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Genial drastisch

Shakespeare-Liebhaber, die es schon immer gern deftig und drastisch hatten, kommen mit dem Buch "Filthy Shakespeare" auf ihre Kosten. Die Oxforder Literaturwissenschaftlerin Pauline Kiernan hat die überall in Shakespeares Werk verstreuten Schweinereien des Barden aus Stratford versammelt.

Von Walter Bohnacker |
    "Einen guten Morgen", wünscht die Amme der Capulets in "Romeo und Julia", und Mercutio Montague antwortet ihr mit einem ironischen "Guten Abend". Worauf sie sich erkundigt, ob denn wirklich schon Abend sei. "Nichts weniger als das", sagt er: "For the bawdy hand of the dial is now upon the prick of noon." Die Umstehenden kapieren sofort, was gemeint ist, und sie biegen sich vor Lachen.

    Gar nicht zum Lachen war es an dieser Stelle den deutschen Übersetzern des Stückes, Dorothea Tieck und Christoph Martin Wieland. Natürlich hatten auch sie die Wortspielerei verstanden, nur eben: Sie durften oder wollten es ihrem Publikum nicht weitersagen. Lieber ließen sie die Leser ins Leere laufen und setzten - vermutlich mit scham-rotem Gesicht - eine ganze Zeile Gedankenstriche, weil hier der Text, wie es in der Fußnote heißt, "mit dem albersten Zeug von der Welt ausgefüllt ist".

    Und so blieb dem deutschen Sprachraum ein ganzes Stück Sprachgewalt des Originals schön vorenthalten. Die mehr oder minder stark verschlüsselten Zwei-, Drei- und Vieldeutigkeiten, sie waren tabu in der familientauglichen und jugendfreien Shakespeare-Werkausgabe der Herrschaften Schlegel, Tieck und Wieland.

    Der Dramatiker Thomas Brasch übersetzte den Satz vor ein paar Jahren wie sich es für unseren Geschmack und eine aufgeklärte Leserschaft gehört: "Der geile Zeigerstachel steht ganz nach oben und kitzelt stark in der Öffnung zwischen ihrer Eins und ihrer Zwei die aufgespreizte Zwölf." Und da sage noch einer, dem deutschen Leser sei bei den Romantikern nichts entgangen.

    Aber zensiert wurde Shakespeare auch zuhause, und das schon zu seinen Lebzeiten. Berühmt sind die Stellen, an denen ein "Arsch" einem "etcetera" weichen musste. Am schlimmsten aber trieb es der gute Pastor Thomas Bowdler im 19. Jahrhundert. Er machte sich daran, für das viktorianische Publikum den gesamten Textkörper zu "entschweinigeln". Mit seinen sprachlichen Säuberungsaktionen fand der Pfarrer immerhin selber Eingang in die Wörterbücher. "Bowdlerisieren" wurde zum stehenden Begriff für Flurbereinigungen dieser Art.

    "Wie?", fragt Lucio in "Maß für Maß", "der Herzog habe niemals was mit Weibsleuten gehabt? Das alte Mensch, das für euch bettelt, könnte euch davon sagen. Er warf ihr nicht umsonst allemal einen Dukaten in ihre Büchse."

    Auch das eine dieser kleinen Obszönitäten, von denen es bei Shakespeare nur so wimmelt, in den Dramen wie in den Sonetten. 700 solcher Beispiele hat die Oxforder Shakespeare-Expertin Pauline Kiernan in ihrer Studie über den "schmutzigen" Shakespeare gesammelt, dazu rund 400 Umschreibungen für die Genitalien von Mann und Frau. Die riskanten Textstellen kann zwar jeder im Werk selber nachschlagen, nur in den Erläuterungen und Glossen geben sich die Herausgeber bis heute zuweilen viel zu diskret. Über den sexuellen Gehalt der bildhaften Ausdrücke erfährt man viel zu wenig.

    Diesem Missstand will Kiernan mit ihrem Buch nun abhelfen. Aber "Filthy Shakespeare" ist mehr als ein reiner Obszönitäten-Katalog, jeweils mit den neu-englischen Paraphrasen, bei denen die Autorin kein Blatt vor den Mund nimmt. Es ist der Versuch, der ganzen extra-ordinären Sprachgewalt des Dichters ein Stück weiter auf die Schliche zu kommen.

