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Genome auf Eis

Das Erbgut des Menschen ist vollständig entziffert. Die Genforscher suchen jetzt nach genetischen Unterschieden zwischen einzelnen Menschen. Sie wollen so mögliche Ursachen und Risikofaktoren für Krankheiten finden. Für diese Suche brauchen sie die Gesundheitsdaten und Blutproben möglichst vieler Menschen, die sie in so genannten Biobanken zusammenbringen. In Island haben Genforscher bereits vor fünf Jahren mit dieser Forschung begonnen und ziehen nun Bilanz. In Estland und Großbritannien sind weitere Biobanken im Aufbau. Weitere Länder werden folgen.

Von Michael Lange |
    Inga Haraldsdóttir aus Grindavik in Island hat zwei Geschwister. Ihr Vater heißt Harald Olofsson, ihre Mutter Ana Högnasdottir. Alter, Verwandtschaft, Wohnort, Arbeitsplatz, Gesundheitszustand und Erbgut der Familie sind der Wissenschaft bekannt.

    Eine Aufnahme von 1990. Hier singt die vielleicht bekannteste Isländerin: die Pop-Musikerin Björk Gudmundsdóttir. Späterer Künstlername: Björk. Am Piano begleitet sie ihr Vater: Gudmundur Ingólfsson.

    Das Wissen um alle diese Menschen, ihre verwandtschaftlichen Beziehungen und ihre Krankheitsgeschichten sind gespeichert in einer großen Datenbank. Sie ist der Schatz der Firma Decode Genetics in Reykjavik.
    Ein zweiter Schatz lagert dort in einem Gefriertank: Blutproben mit dem Erbgut tausender Isländer. Herr über Daten und Genome ist der "zweitbekannteste" Isländer: der Wissenschaftler und Biotechnologie-Unternehmer Kari Stefansson.

    Die Isländer sind genetisch einheitlich. Sie besitzen außerdem einen reichen Schatz an Informationen über ihre Abstammung. Sie haben ein gutes Gesundheitssystem, und all dies zusammen sind die besten Voraussetzungen für genetische Forschung nach den Ursachen verbreiteter Krankheiten.
    Diese Aussage stammt von 1998. Eine große Hoffnung war damals, dass sich einzelne Erbanlagen, Gene, in Island leichter finden lassen als sonst wo, weil die Isländer genetisch besonders einheitlich sind. Schließlich – so hieß es – stammen sie alle von wenigen Wikingern ab und waren jahrhundertelang auf ihrer Insel im Nordatlantik isoliert.
    Dieses Argument stimmt heute nicht mehr. Das zeigen Abstammungsuntersuchungen britischer Forscher, aber auch eigene Ergebnisse von Decode Genetics.
    Dazu Klaus Lindpaintner von Hofmann La Roche. Der schweizer Pharmakonzern arbeitet seit sechs Jahren mit Decode und Kari Stefansson zusammen.

    Die Wikinger sind auf ihrer Reise nach Island erst einmal in Schottland und Irland abgestiegen, und haben sich dort ihre Gemahlinnen geholt, so dass die Hälfte des isländischen Erbguts nicht vom Wikingerblut ist, sondern von keltischem Blut. Daher ist an sich die Gleichförmigkeit, die man den Isländern nachgesagt hat – und das hat sich jetzt mit genetischen Forschungen auch bestätigt – ist gar nicht so verschieden, von dem, wie wir es im Rest von Europa haben, wo wir auch eine Mischung von nordischen, südländischen und keltischen Wurzeln haben.
    Genetisch gesehen sind die Isländer fast ganz normale Europäer – nur ein wenig einheitlicher. Daran hält Kari Stefansson fest.

    Die Isländer sind, wenn man sich die Daten anschaut, schon eines der drei oder vier genetisch gleichförmigsten Völker Europas. Aber für unsere genetische Forschung ist das gar nicht so wichtig. Am wichtigsten sind für uns die Stammbäume.

    Wenn ich Sie heute frage, wer Ihr Vetter vierten Grades ist, bleiben Sie mir die Antwort schuldig, und wenn Sie mich fragen, bleibe ich Ihnen die Antwort schuldig. Wenn Sie in Island jemanden fragen, dann kann Ihnen das jeder erzählen. Das ist das Nationalhobby der Isländer.

    Der Großvater von Inga und ihren Geschwistern heißt Gudmundur Steingrimsson. Gemeinsam mit Heidur Jónasdóttir hat er neun Kinder. Beim Familientreffen seiner Nachkommen treffen sich jedes Jahr 51 Cousinen und Vettern. In einer großen Aktion vervollständigen sie ihre Ahnenbücher.

