"Die Jugendlichen in diesem Land werden in ständiger Angst erzogen: bleib schön in Deckung und misch dich bloß nicht ein. In der Schule gibt es keine Möglichkeit, seine Meinung zu äußern. Kreativität oder eigenes Denken sind nicht vorgesehen. Bildung in Ägypten heißt: auswendig lernen und wiedergeben. Fertig. Erst an der Universität habe ich langsam angefangen zu denken."
Von 80 Millionen Ägyptern ist ein Viertel zwischen 18 und 29 Jahre alt. Seit sie denken kann, kennt diese Generation nur einen Präsidenten: Muhammad Hosni Mubarak. Er regiert das Land seit bald 30 Jahren und macht auch im Alter von 82 noch keine Anstalten, aufzuhören.
Dabei ist er weiß Gott nicht zu beneiden: Die Bevölkerung wächst bedrohlich, um mehr als eine Million jedes Jahr. Gut 40 Prozent von ihnen leben inzwischen von zwei Dollar am Tag oder noch weniger. Gleichzeitig wächst die Wirtschaft – und mit ihr der Abstand zwischen Arm und Reich. Junge Männer können nicht heiraten, weil ihnen das Geld für eine Wohnung fehlt. Sie entfliehen der Enge der elterlichen Wohnung und treiben sich auf den Straßen herum, ständig kontrolliert von einem Polizeiapparat, der willkürlich verhaftet und zuschlägt.
Und doch haben sich die meisten Jugendlichen mit diesem Zustand abgefunden. Schließlich kennen sie Regierungswechsel höchstens aus dem Geschichtsbuch. Sie versuchen ihr Leben zu organisieren, während andere die Entscheidungen treffen. Nur eine kleine Gruppe meist gut ausgebildeter Jugendlicher nimmt es nicht mehr hin, dass sie so wenig zu sagen haben. Sie wehren sich gegen das Regime der Großväter.
"Die Generation Mubarak hat beschlossen, zu rebellieren, sie hat genug vom Stillstand. Wir haben die Demokratie nicht durch Mubarak kennengelernt, sondern durch die Globalisierung. Ich glaube, diese Jugend wird in den kommenden zehn Jahren eine große Rolle im politischen Leben spielen."
Die Soleiman Halaby Straße liegt mitten in der Kairoer Innenstadt. Nicht weit vom Bahnhof, in einem Viertel, dessen stuckverzierte Häuser einmal das Flair von Paris oder Berlin verbreitet haben. Damals, als Ägypten ein Ableger des osmanischen Reiches war, mit Herrschern, die Architekten aus Paris einluden, um die Parks ihrer neu gestalteten Stadt anzulegen. Seither sind weit über hundert Jahre vergangen: Die Revolution der Freien Offiziere hat die konstitutionelle Monarchie des letzten ägyptischen Königs in die Knie gezwungen, und ist 60 Jahre später selbst zur grau verblassten Erinnerung geworden.
Heute würden aufbegehrende Massen vermutlich ganz banal im Verkehr stecken bleiben: In der Soleiman Halaby Straße jedenfalls parken die Autos in zwei Reihen zu beiden Seiten der schlaglöchrigen Fahrbahn. Lieferwagen quetschen sich durch, die Waren an unzählige Ersatzteilhändler liefern, die hier seit Generationen ihre Läden haben. Ein in die Jahre gekommener Verkehrspolizist hat sein Teeglas auf der Motorhaube eines Autos abgestellt und beißt in ein Sandwich. Als er den Mund wieder leer hat, weist er müde daraufhin, dass man hier in zweiter Reihe nicht parken darf, kassiert eine Banknote und frühstückt weiter. Schräg gegenüber, im dritten Stock eines ziemlich heruntergekommenen Hauses, hat das Nadim Zentrum für Opfer von Folter und Gewalt eine kleine Wohnung gemietet. Durch die einfachen Fensterscheiben dröhnt der Verkehr der Straße. Doch das kahl wirkende Büro von Dr. Mustafa Hussein ist eine Zuflucht für Menschen, denen Gewalt und Unrecht wiederfahren ist.
Mustafa hat an der Ain Schams Universität in Kairo Medizin studiert und macht derzeit seinen Magister in Psychologie. Mustafas Eltern sind beide Akademiker, er hat eine gute Schule besucht und ist finanziell abgesichert. Doch er kann sich genau an den Moment erinnern, in dem er merkte, dass in seinem Land etwas falsch läuft:
"Es war im Universitätskrankenhaus der Ain Schams. Ich habe dort Menschen gesehen, die eine Behandlung brauchten, aber kein Geld hatten. In diesem Moment habe ich verstanden, wie viele hier benachteiligt werden, weil es keine Gerechtigkeit gibt. Ich werde nie vergessen, wie in der chirurgischen Abteilung die gerade operierten Frauen zu zweit in einem Bett lagen, weil sonst der Platz nicht reichte."
