Wer selber einmal eine schwere Krise erlebt und überstanden hat, der kann oft anderen helfen, die noch mittendrin stecken. Dieser Gedanke steht hinter dem Prinzip der sogenannten Genesungsbegleiter. In vielen Bereichen der Psychiatrie, in Wohngruppen und Beratungsstellen, sind sie bereits etabliert. Bisher eher selten genutzt wird der Ansatz dagegen bei der Behandlung psychisch kranker Straftäter – zu Unrecht, finden Wissenschaftler der Universität Rostock. Seit einiger Zeit arbeitet deswegen Kai Gerullis als Genesungsbegleiter in der Forensischen Klinik im Rostocker Stadtteil Gehlsdorf.
Früher oft selbst im "Knast"
Der 54-Jährige hat eine lange Drogenkarriere hinter sich und war früher regelmäßig selbst als Häftling im "Knast" gelandet. Jetzt ist er der Experte aus Erfahrung, zu dem manche leichter Vertrauen fassen als zu den medizinischen Profis.
Wenn Kai Gerullis zur Arbeit geht, dann muss ihm ein Mitarbeiter an der Pforte erst einmal das Tor der Forensik in Rostock öffnen. Sie ist mit stacheldrahtbewehrten Mauern, Kameras und einer modernen Alarmanlage gesichert.
Für Gerullis ist es eine ganz andere Perspektive als früher, aber eine mit viel Sinn: "Ich mach kein Geheimnis aus meinem Leben. Wer was wissen will, kann das gerne tun. Weil alle Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind, kann ich eh nicht ändern. Aber ich kann dazu stehen und heute was besseres draus machen. Und genau das tue ich. Damit gebe ich was zurück."
Drogenkarriere als Qualifikation
Jeans, schwarze Lederweste, ein T-Shirt der Rockband Motörhead. Der gelernte Automechaniker und Informatikkaufmann muss sich bei dem, was er tut, nicht verkleiden. Als eigentlich behütetes Kind wuchs er in einer Hamburger Arbeiterfamilie auf, probierte aus Neugierde sehr früh unterschiedliche Drogen aus und kam während der Lehre erstmals mit Kokain und später mit Heroin in Kontakt. "Dann geriet ich immer tiefer in die Abhängigkeit, mit der er 30 Jahre lang zu kämpfen hatte. Dazu kam, wie bei vielen, die Beschaffungskriminalität, der Zwang, immer mehr Geld für immer mehr Drogen zu organisieren.
"Organisiert" hat Gerullis sein Geld unter anderem mit gewerbsmäßigen Diebstahl, hauptsächlich von Fahrrädern. "Das hab ich ziemlich lange gemacht, hab‘ auch ausgiebig dafür in der JVA gesesen, ist zum Glück alles abgegolten. Und nach der ganzen Zeit seit ich keine Straftaten mehr begangen hab‘, ist zum Glück auch mein Führungszeugnis wieder sauber. "
Am Anfang auch viele Vorbehalte
Trotzdem gab es bei den Mitarbeitern in der Rostocker Forensik Vorbehalte, ausgerechnet einen wie ihn für die Betreuung von Patienten zu engagieren. Klinikchefin Prof. Dr. Birgit Völlm erinnert sich: "Das ist jemand, der straffällig war und der drogenabhängig war, da ist natürlich die Frage, wieweit hat er sich davon gelöst, kann er sich wirklich abgrenzen, wenn Patienten ihn ansprechen, bitten, was mit reinzubringen? Kennt der die vielleicht sogar, ist der wirklich dann sozusagen auf der richtigen Seite?"
Birgit Völlm, die im Jahr 2018 die Klinikleitung in Rostock übernommen hat, war aber zuversichtlich, denn sie war vorher an Universitäten und Kliniken in Großbritannien beschäftigt, wo Genesungsbegleiter auch in der Forensik seit langem etabliert sind. In Mecklenburg-Vorpommern traf sie dann auf den Verein ExIn, der nach einem EU-weiten Forschungsprojekt seit 2007 die Ausbildung von Genesungsbegleitern in Deutschland vorantreibt – und bei dem auch Kai Gerullis in die Lehre gegangen ist.
Weiche Knie beim ersten Praktikum
In der Ausbildung bekam Gerullis innerhalb eines Jahres an drei Tagen pro Monat die theoretischen Grundlagen. Wobei der Unterricht immer zur Hälfte von einem ehemaligen Betroffenen und zur anderen Hälfte von einer Fachkraft aus dem sozialen Versorgungssystem gegeben wird. Anschließend schickte ihn seine Therapeutin zum Praktikum nach Gehlsdorf, wo vorrangig Straftäter mit Suchtproblemen untergebracht sind. Ein aufregender Moment, in dem der Mann trotz aller Vorbereitung weiche Knie bekam.
"Das erste Praktikum! Allein diese Chance zu kriegen! Ich habe ein paar Jahre vorher noch komplett unten mit dem Hals tief im Modder gesteckt, hab‘ mir zu der Zeit nicht vorstellen können, dass mein Leben noch mal so eine Wende macht. Und dann plötzlich war das soweit, ich hatte eine Chance gekriegt. Ja und da wollte ich natürlich erstmal nichts verkehrt machen." Und das hat der 54-Jährige offenbar auch nicht. Im Gruppenraum ist er gerade im Gespräch mit einem Patienten, der am Wochenende zu seiner Freundin nach Hause durfte.
