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Generationen
Die Schatztruhe der Alten

Der evangelische Theologe Reimer Gronemeyer kritisiert, dass Alter mit Hilfsbedürftigkeit und Problemen gleichgesetzt wird. In seinem neuen Buch wünscht er sich "Respekt und Verbeugung vor dem, was die, die vor uns gelebt und gelitten haben, für uns zurückgelassen haben." Davon profitierten auch Junge.

Reimer Gronemeyer im Gespräch mit Susanne Fritz |
    Der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer
    Reimer Gronemeyer fordert ein neues Miteinander von Jung und Alt (Droemer Knaur/Till Roos)
    Susanne Fritz: In den meisten Kulturen der Welt haben die Alten einen besonderen Stellenwert. Sie vermitteln die Traditionen, kulturelle und religiöse Werte und haben überlebensnotwendige Erfahrungen gemacht. Doch immer wieder waren die Alten auch lästig - in Zeiten der Not, überflüssige Esser. Heutzutage gehören sie für viele Jüngere zum "Alten Eisen", weil sie nicht mit gesellschaftlichen Veränderungen und dem digitalen Fortschritt mithalten können. Reimer Gronemeyer, evangelischer Theologe und Professor für Soziologie an der Universität Gießen sieht das ganz anders: Er hat ein Buch geschrieben mit dem Thema "Die Weisheit der Alten". Herr Gronemeyer ist jetzt im Studio in Frankfurt zugeschaltet.
    Aus den Trümmern der Alten-Welt
    Susanne Fritz: Guten Morgen.
    Reimer Gronemeyer: Guten Morgen, Frau Fritz.
    Fritz: Sie sagen, es ist an der Zeit, den Spieß umzudrehen – unser Bild von den Alten muss ganz neu gemalt werden. Wann hatten Sie diesen Geistesblitz?
    Gronemeyer: Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem Thema Demenz – also mit den Alten, die ihre Erinnerung verloren haben. Das ist etwas Dramatisches und Trauriges – und es ist auch nicht aus der Welt zu schaffen. Aber dann habe ich gedacht: Ist das eigentlich der einzige Blick, den wir auf die Alten haben können? Ich bin viel in Afrika und sehe, wie wichtig die Alten dort sind – nicht weil sie graues Haar haben oder viele Jahre gesammelt haben, sondern weil sie etwas wissen, was für die Jungen wichtig ist, zum Beispiel welches Saatgut muss wann ausgesät werden et cetera.
    Und da habe ich mich gefragt: Ist das eigentlich in unserer innovationssüchtigen Gesellschaft, wo eigentlich Jugendlichkeit und Digitalität et cetera zählen, ganz verschwunden? Sind die Alten eigentlich nur noch die potenziell Dementen, die Pflegebedürftigen, die, die am Rande sind und einsam und sozial nicht bedeutungsvoll? Und deswegen habe ich mal darüber nachgedacht, ob man eigentlich in den Trümmern dieser Alten-Welt etwas findet von dem, was auch für die, die heute jung sind, wichtig sein könnte.
    Fritz: Haben Sie denn in den Trümmern dieser Welt was gefunden, was für die Jungen heutzutage wichtig sein könnte? Welche wichtigen Schätze beherbergen die Alten Ihrer Ansicht nach?
    Gronemeyer: Ich finde, wenn man sich die Mühe macht, hinzuschauen, dann kann man vieles sehen, vom Kleinen bis zum Großen. Also angefangen habe ich eigentlich mit dieser Feststellung, dass ja viele junge Leute heute in den Städten "Urban Gardening" machen – also sagen wir mal, "Garten neu erfinden" in städtischen Bereichen, was ich eine ganz wunderbare Antwort auf den Supermarkt-Fastfood-Fraß machen. Und dann habe ich gedacht: Ja, eigentlich ist es schade, dass das viele Wissen, was Alte haben, die einen Garten gehabt haben oder noch haben – und die wissen ja unglaublich viel, wie man so was macht -, dass das oft etwas ist, was gerade verloren geht.
    Ein junger Mann geht durch den Nachbarschaftsgarten des Projekts "Ton Steine Gärten" am Mariannenplatz in Berlin.