Seit drei Jahren arbeitet Mustafa neben seinem Studium im Nadim Zentrum. Einer unabhängigen Einrichtung, die formal als "Firma ohne Gewinne" angemeldet ist und von den Vereinten Nationen und verschiedenen Stiftungen finanziert wird. Er hört täglich Menschen zu, die in Polizeiwachen oder im Gefängnis geprügelt und gedemütigt wurden. Welches Bild hat er von der Regierung seines Landes?
"Das Bild ist schwarz, es ist eigentlich gar kein Bild mehr da. Die Regierung, und insbesondere das Innenministerium, betrachten uns nicht als Menschen. Und je weiter unten einer steht, je ärmer er ist, je schlechter gebildet; je einfacher er wohnt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihm Unrecht widerfährt. Es sei denn, er arbeitet selbst für die Polizei."
Die Polizei: Das ist nicht nur der gutmütige und zutiefst korrupte Verkehrspolizist, das ist auch ein riesiger Sicherheitsapparat aus mehreren Geheimdiensten. Seit der Ermordung von Präsident Sadat 1981 herrscht im Land der Ausnahmezustand, der den Staatsschützern weitestgehende Freiheiten garantiert. Wenn Mustafa seinen Patienten den Rat gibt, sich ihr Recht zu erstreiten, weiß er gleichzeitig, dass dieser Versuch in vielen Fällen scheitert:
"Der Staat kann sich in jeden juristischen Prozess einmischen, und zwar mit den primitivsten Methoden: Beamte können den Kläger am Telefon bedrohen, sie können seine Frau und seine Kinder entführen, um ihn zu zwingen, die Klage zurück zu ziehen. Vor ein paar Jahren gab es den Fall einer schwangeren Frau in der oberägyptischen Stadt el-Minia: Die Polizei ist in ihr Haus eingedrungen und hat sie geschlagen. Sie ist auf der Treppe gestürzt und verblutet. Und was wollten die Polizisten? Sie hatten ihren Mann schon festgenommen, und wollten nun, dass sie gesteht, wo sich ihr Schwager versteckt – denn er war der eigentlich Gesuchte."
Träge und verloren nennt die Band Basata in ihrem Titel "Antuch" das ägyptische Volk: Der Sänger und Gitarrist Ihab Abdel Wahid geht hart mit seinen Altersgenossen ins Gericht:
"Die Mehrheit der Generation Mubarak hat aufgegeben: Die meisten sagen, solange ich zu Essen habe, ist alles in Ordnung. Sag einem träum, und er antwortet, wovon? Sag ihm, produzier was, und er fragt: für wen? Sag ihm: Sei erfolgreich und er sagt: Ich bin satt, das reicht. Aber wenn du ihm sagst: Du hast nichts mehr zu essen, was willst du machen? Dann antwortet er: Ich werde mich gedulden."
Mustafa Hussein war im Mai 2005 mit seiner Geduld am Ende: Einer seiner Freunde wurde bei einer Demonstration von Sicherheitskräften verletzt. Mustafa besuchte ihn am Krankenbett und stand eine Woche später selbst auf der Straße. Es waren Monate des Protestes, wie sie die Ära Mubarak nie gesehen hatte.
"Ich gebe zu, dass ich auch überrascht war, dass es 2005 möglich war, das Regime und ganz explizit Mubarak selbst, den Präsidenten, zu kritisieren. Das gab es vorher nicht. Das war eine klare Grenzüberschreitung, die das autoritäre Regime auch repressiv verfolgt hat, sobald das geschehen ist von einzelnen Teilen der Opposition."
Dr. Holger Albrecht lehrt und forscht am politologischen Institut der Amerikanischen Universität in Kairo. Das Jahr 2005 ist für Albrecht ein Wendepunkt: Die Regierung hatte beschlossen, die Verfassung zu ändern und bei den Präsidentschaftswahlen erstmals Gegenkandidaten zuzulassen. Der Druck von außen war groß, insbesondere die USA forderten mehr Demokratie am Nil. Ein Demonstrationsverbot wäre in diesem Zusammenhang unglaubwürdig gewesen, meint Holger Albrecht. Zeitgleich bildete sich die Bewegung Kifaya, zu Deutsch: "genug", und forderte erstmals lauthals ein Ende der Herrschaft von Präsident Mubarak.
