte oder an der bisherigen Idee der Einheit von Forschung und Lehre festhält.
"Wir können keine individuelle Betreuung leisten"
Pfister: Nun gibt es ja andere Länder, die diese Einheit ganz anders umsetzen, England, die Vereinigten Staaten, die haben dieses Problem schon länger, dass …
Wolf: Ja.
Pfister: … Schulabgänger an die Hochschulen kommen, die nicht fit sind und die erst noch mal eine Runde laufen müssen. Können Sie sich da nicht etwas abgucken?
Wolf: Das kann man natürlich – und das wäre eine Überlegung – auch in Deutschland übernehmen. Aber ich sehe dazu im Moment nirgendwo den politischen Willen dazu.
Pfister: Sie haben es ja gerade beschrieben, Professoren, Lehrende sind nicht bereit, Abstriche im Niveau zu machen, weil die Einheit von Forschung und Lehre erhalten werden soll. Müssen Sie sich dann nicht zumindest neue Lehrmethoden ausdenken, um an die Leute ranzukommen?
Wolf: Also, das wird schon gemacht. Der alte Frontalunterricht findet ja heute nur noch in der Vorlesung statt. Was Sie aber nicht leisten können, ist sozusagen diese individuelle Betreuung, die sich also manche, die das vielleicht an der Schule schon erlebt haben, wünschen würden. Das kann die Universität nicht tun. Sie versucht das mit Tutoren, Programme zu substituieren. Aber irgendwann sind dann einfach auch intellektuelle Grenzen erreicht, da können Sie also nicht mehr durch Hilfs- und Brückenkurse dann noch was erreichen.
Pfister: Das heißt, Sie spielen den Ball von den Hochschulen wieder ein bisschen zurück. Wohin, an die Schulen oder an die Politik, die eine falsche Marschrichtung wählt, indem sie große Teile eines Jahrgangs Abitur machen lässt?
Wolf: Ja, an beiden, ne? Also, es muss eine gesellschaftliche Verständigung darüber erzielt werden, was eigentlich Universität im 21. Jahrhundert leisten soll. Soll sie die Defizite vom Gymnasium beheben oder eben weiterhin dafür sorgen, dass Deutschland als Forschungsstandort stark bleibt? Und beides können wir nicht leisten, das ist nach wie vor die Aufgabe des Gymnasiums.
Pfister: Professor Gerhard Wolf, Professor für Ältere Deutsche Philologie an der Universität Bayreuth, ganz herzlichen Dank, Professor Wolf!
Wolf: Bitte!
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