    Urban Gardening - nur ein Feld, auf dem das Wissen und die Kenntnisse älterer Menschen hilfreich sein können (dpa / picture-alliance / Wolfram Steinberg)
    Und vielleicht gibt es da eine gute Brücke zwischen dem, was die Alten noch an Erfahrung haben und dem, was die Jungen gerade neu beginnen. Also das ist eigentlich das Interessanteste: Wo sind die Brücken auch zwischen den Generationen? Und dann kann man auch zu den großen Themen gehen natürlich, etwa dem Thema der Liebe oder dem Thema der Gelassenheit – was haben denn die Alten für Erfahrungen mit Liebe und Zärtlichkeit gemacht, auch mit Dauerhaftigkeit in den Beziehungen? Das ist ja nicht alles Gold, was da glänzt, und es ist nicht alles gelungen, aber gerade in den Erfahrungen des Scheiterns, der Trauer, des Schmerzes ist vielleicht etwas, was die Alten, sofern sie sensibel und nicht nur rein konsumistisch sind, den Jüngeren – oder der Welt, in der wir leben – mitzuteilen haben.
    "Lasst uns mit dem alten Zeugs in Ruhe!"
    Fritz: Sie sprechen in Ihrem Buch auch von Bodenhaftung, Widerspenstigkeit, Bescheidenheit, bewahrender Geduld, handwerklichen Fähigkeiten von Alten. Inwiefern können all diese Eigenschaften der Gesellschaft nutzen?
    Gronemeyer: Na ja, also man kann natürlich den Blick auf die Alten so gestalten, dass sie nur als die Bedürftigen, die Hilfsbedürftigen, die Unterstützungsbedürftigen gesehen werden. Und ich denke, es beginnt in der krisenhaften Zeit, in der wir uns befinden, wo von der Klimaveränderung bis zu dem Verschwinden von vielen Pflanzen und Tieren aus der Welt vielleicht noch mal die eigenen als sozusagen die Angehörigen einer Roten Liste wahrgenommen werden, die etwas wissen über das Leben, über Lokalität – auch über Heimat meinetwegen – und über das, worauf wir stehen: über den Boden. Dass die da etwas wissen, was für die Kommenden, für die, die nach uns kommen, wichtig werden könnte.
    Und das ist aber im Moment natürlich noch so, deswegen der Spieß umgedreht, dass das eigentlich alles weggewischt wird. Also die Tendenz ist, zu sagen: Lasst uns mit dem alten Zeugs in Ruhe! Und ich glaube, dass es ganz vieles gibt, was es zu entdecken gibt. Ich meine: Die Neigung, alte Schlösser und alte Kirchen zu restaurieren, ist wunderbar. Und es ist schön, dass wir da hinschauen. Aber das, was gewissermaßen die Software ist, das Wissen der Alten über das, woher wir kommen, die Erinnerung, die Erinnerung an ein Leben in anderen Lebenszusammenhängen, dass das sehr wichtig sein kann und wir anfangen müssen, diese Schatztruhe zu öffnen und sie nicht einfach nur auf dem Boden vergammeln zu lassen.
    Religion beginnt mit Ahnenverehrung
    Fritz: Unsere moderne Gesellschaft nimmt die Werte der Alten nicht so richtig wahr, sagen Sie. Inwiefern vermitteln die Religionen, Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus ein anderes Verhältnis vom Alter?
    Gronemeyer: Na ja, also wenn man an den gegenwärtigen Papst Franziskus denkt, der gesagt hat "wir brauchen eine Revolution der Zärtlichkeit", dann ist das etwas, was sozusagen nicht sich nur an die Jungen adressiert. Aber wenn man an die Anfänge der Geschichte der Menschen zurückgeht, dann fängt ja Religion eigentlich an damit, dass die gestorbenen Vorfahren als Ahnen verehrt werden. Und ich glaube, das muss man mal auf sich einwirken lassen und hören, was da eigentlich geschieht – nämlich das ist ja auch ein Stück Respekt und Verbeugung vor dem, was die, die vor uns gelebt und gelitten haben, für uns zurückgelassen haben. Und von da aus ist gewissermaßen in allen Religionen der Respekt vor dem Alter gewissermaßen überhöht in dem schönen Sinne, dass gefragt wird: Was können wir von Euch haben? Was habt Ihr uns zu raten? Was habt Ihr uns zu geben?
    Ein älterer Mann in einer Motorradjacke trägt eine VR-Brille.