Der 6. April 2008 ist ein weiterer Wendepunkt für den zivilen Widerstand in Ägypten. Den geduldig leidenden Arbeitern im ganzen Land platzte endgültig der Kragen: Sie gingen in einen Streik für mehr Lohn. Ein Zentrum war die Stadt Mahalla al-Kubra im Nildelta, wo schon in den Jahren davor Tausende Textilarbeiter für ihre Rechte auf die Straße gegangen waren. Aber diesmal hatte die Polizei sich vorbereitet: Sie besetzte die Textilfabrik um den Streik zu verhindern, einen Aufmarsch von 2000 Standhaften zerschoss sie mit Tränengas. In Kairo solidarisierten sich Teile der Bevölkerung mit den Arbeitern, indem sie einfach zuhause blieben, oder in schwarzer Kleidung zur Arbeit gingen.
Ahmad Maher gründete 2005 die Jugendorganisation der Bewegung Kifaya, wurde festgenommen und saß zwei Monate im Gefängnis. Als Grund für seine Festnahme nannten die Sicherheitskräfte "Präsidentenbeleidigung" und "Anzetteln einer unerlaubten Versammlung". Verurteilt wurde Ahmad nie. Während der Haft kam ihm zuweilen der Gedanke, alles hinzuschmeißen.
"Ich habe durch die Haft meinen Job verloren. Ich war erschöpft, habe mich gefragt: Warum werde ich geschlagen und gefoltert, und niemand merkt eigentlich, was ich mache. Sie haben mich zwei Tage lang geschlagen. Am Anfang hatte ich große Angst. Doch dann habe ich verstanden, dass sie mich einschüchtern wollen. Plötzlich wurde mir klar, dass der Geheimdienstoffizier sehr viel Geld damit verdient, dass er mich am Demonstrieren hindert. Es ist sein Job, bestimmte Leute zu schützen, und meiner, genau diese Leute zu bekämpfen. Denn ich bin davon überzeugt, dass das Problem des Landes die Korruption ist, die nächste Diktatur hier heißt Korruption."
Es blieb nicht bei dieser einen Festnahme: Immer wieder wird Ahmad Maher abgeführt, bleibt einige Stunden oder ein paar Tage in Haft, und wird wieder freigelassen. Wie viele seiner Mitstreiter. Die Regierung bekämpft die Opposition, indem sie sie einschüchtert und gleichzeitig ihre Arbeit behindert.
Im Oktober verabschiedete das Informationsministerium ein Gesetz, dass das massenhafte Verschicken von SMS-Botschaften auf Mobiltelefone nur noch eingetragenen Parteien erlaubt. Damit wurde den Aktivisten der Generation Mubarak ein wichtiges Kommunikationsmedium genommen. Denn wer keine Partei gründet und keine Mitgliederlisten führt, ist darauf angewiesen, viele Menschen schnell und unbürokratisch erreichen zu können:
"Wir sind Jugendliche, wir haben keine Parteien, kein Büro, sondern Facebook ist unser Standort. Wenn wir eine Versammlung einberufen wollen, haben wir keinen Ort dafür. Also treffen wir uns bei Facebook in einer Yahoo-Gruppe oder über Skype. Wenn jemand verhaftet worden ist, dann können wir diese Nachricht über Twitter ganz schnell überall in Ägypten und auf der ganzen Welt verbreiten."
Einer Erhebung zufolge gibt es in der arabischen Welt mehr Facebook-Nutzer als Zeitungsleser. Heikle Meldungen liest man zuerst in den unabhängigen Blogs und Tage später dann in der offiziellen Presse. Die aufmüpfigen Jugendlichen haben sich inzwischen in rund ein Dutzend, untereinander vernetzte Gruppen verzweigt, auch, um den Sicherheitsapparat zu verwirren. Ihre Facebook-Seiten zählen teilweise Hunderttausende Anhänger.
Trotzdem sind Leute wie Mustafa Hussein oder Ahmad Maher eine Ausnahme, denn die allermeisten ägyptischen Jugendlichen interessieren sich für alles, nur nicht für Politik. Der neueste Entwicklungsbericht für Ägypten, in Auftrag gegeben vom Planungsministerium und unterstützt vom Entwicklungsprogramm der UN, konzentriert sich allein auf Menschen zwischen 18 und 29 Jahren. Eine Statistik gibt an, dass sich die Männer hauptsächlich für Sexualität, Mobiltelefone und Fußball interessieren, für die jungen Frauen dagegen die persönliche Sicherheit höchste Priorität hat, gefolgt von Bildung und Heirat. Gesellschaftliche Mitbestimmung steht für beide Gruppen auf dem letzten Platz.
Es ist immer dieselbe Geschichte, singt die Band Basata. Die Massen wehren sich erst, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Aber die gut ausgebildete Generation Mubarak, die die Chance hat, im Ausland zu studieren, hat auch die Kraft, von Veränderung zu träumen. Sie wünscht sich ein Ende der Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich, hat genug von Chaos und Korruption und fordert einen Sicherheitsapparat, der sich nicht nur um das Wohlergehen der Regierung kümmert.