    Wenn Sie große Familienstammbäume direkt nachverfolgen können, und wissen, dass Ihre Bezugsperson eine gewisse Erkrankung hat und der Vetter sechsten Grades auch die gleiche Erkrankung hat, dann können Sie in erster Näherung davon ausgehen, dass beide die gleiche Erbanlage tragen.

    Ich glaube nicht, dass es irgendein anderes Land gibt, in dem die Abstammung der gesamten Bevölkerung in einer Datenbank vorliegt. Und zwar über Jahrhunderte zurück.
    1997 begann die Zusammenarbeit zwischen Decode Genetics und Hofmann La Roche. Mit 200 Millionen Dollar unterstützte der Pharmakonzern die isländische Suche nach Krankheitsgenen.
    Der Aufbau einer großen Biobank mit Gesundheitsdaten und Blutproben, blieb allerdings allein Sache der Isländer. Diese Datenbank war von Anfang an umstritten.

    Es ist kein Vorbild in ethischer und gesetzlicher Hinsicht, und da meine ich die Gesetzgebung, die die Datenbank regulieren soll. Da gibt es Fehler in der Gesetzgebung.
    Sigridur Thorgeirsdóttir von der Philosophischen Fakultät der Universität von Island in Reykjavik ist eine von vielen Kritikern der isländischen Gesundheits- und Genomdatenbank.

    Es ging alles sehr schnell in Island. Diese Gesetzgebung. Deshalb ging das meines Erachtens zu schnell. Es ist ein großer Fehler gewesen, dass man nicht auf dem Prinzip der aufgeklärten Einwilligung beharrt hat.
    Bei der Gesetzgebung 1997/98 ging es zunächst nicht um Blut- oder Genproben, sondern um Gesundheitsdaten, die der Firma Decode Genetics zu Forschungszwecken vom Staat überlassen wurden. "Die Isländer haben ihre Gene verkauft," hieß es in der Presse.

    Die Isländische Regierung verkauft überhaupt nichts. Sie hat lediglich Decode Genetics das alleinige Recht gegeben, eine zentrale Gesundheitsdatenbank aufzubauen und diese Datenbank zu vermarkten.
    In den Augen der Datenschützer hat die Sache jedoch einen entscheidenden Haken. Die Betroffenen wurden nicht gefragt, bevor ihre Daten in die Computer der Firma Decode übertragen wurden.
    Es fehlte der "informed consent", die informierte Zustimmung. Wer verhindern wollte, dass seine Daten in die Datenbank der Genforscher gelangten, musste sich ein Formular besorgen und sich aktiv gegen die Verwendung seiner Daten aussprechen. Nur eine Minderheit machte sich die Mühe. Ihre Namen und Adressen wurden in einer Liste der Neinsager gespeichert.
    Zu ihnen gehört auch Sigmundur Gudbjàrnasson, emeritierter Medizinprofessor an der Universität Reykjavik.

    Die Firma hat in ihrem Geschäftsplan, den Verkauf dieser Daten angeboten: auch an Versicherungen und andere Unternehmen. Ich befürchte: Genau das werden sie tun. Das hat nichts mehr mit medizinischer Forschung zu tun. Das ist reines Geschäft.
    Überall auf der Welt überlegen Wissenschaftler, wie sie Datenbanken mit Sammlungen von Blut- oder Gewebeproben verknüpfen können. Der Oberbegriff für all diese Projekte lautet: Biobanken. Blut, Gewebe, genetische Informationen und Gesundheitsdaten werden gespeichert und ausgewertet.
    Durch seinen schnellen Start wurde Island in diesem Bereich zum Marktführer. Das Know how der Firma Decode Genetics gilt als weltweit einzigartig.
    Damit die islänische Biobank ein Erfolg wird, müssen aber auch viele Ärzte mitarbeiten. Eine große Anzahl der Mediziner in Island sei jedoch nicht bereit mitzumachen, so Gudmundur Björnsson von der Isländischen Ärztevereinigung:

    Einige Isländer sagen, dass sie nicht als Meerschweinchen benutzt werden wollen – für den Rest der Welt.

    Inga und ihre Geschwister, Kristin und Magnùs, sollen Blutproben abgeben. Denn ihr Großvater Gudmundur Steingrimsson leidet an der Alzheimerschen Erkrankung. Es gehe um wissenschaftliche Forschung, wurde ihnen mitgeteilt. Wenn Gene gefunden werden, die die Entstehung von Alzheimer fördern, lässt sich vielleicht ein Heilverfahren entwickeln. Irgendwann.