    Reimer Gronemeyer möchte mit den Alten die Zukunft gestalten (imago stock&people)
    Und wir sind vielleicht heute in einer doppelten Gefahr: Erstens, im Alter töricht zu werden – entweder im Zusammenhang mit Demenz oder im Zusammenhang mit einer besinnungslosen Konsumgier. Aber das muss man beiseitekratzen, diesen Schrott gewissermaßen der konsumistischen Orientierung und sich fragen: Was ist denn daran unter Umständen in unserer beschleunigungsorientierten, innovationssüchtigen Zeit etwas, was wie ein Anker, wie ein Rettungsring etwas ist, wonach wir greifen könnten? Immer wieder auf dem Hintergrund, dass wir ja nicht so tun können, als wenn wir nicht auf einem schwankenden Boden stehen. Also irgendwie ist die Rede gewesen davon, dass der Ruin dieses Planeten so weit gediehen ist, dass man darüber nachdenken muss, ob irgendwelche Menschen vielleicht in einer Raumfähre den Planeten, der verwüstet ist, verlassen. Das ist die falsche Richtung. Ich glaube, wir müssen – mit großer Anstrengung und großem Glück – versuchen, das, was die Älteren noch wissen, was sie vielleicht noch bewahren aus den Trümmern der Gegenwart hervorzuholen.
    Ich muss daran denken, ich bin ja uralt gewissermaßen: Ich habe als Kind in den Trümmern Hamburgs irgendwie, in diesen Resten von Häusern et cetera, gewissermaßen nach Schätzen gesucht. Und so kommt es mir manchmal heute vor, dass die verachtete Welt der Alten in Trümmern um uns herum liegt und wir anfangen müssten – und die Jüngeren auch vielleicht anfangen müssten -, danach zu graben, was es dort an Kostbarkeiten gibt.
    Fritz: Herr Gronemeyer, an dieser Stelle möchte ich unser Gespräch für einige Minuten unterbrechen – für einen Beitrag von meinem Kollegen Burkhard Schäfers mit einem ganz anderen Aspekt des Alters: In den deutschen Gefängnissen steigt die Zahl der alten Häftlinge, die wegen schwerer Verbrechen einsitzen. Oftmals sind die Frauen und Männer seit Jahrzehnten eingesperrt, sie sitzen wegen Mordes, Totschlag oder Kindesmissbrauch. Mit dem steigenden Alter der Häftlinge verändern sich auch die Aufgaben der Gefängnisse: Die Senioren im Knast haben andere Sorgen und Nöte als die Jungen und so sind auch die Mitarbeiter und Gefängnisseelsorger anders gefragt. Burkhard Schäfers hat die Justizvollzugsanstalt in Bayreuth besucht.

    Wenn wir an das Alter denken, dann meist an Probleme. Wir denken etwa an Krankheit, Gebrechlichkeit und an den Tod. Mit dem Alter kommen Fragen: Wie können wir in Würde altern? Wie versorgen wir die Alten? Wer soll das bezahlen? Reimer Gronemeyer, evangelischer Theologe und Soziologe, will den Spieß umdrehen und das Alter neu entdecken.
    "Die Arme öffnen für das, was auf mich zukommt"
    Fritz: Herr Gronemeyer, wir haben gerade den Beitrag gehört – sieht man da nicht Häftlinge, alte Häftlinge, wieder nur als Problem?
    Gronemeyer: Ja. Ich habe zugehört und es hat mich irgendwie traurig gemacht. Das sind sicher Menschen, die Dinge getan haben, die schlimm und fürchterlich sind – und dennoch hat es etwas Melancholisches, zu hören, dass die da in einem Gefängnis sitzen. Aber ich habe dann gedacht: Was hören wir über die Situation von Pflegebedürftigen in Deutschland? Wir wissen, dass es in vielen solchen Einrichtungen dramatisch schlecht zugeht, weil die Zeit, weil die Profis, die Pflegenden fehlen. Und da habe ich so gedacht, vielleicht ist das oft ziemlich ähnlich miteinander. Und natürlich ist das gewissermaßen ein Blick, auf das Alter, wie er bei uns gewohnt ist, wie er auch notwendig ist, dass man das Alter als eine Hilfsstation, als eine Strecke des Lebens begreift, in der man nur noch eigentlich ein Versorgungsobjekt ist. Aber das ist eine Seite der Sache. Und wir wissen überhaupt nichts darüber, was diese … Oder wir wissen wenig darüber, was diese alten, pflegebedürftigen Menschen vielleicht alles mitzuteilen hätten, wenn wir hinhören würden.