Die jungen Oppositionellen starren nicht auf ihren Teller, gelähmt von der Angst, dass er sich eines Tages nicht mehr füllen könnte, sondern blicken über den Rand dieses Tellers hinaus.
"”Wir werden durch alte Regierungsformen und veraltete Ideen regiert, die nicht mehr funktionieren. Wir brauchen ein neues Denken, nicht das, mit dem der Präsidentensohn Gamal Mubarak wirbt, sondern ein wirklich neues Denken. Wir sollten wirklich verstehen, was Demokratie bedeutet, was Liberalismus und was Kapitalismus. Nur mit den Jungen kann man diese Theorien wirklich umsetzen. Die Alten müssen das Regime verlassen, damit wir die ersten Schritte auf dem richtigen Weg gehen können.""
Doktor Shady al-Ghazali Harb ist 31, lehrt am Institut für Chirurgie der Universität Kairo und hat sich auf Lebertransplantationen spezialisiert. Er hat seinen Magister in Hannover gemacht. Dann ging er zur Promotion nach London und wurde dort in einer Kampagne aktiv, die den Einstieg von Muhammad al-Baradei in die ägyptische Politik unterstützte. Der ehemalige Chef der Internationalen Atomaufsichtsbehörde und Friedensnobelpreisträger ist im Frühjahr 2010 von jubelnden Anhängern am Flughafen Kairo empfangen worden. Viele, insbesondere die gut ausgebildete Jugend, setzen ihre Hoffnung auf ihn und seine nationale Koalition für Veränderung. Shady warb für Baradeis Ideen unter Exil-Ägyptern in London. Zurück in Ägypten unterstützte er die hiesige Kampagne, die übers Internet und bei Straßenaktionen über eine Million Unterschriften gesammelt hat.
Derzeit sieht alles danach aus, als würde Hosni Mubarak im September 2011 für eine sechste Amtszeit antreten. In diesem Teil der Welt werden Präsidenten üblicherweise aus dem Palast getragen, die wenigsten danken zu ihren Lebzeiten ab. Die Generation Mubarak will sich mit diesem scheinbar ehernen Gesetz jedoch nicht abfinden. "Wir sind keine Monarchie" skandieren sie beschwörend auf ihren vielen Demonstrationen und halten an ihrer Hoffnung auf Veränderung fest.
Noch allerdings überwiegt die Masse der Unpolitischen. Die wenigsten Ägypter gehen wählen, offiziell zehn bis 15 Prozent, in Wirklichkeit vermutlich noch weniger. Die einzige oppositionelle Kraft, die die Bevölkerung noch erreicht, ist die verbotene Partei der Moslembrüder, aber auch sie verliert an Einfluss. Und dieser Zustand der politischen Indifferenz nutzt dem, der ihn herbeigeführt hat: Hosni Mubarak. Sagt Holger Albrecht:
"Für das System heißt das, dass das System einen hohen Grad an – wir nennen das – diffuse support hat. Also diffuse Unterstützung innerhalb der Bevölkerung, von Menschen, die nicht zur Wahl gehen, weil sie wissen, sie haben nicht die Wahl und weil sie entpolitisiert sind. Weil sie nicht die Möglichkeit aber vielleicht auch nicht die Notwendigkeit sehen, politisch aktiv zu werden. So eine depolitisierte Gesellschaft ist gut für ein Regime, das über die Jahre hinweg einiges verloren hat an Gruppen, die sie aktiv unterstützen innerhalb der Bevölkerung. Also das Regime erodiert auch, durch die Leute, über die wir unter anderem hier sprechen."
Auch die Generation Mubarak geht nicht zur Wahl und engagiert sich in den seltensten Fällen in Parteien. Sie sind aktiv aber unabhängig, "freischaffende Oppositionelle" nennt sie Shady al-Ghazali Harb. Ihre vielen kleinen Gruppen tragen Variationen der Worte Demokratie, Freiheit und Wandel im Titel, und sind untereinander vernetzt. Was sie eint ist die Ablehnung des Systems. Eine politische Alternative allerdings, oder die Vision eines idealen Ägypten, können sie nicht formulieren. Noch nicht.
Mubarak – heißt wörtlich übersetzt: gesegnet. Und gesegnet ist sie, die Generation Mubarak: mit Bildung, Weltoffenheit, Fantasie und Mut. Ihre Sprechchöre klingen wie Gedichte oder Sprechgesang, ihre Webseiten bringen die Leser zum Lachen und wenn die Staatssicherheit ihnen den einen Kommunikationsweg abschneidet, bahnen sie sich einfach einen neuen. Vielleicht macht all dies die Regierung so nervös: Improvisierende Tänzer sind viel schwerer zu stoppen, als marschierende Soldaten.