    Ein Teil des Projektes, das Sammeln der Blutproben, befindet auch nach fünf Jahren noch im Anfangsstadium. Jeder Isländer, der Blut zu Forschungszwecken gibt, muss informiert werden und zustimmen. Wieviele Blutproben bislang in den Gefriertanks von Decode Genetics in Reykjavik lagern, darüber gibt die Firma keine Auskunft. Wahrscheinlich sind es einige tausend. Sie wurden innerhalb vieler Einzelprojekte gesammelt, nicht in einer großen Aktion. Von einer vollständigen Sammlung des Erbmaterials aller 280 tausend Isländer kann keine Rede sein.
    Ob Island wirklich als erstes Land nahezu vollständig genetisch erfasst sein wird, ist somit offen. Und die Konkurrenz schläft nicht.

    Mittlerweile haben andere Länder ähnliche Projekte: Estland, Neufundland, Quebec in Kanada und neuerdings auch England. Das zeigt: Die Leute folgen einem guten Beispiel.
    Die Esten haben sich das Ziel gesetzt, in fünf Jahren etwa eine Million Blutproben zu sammeln, und in einer Fragebogenaktion die Gesundheitsdaten ebenso vieler Menschen zu sammeln. Damit wären die Daten von zwei Dritteln aller Esten in einer Bio- und Datenbank vereinigt.
    Initiator des Projektes ist der Biotechnologie-Professor Andres Metspalu von der estnischen Universität Tartu.

    Estland ist nun einmal sehr klein. Nach einzelnen Genen zu suchen, die seltene Krankheiten auslösen, macht wenig Sinn. Dazu gibt es in einem kleinen Land zu wenig Patienten. Wir haben hier aber die Möglichkeit, jeden Bürger in eine Datenbank aufzunehmen, und die Genetik für die Gesundheitsversorgung zu nutzen.
    Ein spannendes Konzept; meint Detlef Ganten vom Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin.
    Er hofft, dass die Medizin mit Hilfe der Genetik besser auf jeden einzelnen Patienten zugeschnitten werden kann.

    In Zukunft wollen wir natürlich nicht mehr darauf warten, dass die Menschen ... krank werden, sondern wir wollen vorbeugen. Das ist die billigere, die bessere Medizin. Und diese Verbindung von klassischer Medizin, also Familienanamnese, und der ganz modernen Medizin, vorbeugend zu wirken, können wir mit einem solchen bevölkerungsweiten Projekt üben.
    Auch in Estland – genau wie in Island - verabschiedete das Parlament ein Genomgesetz. Darin ist – im Gegensatz zum isländischen Genomgesetz - eindeutig geregelt, dass nur Blutproben und Daten von Personen gesammelt werden, die der Teilnahme am Projekt zugestimmt haben. Die Esten – als EU–Beitrittskandidat - sehen ihr Konzept als Vorbild für Europa.
    Aber auch in Estland gibt es Kritik. Das kleine Land an der Ostsee bietet keineswegs ideale Bedingungen für genetische Großprojekte. Neben dem Geld feht auch die Infrastruktur, so die Ärztin Tina Tasmuth.

    Wissenschaftlich betrachtet hat unsere medizinische Dokumentation in Estland längst nicht das gleiche Niveau wie unsere Gentechnik. Im Genomprojekt aber sollen genau diese beiden Ebenen verknüpft werden: Gentechnik und Medizinische Dokumentation. Das kann gar nicht funktionieren. Auch die Diagnostik ist nicht so gut wie in Westeuropa. Wir haben weit weniger Computer-Tomographen und andere High-Tech-Geräte. Die Alltagsmedizin findet unter ganz anderen Bedingungen statt als im Westen. Überall mangelt es an moderner Ausrüstung. Wenn man die so gewonnenen Diagnosedaten mit hochwissenschaftlichen Genomdaten verknüpft, ist das ein wissenschaftlicher Fehler.
    In Deutschland gibt es bereits viele kleine Biobanken für einzelne Studien. Sie sollen in den nächsten Jahren besser vernetzt werden. Ein großes Biobankprojekt wie in Island oder Estland ist hingegen nicht geplant. Viele Wissenschaftler scheuen eine gesellschaftliche Diskussion, wie sie die Stammzellforschung über mehrere Jahre erlebt hat.
    Da ist es einfacher international zusammenzuarbeiten – zum Beispiel mit der estnischen Biobank.