    "Körperflüssigkeiten, Ausscheidungen, Fortpflanzung, alles was irgendwie mit den natürlichen Funktionen des Körpers zusammenhing, erlebten die Elisabethaner unmittelbarer als wir heute. Die Menschen wateten in Dreck und Kot, in London wie auf dem flachen Land. Von Hygiene konnte keine Rede sein, die Lebenserwartung war niedrig. Armenhäuser und Bordelle, Lust, Geilheit, Krankheit und Tod gab es in London an jeder Straßenecke. Auf offener Szene wurde gebettelt, geliebt und gestorben. Schmutzig und primitiv war nicht die Fantasie Shakespeares, sondern die Realität. Seine Sprache spiegelt nur die Brutalität und Obszönität der Lebensumstände. Er brauchte nur hinzuhören. Der tägliche Weg ins Theater führte ihn unters Volk und in die Gosse."

    Mit ein Grund für die Verwendung von Vokabeln mit sexueller Zweitbedeutung ist sicherlich der, dass die Sprache eine Art Abwehrfunktion hatte. Wer die Lüsternheit anderer verspottete oder sich über Geschlechtskrankheiten ausließ, versicherte sich der eigenen Keuschheit und Moral und schützte sich gegen allerhand Versuchungen und Gefahren. Das Lachen sollte sozusagen immunisieren. Freilich wusste Shakespeare auch, dass unter seinen Zuhörern vielen dabei das Lachen im Halse stecken blieb."

    Shakespeares Wortschatz dürfte um die 29.000 Vokabeln umfasst haben. Warum sollte da nicht viel Anstößiges darunter sein. Manche behaupten sogar, im "Othello" entfalle auf jede der insgesamt 1070 Verszeilen des Iago mindestens ein Wort mit sexuellem Hintersinn. Aber, so Pauline Kiernan, weniger die Quantität in Sachen Obszönität sei bei Shakespeare das Entscheidende, obschon natürlich die Masse an sich schon fasziniere. Worauf es ankomme, sei der jeweilige Subtext. Je wichtiger ihm ein Thema sei - ob Armut oder Krieg, Macht oder Moral, Philosophie oder Religion -, desto freieren Lauf lasse er seinen sprachlich-stilistischen Möglichkeiten. Die obszöne Bildhaftigkeit der Sprache, dies zeigt Kiernan mit ihrem Buch, ist nicht bloße Effekthascherei, sondern sie ist Mittel zum Zweck: ein dramatisches Vehikel für den tieferen Sinn seiner Texte.

    Heute, meint Kiernan, komme es mehr denn je darauf an, wieder dem derben, frechen, ungezügelten, unverstümmelten, politisch unkorrekten und im besten Sinne ordinären Shakespeare das Wort zu überlassen. Zu oft habe sie als Dramaturgin und Beraterin am Londoner Globe Theatre erlebt, dass viele partout keine Ahnung hatten, was der Dichter uns wirklich sagen will.

    "Es war oft so, dass weder die Schauspieler noch das Publikum wussten, wovon in einer bestimmten Szene, in der es sprachlich scharf zur Sache ging, tatsächlich die Rede war. Dabei sind es nicht selten solche Dialoge am Rand des Geschehens, auf die es in den Stücken am meisten ankommt. Shakespeares Zeitgenossen hatten da keine Verständnisprobleme. Für uns aber sind das oft die Momente, in denen wir abschalten und uns langweilen. Bei Shakespeare aber lohnt es sich, gerade dann ganz genau hinzuhören, wenn von den niederen Instinkten die Rede ist. Jugendfrei war Shakespeare noch nie, harmlos ohnehin nicht. Und Weghören war bei dem Mann aus Stratford noch nie eine Lösung."

    Pauline Kiernan: Filthy Shakespeare: Shakespeare's Most Outrageous Sexual Puns
    London (Quercus) 2006
    303 Seiten, 12,99 Pfund