Von 80 Millionen Ägyptern ist ein Viertel zwischen 18 und 29 Jahre alt. Seit sie denken kann, kennt diese Generation nur einen Präsidenten: Muhammad Hosni Mubarak. Er regiert das Land seit bald 30 Jahren und macht auch im Alter von 82 noch keine Anstalten, aufzuhören.
Dabei ist er weiß Gott nicht zu beneiden: Die Bevölkerung wächst bedrohlich, um mehr als eine Million jedes Jahr. Gut 40 Prozent von ihnen leben inzwischen von zwei Dollar am Tag oder noch weniger. Gleichzeitig wächst die Wirtschaft – und mit ihr der Abstand zwischen Arm und Reich. Junge Männer können nicht heiraten, weil ihnen das Geld für eine Wohnung fehlt. Sie entfliehen der Enge der elterlichen Wohnung und treiben sich auf den Straßen herum, ständig kontrolliert von einem Polizeiapparat, der willkürlich verhaftet und zuschlägt.
Und doch haben sich die meisten Jugendlichen mit diesem Zustand abgefunden. Schließlich kennen sie Regierungswechsel höchstens aus dem Geschichtsbuch. Sie versuchen ihr Leben zu organisieren, während andere die Entscheidungen treffen. Nur eine kleine Gruppe meist gut ausgebildeter Jugendlicher nimmt es nicht mehr hin, dass sie so wenig zu sagen haben. Sie wehren sich gegen das Regime der Großväter.
"Die Generation Mubarak hat beschlossen, zu rebellieren, sie hat genug vom Stillstand. Wir haben die Demokratie nicht durch Mubarak kennengelernt, sondern durch die Globalisierung. Ich glaube, diese Jugend wird in den kommenden zehn Jahren eine große Rolle im politischen Leben spielen."
Die Soleiman Halaby Straße liegt mitten in der Kairoer Innenstadt. Nicht weit vom Bahnhof, in einem Viertel, dessen stuckverzierte Häuser einmal das Flair von Paris oder Berlin verbreitet haben. Damals, als Ägypten ein Ableger des osmanischen Reiches war, mit Herrschern, die Architekten aus Paris einluden, um die Parks ihrer neu gestalteten Stadt anzulegen. Seither sind weit über hundert Jahre vergangen: Die Revolution der Freien Offiziere hat die konstitutionelle Monarchie des letzten ägyptischen Königs in die Knie gezwungen, und ist 60 Jahre später selbst zur grau verblassten Erinnerung geworden.
Heute würden aufbegehrende Massen vermutlich ganz banal im Verkehr stecken bleiben: In der Soleiman Halaby Straße jedenfalls parken die Autos in zwei Reihen zu beiden Seiten der schlaglöchrigen Fahrbahn. Lieferwagen quetschen sich durch, die Waren an unzählige Ersatzteilhändler liefern, die hier seit Generationen ihre Läden haben. Ein in die Jahre gekommener Verkehrspolizist hat sein Teeglas auf der Motorhaube eines Autos abgestellt und beißt in ein Sandwich. Als er den Mund wieder leer hat, weist er müde daraufhin, dass man hier in zweiter Reihe nicht parken darf, kassiert eine Banknote und frühstückt weiter. Schräg gegenüber, im dritten Stock eines ziemlich heruntergekommenen Hauses, hat das Nadim Zentrum für Opfer von Folter und Gewalt eine kleine Wohnung gemietet. Durch die einfachen Fensterscheiben dröhnt der Verkehr der Straße. Doch das kahl wirkende Büro von Dr. Mustafa Hussein ist eine Zuflucht für Menschen, denen Gewalt und Unrecht wiederfahren ist.
Mustafa hat an der Ain Schams Universität in Kairo Medizin studiert und macht derzeit seinen Magister in Psychologie. Mustafas Eltern sind beide Akademiker, er hat eine gute Schule besucht und ist finanziell abgesichert. Doch er kann sich genau an den Moment erinnern, in dem er merkte, dass in seinem Land etwas falsch läuft:
"Es war im Universitätskrankenhaus der Ain Schams. Ich habe dort Menschen gesehen, die eine Behandlung brauchten, aber kein Geld hatten. In diesem Moment habe ich verstanden, wie viele hier benachteiligt werden, weil es keine Gerechtigkeit gibt. Ich werde nie vergessen, wie in der chirurgischen Abteilung die gerade operierten Frauen zu zweit in einem Bett lagen, weil sonst der Platz nicht reichte."
