Die Tür steht offen, leise Orgelklänge wehen aus der barocken Saalkirche auf den Baum-bestandenen Vorplatz. Die Ankommenden beugen sich über einen blauen Kinderwagen. Das Baby wird bewundert, man gratuliert den Eltern. Den Kinderwagen in der Kirche auf und ab zu schuckeln, ist zu Anfang des Abends Aufgabe des Vaters. Denn die Mutter ist die Pfarrerin. Zu Beginn des Martinskirchengesprächs tritt Sarah Kirchhoff erstmals seit der Geburt ihres Sohnes vor die Gemeinde.
"Mein Sohn – da hört man ihn gerade - ist heute elf Wochen alt. Und er ist dabei, weil Oma und Opa zu weit weg wohnen. Zweieinhalb Stunden, das lohnt sich nicht für einen Abend. Für die nächste Fortbildung, wo ich über Nacht weg muss, werden sie anreisen. Also, ich bin aktuell betroffen von diesem Thema und bin sehr gespannt, was heute Abend besprochen wird",
…unter der Fragestellung "Wer muss für wen da sein oder darf jede Generation das eigene Leben genießen?" Ein eigenartiges Gegensatzpaar, findet Christina Mundlos: Kümmern und genießen, könnten doch beide ins Familienleben integriert werden. findet. Wunderbar, wenn sich Familienmitglieder gegenseitig unterstützen, fügt die Hannoveraner Soziologin und Mutter von zwei Kindern an.
"Aber es kann nicht sein, dass familienpolitische Aufgaben im privaten gelöst werden müssen. Und dass Großmütter ermöglichen müssen, das Frauen Karriere machen – da haben wir jetzt im 21. Jahrhundert die Aufgabe, das politisch und auch von der wirtschaftlichen Seite das anzugehen, dass Familien das ermöglicht wird."
Selbstverständliche Werte
(Für den Familienservice der Uni Hannover hat Christina Mundlos an dieser Aufgabe eine Weile praktisch mitgearbeitet. Von daher ihre Zuversicht, dass Unternehmen und Politik Familien wirksam unterstützen können.) Rheinland-Pfalz trage mit kostenloser Kita-Betreuung und engagiertem Ausbau der Ganztagsschule einiges bei, meint Familien- und Integrationsministerin Anne Spiegel. Worin die Grünen-Politikerin die christliche Dimension dieses politischen Gesprächs erkennt?
"Also, christliche Dimension insofern, als ich Podiumsdiskussionen nicht so oft in Kirchen führe, aber es hat natürlich auch zu tun mit Werten wie Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit und Solidarität und Respekt, die aber nicht nur in christlichen Religionen vorkommen, und auch bei Menschen, die keiner Konfession angehören, selbstverständliche Werte sind in unserer Gesellschaft."
Allerdings lassen sich aus diesen Werten sehr unterschiedliche familienpolitische Schlüsse ziehen, das wird im ersten Jugenheimer Martinskirchengespräch deutlich. Karlheinz van Lier von der Konrad-Adenauer-Stiftung heizt die Kontroverse an - mit der These, Mütter seien in der Kinderbetreuung unersetzlich. Vor allem in der Baby-Phase könnten Väter, aber auch Großeltern kaum einspringen. Politik und Gesellschaft müssten Müttern die Ruhe gönnen, diese Exklusiv-Aufgabe in Ruhe zu genießen.
"Die Hektik kommt doch daher, dass wir heute alle glauben, wir müssten erwerbstätig sein. Und jetzt müssen wir mal fragen, warum müssen eigentlich die Familien erwerbstätig sein?"
Für Enkel da zu sein, spendet Lebensqualität
Statt Abwrackprämie mehr Geld für Familien und häusliche Kinderbetreuung fordert der fünffache Vater. "Vierzig Prozent der Akademikerinnen bleiben kinderlos, da läuft doch etwas falsch", schimpft er. Doch wie mehr Betreuungsgeld Frauen mit Hochschulabschluss zum Kinderkriegen motivieren soll, kann der Christdemokrat nicht schlüssig erklären.
Ilona Eisenbeis ist promovierte Biologin mit Kind. Vor vierzig Jahren aber musste die 71-Jährige dafür ihre akademische Karriere aufgeben, sie blieb zu Hause. Das bedauert sie. "Ich bin froh, dass die Zeiten sich geändert haben , dass die Männer auch die Väter viel aktiver in den Familien sind, siehe mein Schwiegersohn, finde ich total schön", sagt sie. Für ihre drei Enkelkinder da zu sein, spende Lebensqualität.
"Dazu kommt, dass ich meine Tochter stärke in ihrer Berufstätigkeit. Dieser Beruf macht auch ihr Freude. Geben und Nehmen, das ist eigentlich eine humanitäre Auffassung des Lebens. Finde ich total richtig."
Kümmern und genießen, geben und nehmen - das Versöhnen vermeintlicher Gegensatz-Pole schält sich beim ersten Martinsgespräch als Konsens heraus. So lange Kinder nicht selbst für sich sorgen können, ist es Elternpflicht, das zu übernehmen. Doch alles, was sich erwachsene Generationen untereinander geben, ist nicht einklagbar, so der Tenor des Abends. Sarah Kirchhoff freut sich, dass ihre Schwiegereltern demnächst zur Kinderbetreuung anreisen und damit ihre Fortbildung ermöglichen. Dazu seien die beiden nicht verpflichtet, zum Glück freuten sie sich darauf.
"Ich erlebe da eine große Solidarität uns gegenüber, und die würde ich zum entsprechenden Zeitpunkt genauso aufbringen", sagt die Pfarrerin. "Aber einfach auch aus Liebe, nicht nur aus Pflicht, sondern aus einer Verbundenheit heraus. Man ist sich nahe, man ist verbunden. Und dann möchte man natürlich auch füreinander einstehen. Und möchte, dass es dem anderen gut geht."
Nicht nur bei Anne Will
Wie weit aber geht das Füreinander-Einstehen, bis zur Pflege der Eltern oder Schwiegereltern? Fraglich, ob die das überhaupt wünschten, meint Kirchhoff. "Aber dass die Kinder einem in diesem Lebensabschnitt der Alters zur Seite stehen, gemeinsam überlegen, wie man professionelle und familiäre Pflege zusammenbringen kann – also, ich glaube, da geht es einfach darum, dass man da gemeinsam Wege findet. Dass man nicht sagt: ‚Das ist mir jetzt egal, was mit euch ist‘. Sondern sagt, ‚da übernehme ich jetzt Verantwortung‘. Das tue ich für meinen Vater gerade auch."
Kleine Kinder, alternde Eltern, Jobs, die immer mehr Flexibilität abfordern – die enorm belastete Sandwich-Generation findet im Jugenheimer Martinskirchengespräch Gehör. Aber auch Senioren und Kita-Erzieherinnen beteiligen sich am Austausch. Insgesamt mehr Frauen als Männer. Schön findet Pfarrerin Kirchhoff, "dass dieses Gespräch sich nicht nur bei Anne Will abspielt, sondern auch bei uns vor Ort - und Kirche da eben auch einen Bildungsauftrag hat. Das ist mir wichtig."