    Fritz: Das Alter als Problem, systematisch verdrängt oftmals auch in unserer Gesellschaft, das Sterben strukturiert, etwa durch Patientenverfügungen. Was bedeutet das eigentlich für unser Verhältnis zur Vergänglichkeit?
    Gronemeyer: Na ja, ich glaube, dieser Versuch, das Lebensende zu einem Projekt zu machen, das ich plane und bei dem ich mit einer Vorsorgeplanung, wie sie jetzt üblich wird, genau bestimme, was unter welchen Umständen passiert – das ist ein trauriges Ergebnis eines Lebens, das eigentlich nichts mehr auf sich zukommen lassen will. Also der Mensch, der sein Leben lang alles entschieden hat, wie der moderne, individuelle Mensch jetzt ist, muss offensichtlich auch sein Lebensende noch planend in die Hand nehmen. Und darin ist etwas ganz traurig Unharmonisches.
    Und ich glaube, vielleicht würde das auch dazugehören, wenn man über die Weisheit des Alters nachdenkt, ob es unter denen, die da ihrem Lebensende entgegengehen auch solche gibt, die sagen: Nein, ich will sozusagen meine Arme öffnen, meine Sinne öffnen für das, was da auf mich zukommt und ich will das Lebensende nicht wie ein "Rundum-sorglos-Paket" und eine Versicherungspolice betrachten. Darum könnte dann wieder etwas sein, was für jüngere oder mittelalterliche Menschen sehr interessant und tröstend sein könnte.
    "Die Macht der Alten zum Geschenk an die Jungen machen"
    Fritz: Sie haben in Ihrem Buch sehr viel beschrieben, welche Eigenschaften, welche Gefühle Alte haben, die wichtig für unsere Gesellschaft sein können. Wir sollen das Alter wiederentdecken, die Weisheit des Alters wiederentdecken. Andersherum gibt es aber auch bestimmte gesellschaftliche Bereiche, die von den Alten dominiert werden, zum Beispiel die Kirchen. Aber auch in der Politik dominieren die Älteren das Geschäft – bei jüngeren Politikern ist man oft skeptisch, wenn sie Verantwortung übernehmen wollen. Haben die Jungen da nicht auch Grund, sich zu beschweren?
    Kevin Kühnert spricht und gestikuliert am Rednerpult.
    Ein prominentes Beispiel für massiven Widerstand gegen junge Politiker ist der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert (dpa/Kay Nietfeld)
    Gronemeyer: Natürlich haben sie dazu Grund. Die Wahlen in Deutschland werden heute im Wesentlichen von den Alten entschieden – und das ist nicht unbedingt gut. Ich meine, es ist umgekehrt auch nicht so, dass ein Mensch, nur weil er jünger ist, die klügeren Entscheidungen trifft. Aber natürlich ist es so, dass die Jüngeren sozusagen an der Schwelle zu etwas anderem stehen, was für die Alten nicht mehr so relevant ist. Von da aus, sagen wir mal, wäre vielleicht ein Teil der Weisheit des Alters auch darin zu suchen, dass man gewissermaßen als alter Mensch Bescheidenheit, Gelassenheit und Vorsicht in sich wachsen lässt. Ein alter Mensch weiß etwas über die allerbesten Augenblicke des Lebens und die furchtbarsten Stunden des Lebens. Und es ginge im Alter vielleicht nicht um die Gier, um das Haben-Wollen, sondern um die Befreiung, die darin liegen kann, dass man sagt: Das brauche ich alles nicht. Pasolini hat mal gesagt: Überflüssige Dinge machen das Leben überflüssig. Und so ist es vielleicht auch mit der Macht der Alten in dieser Gesellschaft, dass es schön wäre, sie würden sozusagen diese Macht zum Geschenk an die Jungen machen, dieses Geschenk an die Jungen übergeben in dem Sinne, dass es ein Anlass ist, gemeinsam darüber nachzudenken, wie dieser gequälte und verwüstete Planet unseren Nachkommen so übergeben werden kann, dass er belebbar ist.
    Fritz: Herzlichen Dank für das Gespräch. Das war Reimer Gronemeyer, evangelischer Theologe und Professor für Soziologie an der Universität Gießen. Sein Buch zum Thema heißt: "Die Weisheit der Alten" und ist im Herder-Verlag erschienen. Herzlichen Dank!
    Reimer Gronemeyer: "Die Weisheit der Alten - Sieben Schätze für die Zukunft"
    Herder Verlag, 2018, Gebunden, 216 Seiten, 25 Euro