Seit drei Jahren arbeitet Mustafa neben seinem Studium im Nadim Zentrum. Einer unabhängigen Einrichtung, die formal als "Firma ohne Gewinne" angemeldet ist und von den Vereinten Nationen und verschiedenen Stiftungen finanziert wird. Er hört täglich Menschen zu, die in Polizeiwachen oder im Gefängnis geprügelt und gedemütigt wurden. Welches Bild hat er von der Regierung seines Landes?
"Das Bild ist schwarz, es ist eigentlich gar kein Bild mehr da. Die Regierung, und insbesondere das Innenministerium, betrachten uns nicht als Menschen. Und je weiter unten einer steht, je ärmer er ist, je schlechter gebildet; je einfacher er wohnt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihm Unrecht widerfährt. Es sei denn, er arbeitet selbst für die Polizei."
Die Polizei: Das ist nicht nur der gutmütige und zutiefst korrupte Verkehrspolizist, das ist auch ein riesiger Sicherheitsapparat aus mehreren Geheimdiensten. Seit der Ermordung von Präsident Sadat 1981 herrscht im Land der Ausnahmezustand, der den Staatsschützern weitestgehende Freiheiten garantiert. Wenn Mustafa seinen Patienten den Rat gibt, sich ihr Recht zu erstreiten, weiß er gleichzeitig, dass dieser Versuch in vielen Fällen scheitert:
"Der Staat kann sich in jeden juristischen Prozess einmischen, und zwar mit den primitivsten Methoden: Beamte können den Kläger am Telefon bedrohen, sie können seine Frau und seine Kinder entführen, um ihn zu zwingen, die Klage zurück zu ziehen. Vor ein paar Jahren gab es den Fall einer schwangeren Frau in der oberägyptischen Stadt el-Minia: Die Polizei ist in ihr Haus eingedrungen und hat sie geschlagen. Sie ist auf der Treppe gestürzt und verblutet. Und was wollten die Polizisten? Sie hatten ihren Mann schon festgenommen, und wollten nun, dass sie gesteht, wo sich ihr Schwager versteckt – denn er war der eigentlich Gesuchte."
Träge und verloren nennt die Band Basata in ihrem Titel "Antuch" das ägyptische Volk: Der Sänger und Gitarrist Ihab Abdel Wahid geht hart mit seinen Altersgenossen ins Gericht:
"Die Mehrheit der Generation Mubarak hat aufgegeben: Die meisten sagen, solange ich zu Essen habe, ist alles in Ordnung. Sag einem träum, und er antwortet, wovon? Sag ihm, produzier was, und er fragt: für wen? Sag ihm: Sei erfolgreich und er sagt: Ich bin satt, das reicht. Aber wenn du ihm sagst: Du hast nichts mehr zu essen, was willst du machen? Dann antwortet er: Ich werde mich gedulden."
Mustafa Hussein war im Mai 2005 mit seiner Geduld am Ende: Einer seiner Freunde wurde bei einer Demonstration von Sicherheitskräften verletzt. Mustafa besuchte ihn am Krankenbett und stand eine Woche später selbst auf der Straße. Es waren Monate des Protestes, wie sie die Ära Mubarak nie gesehen hatte.
"Ich gebe zu, dass ich auch überrascht war, dass es 2005 möglich war, das Regime und ganz explizit Mubarak selbst, den Präsidenten, zu kritisieren. Das gab es vorher nicht. Das war eine klare Grenzüberschreitung, die das autoritäre Regime auch repressiv verfolgt hat, sobald das geschehen ist von einzelnen Teilen der Opposition."
Dr. Holger Albrecht lehrt und forscht am politologischen Institut der Amerikanischen Universität in Kairo. Das Jahr 2005 ist für Albrecht ein Wendepunkt: Die Regierung hatte beschlossen, die Verfassung zu ändern und bei den Präsidentschaftswahlen erstmals Gegenkandidaten zuzulassen. Der Druck von außen war groß, insbesondere die USA forderten mehr Demokratie am Nil. Ein Demonstrationsverbot wäre in diesem Zusammenhang unglaubwürdig gewesen, meint Holger Albrecht. Zeitgleich bildete sich die Bewegung Kifaya, zu Deutsch: "genug", und forderte erstmals lauthals ein Ende der Herrschaft von Präsident Mubarak.