Plötzlich öffenen sich Patienten für Therapie
Der Mann erzählt, wie es war, da draußen: "Ist natürlich was anderes wenn man denn am Schnapsregal vorbei geht, und weiß, man ist über Nacht da. Dann ist die Käseglocke weg, die Schutzglocke." Und Kai Gerullis kann berichten, wie es bei ihm selbst war damals: "Ja das Ding ist, das nicht für jemand anderes, sondern für einen selbst zu machen. Weil in dem Moment, wo man tatsächlich wieder zugreift, bescheißt man ja nicht die anderen, sondern sich selbst. Und je nachdem, wie wichtig einem das ist, dementsprechend entscheidet man sich auch richtig."
Der 47-jährige Patient hatte sich vor dem Kontakt zu Kai Gerullis jeglicher Therapie verweigert, fasste erst durch ihn Vertrauen - eben weil es diese Verbindung gibt: "Auch wegen Herrn Gerullis Vorgeschichte, Betroffener halt, aber er ist auch eine Respektsperson, sag ich mal so, oder Autoritärperson."
Klinik lernt von Genesungsbegleitern
Dass es einer wie der früher drogensüchtige Dauer-Dieb es geschafft hat, wieder einen Platz in der Gesellschaft zu finden, macht vielen Insassen der Forensik Mut. Auch die Mitarbeiter in der Klinik haben ihre anfänglichen Vorbehalte verloren – unter anderem weil sie merken, dass sie von diesem im medizinischen Sinne fachfremden Experten eine Menge lernen können, so die Chefin Birgit Völlm. "Auch so ganz praktische Sachen: Wo würde man jetzt so eine Droge verstecken und so etwas," erzählt sie lachend. Nach zwei Praktika hat der Genesungsberater zunächst einen befristeten, inzwischen sogar einen festen Arbeitsplatz in der Klinik bekommen. Birgit Völlm könnte sich gut vorstellen, weitere Kräfte wie ihn einzustellen.
Von den ersten Überlegungen bis heute – in Rostock ist der gesamte Prozess auch wissenschaftlich begleitet worden. Peggy Walde betreut als wissenschaftliche Mitarbeiterin unter anderem eine Doktorarbeit zum Thema und befragt regelmäßig alle drei Monate Kollegen, Patienten und den Genesungsberater selbst. Ein in Deutschland noch ausgesprochen seltenes Projekt, so sagt sie: "Wir haben in allen Kliniken mal rumgefragt und wir sind jetzt selber mit Herrn Gerullis vielleicht auf fünf Personen gestoßen plus vielleicht noch einige, die immer mal wieder auf Honorarbasis mit reingeholt werden, wo es halt thematisch passt. Aber viele sind es nicht."
Studien aus Großbritannien belegen Erfolg
Grundsätzlich gilt: Als Genesungsbegleiter werden in der Medizin Menschen eingesetzt, die dieselbe oder eine ähnliche psychiatrische Störung durchlebt haben wie die von ihnen betreuten Patienten – die es aber inzwischen schaffen, ihr Leben erfolgreich zu meistern. Studien aus Großbritannien zeigen, dass damit eine bessere soziale Einbindung erreicht werden kann und dass es anschließend seltener vorkommt, dass die Betroffenen erneut stationärer behandelt werden müssen. Eine Erkenntnis, die sich in den vergangenen Jahren auch in der deutschen Psychiatrie immer mehr durchgesetzt hat. Lediglich die Forensik steht nach Ansicht der Rostocker Experten noch am Anfang dieser Entwicklung.
Zu den wenigen Einrichtungen, die hierzulande auch bei der Betreuung psychisch kranker Straftäter auf Genesungsbegleiter setzen, gehört neben der Forensik Rostock das Klinikum des Landschaftsverbandes Rheinland in Essen. Die dortige Pflegedirektorin Christiane Frenkel hat ihre Entscheidung für diesen Weg nicht bereut. Ihre Klientel besteht ausschließlich aus Insassen der Untersuchungshaft, die meist unter schizophrenen Psychosen leiden. Sie können sich therapieren lassen, müssen es aber nicht.
Genesungsbegleiter in der Forensik etablieren
Rostocks Klinikchefin Birgit Völlm nun erreichen, dass bestehende Leitlinien für den Einsatz von Genesungsbegleitern allgemein um das Spezialgebiet der Forensik erweitert werden – ein Gebiet, in dem vor allem das Thema Sicherheit eine viel größere Rolle spielt als in anderen Fachgebieten. Die Hoffnung von Peggy Walde, die dabei die wissenschaftlichen Fäden in ihren Händen hält: "Dass es auch in der Forensik eines Tages genau so etabliert ist, wie in der allgemeinen Psychiatrie auch."
Für Kai Gerullis jedenfalls steht schon nach seinem ersten Jahr als Genesungsbegleiter fest: "Mein Leben hat an Qualität dazu gewonnen, jeden Tag. Ich hab‘ ein festes Einkommen, bin dabei, meine Schulden zu regulieren. Das heißt, ich stehe mit beiden Beinen wieder fest im Leben. Und das, was ich hier weitergeben kann am eigenen Beispiel, das ist für mich Balsam auf die Seele. Ich mach hier quasi Therapie umsonst nochmal, jeden Tag. Und das fühlt sich einfach gut an."