Der 6. April 2008 ist ein weiterer Wendepunkt für den zivilen Widerstand in Ägypten. Den geduldig leidenden Arbeitern im ganzen Land platzte endgültig der Kragen: Sie gingen in einen Streik für mehr Lohn. Ein Zentrum war die Stadt Mahalla al-Kubra im Nildelta, wo schon in den Jahren davor Tausende Textilarbeiter für ihre Rechte auf die Straße gegangen waren. Aber diesmal hatte die Polizei sich vorbereitet: Sie besetzte die Textilfabrik um den Streik zu verhindern, einen Aufmarsch von 2000 Standhaften zerschoss sie mit Tränengas. In Kairo solidarisierten sich Teile der Bevölkerung mit den Arbeitern, indem sie einfach zuhause blieben, oder in schwarzer Kleidung zur Arbeit gingen.
Ahmad Maher gründete 2005 die Jugendorganisation der Bewegung Kifaya, wurde festgenommen und saß zwei Monate im Gefängnis. Als Grund für seine Festnahme nannten die Sicherheitskräfte "Präsidentenbeleidigung" und "Anzetteln einer unerlaubten Versammlung". Verurteilt wurde Ahmad nie. Während der Haft kam ihm zuweilen der Gedanke, alles hinzuschmeißen.
"Ich habe durch die Haft meinen Job verloren. Ich war erschöpft, habe mich gefragt: Warum werde ich geschlagen und gefoltert, und niemand merkt eigentlich, was ich mache. Sie haben mich zwei Tage lang geschlagen. Am Anfang hatte ich große Angst. Doch dann habe ich verstanden, dass sie mich einschüchtern wollen. Plötzlich wurde mir klar, dass der Geheimdienstoffizier sehr viel Geld damit verdient, dass er mich am Demonstrieren hindert. Es ist sein Job, bestimmte Leute zu schützen, und meiner, genau diese Leute zu bekämpfen. Denn ich bin davon überzeugt, dass das Problem des Landes die Korruption ist, die nächste Diktatur hier heißt Korruption."
Es blieb nicht bei dieser einen Festnahme: Immer wieder wird Ahmad Maher abgeführt, bleibt einige Stunden oder ein paar Tage in Haft, und wird wieder freigelassen. Wie viele seiner Mitstreiter. Die Regierung bekämpft die Opposition, indem sie sie einschüchtert und gleichzeitig ihre Arbeit behindert.
Im Oktober verabschiedete das Informationsministerium ein Gesetz, dass das massenhafte Verschicken von SMS-Botschaften auf Mobiltelefone nur noch eingetragenen Parteien erlaubt. Damit wurde den Aktivisten der Generation Mubarak ein wichtiges Kommunikationsmedium genommen. Denn wer keine Partei gründet und keine Mitgliederlisten führt, ist darauf angewiesen, viele Menschen schnell und unbürokratisch erreichen zu können:
"Wir sind Jugendliche, wir haben keine Parteien, kein Büro, sondern Facebook ist unser Standort. Wenn wir eine Versammlung einberufen wollen, haben wir keinen Ort dafür. Also treffen wir uns bei Facebook in einer Yahoo-Gruppe oder über Skype. Wenn jemand verhaftet worden ist, dann können wir diese Nachricht über Twitter ganz schnell überall in Ägypten und auf der ganzen Welt verbreiten."
Einer Erhebung zufolge gibt es in der arabischen Welt mehr Facebook-Nutzer als Zeitungsleser. Heikle Meldungen liest man zuerst in den unabhängigen Blogs und Tage später dann in der offiziellen Presse. Die aufmüpfigen Jugendlichen haben sich inzwischen in rund ein Dutzend, untereinander vernetzte Gruppen verzweigt, auch, um den Sicherheitsapparat zu verwirren. Ihre Facebook-Seiten zählen teilweise Hunderttausende Anhänger.
Trotzdem sind Leute wie Mustafa Hussein oder Ahmad Maher eine Ausnahme, denn die allermeisten ägyptischen Jugendlichen interessieren sich für alles, nur nicht für Politik. Der neueste Entwicklungsbericht für Ägypten, in Auftrag gegeben vom Planungsministerium und unterstützt vom Entwicklungsprogramm der UN, konzentriert sich allein auf Menschen zwischen 18 und 29 Jahren. Eine Statistik gibt an, dass sich die Männer hauptsächlich für Sexualität, Mobiltelefone und Fußball interessieren, für die jungen Frauen dagegen die persönliche Sicherheit höchste Priorität hat, gefolgt von Bildung und Heirat. Gesellschaftliche Mitbestimmung steht für beide Gruppen auf dem letzten Platz.
Es ist immer dieselbe Geschichte, singt die Band Basata. Die Massen wehren sich erst, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Aber die gut ausgebildete Generation Mubarak, die die Chance hat, im Ausland zu studieren, hat auch die Kraft, von Veränderung zu träumen. Sie wünscht sich ein Ende der Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich, hat genug von Chaos und Korruption und fordert einen Sicherheitsapparat, der sich nicht nur um das Wohlergehen der Regierung kümmert.
Die jungen Oppositionellen starren nicht auf ihren Teller, gelähmt von der Angst, dass er sich eines Tages nicht mehr füllen könnte, sondern blicken über den Rand dieses Tellers hinaus.
"”Wir werden durch alte Regierungsformen und veraltete Ideen regiert, die nicht mehr funktionieren. Wir brauchen ein neues Denken, nicht das, mit dem der Präsidentensohn Gamal Mubarak wirbt, sondern ein wirklich neues Denken. Wir sollten wirklich verstehen, was Demokratie bedeutet, was Liberalismus und was Kapitalismus. Nur mit den Jungen kann man diese Theorien wirklich umsetzen. Die Alten müssen das Regime verlassen, damit wir die ersten Schritte auf dem richtigen Weg gehen können.""
Doktor Shady al-Ghazali Harb ist 31, lehrt am Institut für Chirurgie der Universität Kairo und hat sich auf Lebertransplantationen spezialisiert. Er hat seinen Magister in Hannover gemacht. Dann ging er zur Promotion nach London und wurde dort in einer Kampagne aktiv, die den Einstieg von Muhammad al-Baradei in die ägyptische Politik unterstützte. Der ehemalige Chef der Internationalen Atomaufsichtsbehörde und Friedensnobelpreisträger ist im Frühjahr 2010 von jubelnden Anhängern am Flughafen Kairo empfangen worden. Viele, insbesondere die gut ausgebildete Jugend, setzen ihre Hoffnung auf ihn und seine nationale Koalition für Veränderung. Shady warb für Baradeis Ideen unter Exil-Ägyptern in London. Zurück in Ägypten unterstützte er die hiesige Kampagne, die übers Internet und bei Straßenaktionen über eine Million Unterschriften gesammelt hat.
Derzeit sieht alles danach aus, als würde Hosni Mubarak im September 2011 für eine sechste Amtszeit antreten. In diesem Teil der Welt werden Präsidenten üblicherweise aus dem Palast getragen, die wenigsten danken zu ihren Lebzeiten ab. Die Generation Mubarak will sich mit diesem scheinbar ehernen Gesetz jedoch nicht abfinden. "Wir sind keine Monarchie" skandieren sie beschwörend auf ihren vielen Demonstrationen und halten an ihrer Hoffnung auf Veränderung fest.
Noch allerdings überwiegt die Masse der Unpolitischen. Die wenigsten Ägypter gehen wählen, offiziell zehn bis 15 Prozent, in Wirklichkeit vermutlich noch weniger. Die einzige oppositionelle Kraft, die die Bevölkerung noch erreicht, ist die verbotene Partei der Moslembrüder, aber auch sie verliert an Einfluss. Und dieser Zustand der politischen Indifferenz nutzt dem, der ihn herbeigeführt hat: Hosni Mubarak. Sagt Holger Albrecht:
"Für das System heißt das, dass das System einen hohen Grad an – wir nennen das – diffuse support hat. Also diffuse Unterstützung innerhalb der Bevölkerung, von Menschen, die nicht zur Wahl gehen, weil sie wissen, sie haben nicht die Wahl und weil sie entpolitisiert sind. Weil sie nicht die Möglichkeit aber vielleicht auch nicht die Notwendigkeit sehen, politisch aktiv zu werden. So eine depolitisierte Gesellschaft ist gut für ein Regime, das über die Jahre hinweg einiges verloren hat an Gruppen, die sie aktiv unterstützen innerhalb der Bevölkerung. Also das Regime erodiert auch, durch die Leute, über die wir unter anderem hier sprechen."
Auch die Generation Mubarak geht nicht zur Wahl und engagiert sich in den seltensten Fällen in Parteien. Sie sind aktiv aber unabhängig, "freischaffende Oppositionelle" nennt sie Shady al-Ghazali Harb. Ihre vielen kleinen Gruppen tragen Variationen der Worte Demokratie, Freiheit und Wandel im Titel, und sind untereinander vernetzt. Was sie eint ist die Ablehnung des Systems. Eine politische Alternative allerdings, oder die Vision eines idealen Ägypten, können sie nicht formulieren. Noch nicht.
Mubarak – heißt wörtlich übersetzt: gesegnet. Und gesegnet ist sie, die Generation Mubarak: mit Bildung, Weltoffenheit, Fantasie und Mut. Ihre Sprechchöre klingen wie Gedichte oder Sprechgesang, ihre Webseiten bringen die Leser zum Lachen und wenn die Staatssicherheit ihnen den einen Kommunikationsweg abschneidet, bahnen sie sich einfach einen neuen. Vielleicht macht all dies die Regierung so nervös: Improvisierende Tänzer sind viel schwerer zu stoppen, als marschierende Soldaten.