    Das ist natürlich insbesondere für ein Land wie Deutschland besonders interessant, da wir ja sehr zurückhaltend sind mit der Einführung dieser Methoden, ganz besonders mit der Einführung in die praktische Medizin. Da gibt es gesellschaftliche und andere Vorbehalte. Dieses in Kooperation zu machen ist interessant. Ich denke, dass wäre eine Chance, die wir uns nicht entgehen lassen sollten.
    Der geplante Start des estnischen Genomprojektes verzögerte sich mehrfach. Der Grund: Geldmangel. Nach dem Zusammenbruch der Technologie-Börsen fehlte es an finanzkräftigen Investoren.
    Dann - im Herbst 2002 - starteten die Esten mit einem Pilotprojekt in zwei Landkreisen. Nach deren Abschluss im Frühjahr 2003 ging es allerdings nur langsam weiter. Aber Andres Metspalu ist als typischer Este Optimist.

    Die Leute unterstützen das Projekt. Jetzt, wo alle Ärzte in den beiden Landkreisen Erfahrungen gesammelt haben, lautet die Bilanz: 30 Prozent der Patienten wollen mitmachen und fragen gezielt nach dem Projekt, 30 Prozent müssen gesucht und überzeugt werden. Der Rest ist uninteressiert oder will nicht teilnehmen. Aber insgesamt sehen wir viel Interesse.
    Die 68jährige Rentnerin Veera Mätti kommt zu Doktor Rapsäli in die Kreisstadt nach Hapsalu, um Herz und Kreislauf untersuchen zu lassen. Gleich nach dem Blutdruckmessen spricht der Arzt sie auf das Genomprojekt an. Sicher habe sie nichts dagegen und etwas Zeit übrig, um zum Wohle Estlands und des Fortschritts eine Blutprobe abzugeben und ein paar Fragen zu beantworten. "Warum nicht," sagt Veera und wird zur Teilnehmerin am estnischen Genomprojekt.

    Während die Esten eine Art medizinsch-genetische Momentaufnahme möglichst vieler Patienten planen, wollen die Briten die Teilnehmer an ihrer UK-Biobank über einen längeren Zeitraum beobachten und medizinisch betreuen.
    So wollen sie studieren, wie Verhaltensweisen, Lebensumstände und Genetik gemeinsam die Entstehung von Krankheiten bewirken.
    Die etwa 500 000 Teilnehmer, die an dieser Biobank-Studie teilnehmen sollen, dürfen auf eine verbesserte medizinische Betreuung hoffen als der Durchschnittsbrite.
    Andres Metspalu aus Estland sieht das britische Biobank-Projekt keinesfalls als Konkurrenz.

    Ich denke: das ist ein sehr gutes Projekt. Letztlich wird jedes Land eine derartige Biobank für seine eigene Bevölkerung gründen. Das wird jetzt alles diskutiert und ausprobiert. Und am Ende kann jedes Land seinen eigenen Weg der Durchführung wählen.
    Gefördert wird das britische Biobank-Projekt vom Wellcome Trust und der britischen Medizischen Forschungsgemeinschaft MRC, die bis zu 50 Millionen Euro zur Verfügung stellen wollen. Kürzlich wurde ein Leiter für das Projekt ernannt. Bis 2 004 laufen noch Vorbereitungen, dann kann es losgehen.
    Der emiritierte Medizinprofessor Tom Meade ist Vorsitzender der Ethikkommission, die das Projekt begleitet.

    Die Patienten erhalten eine Einladung von ihrem Arzt. Darin wird das Projekt erklärt, und sie werden zur Teilnahme aufgefordert. Sie füllen einen Fragebogen aus und gehen in den nächsten Tagen zu einer Gesundheitsstation in Ihrer Nähe. Dort machen sie ein paar Untersuchungen mit. Das ist ein richtiger Gesundheits-Check. Sie erhalten weitere Informationen, und eine Blutprobe wird genommen.

    Die Patienten sollen über viele Jahrzehnte betreut und beobachtet werden. Oft zeigt sich erst langfristig, wer krank wird und wer gesund bleibt. Epidemiologisch ein guter Ansatz, sagt Klaus Lindpaintner von Hofmann La Roche. Aber ...

    Aus unserer Sicht dauert das zu lange... Wir brauchen die Daten am liebsten gestern und hoffentlich übermorgen, aber nicht erst in zehn Jahren. Im Moment ist das noch etwas Zukunftsmusik, zu wenig konkret, als dass wir uns darauf verlassen könnten.
    Jeder, der am britischen Biobank-Projekt teilnehmen wird, tut das freiwillig. Dennoch hat der Jurist Spiros Simitis Bedenken. Er ist Datenschutzexperte an der Universität Frankfurt am Main und Vorsitzender des Deutschen Nationalen Ethikrates.

    Jeder, der Daten haben will, beginnt damit, sich Strategien zu überlegen: Wie kann er sie am einfachsten bekommen? Die Isländer haben es so gemacht, dass sie gesagt haben: Ich nehme mir Ihre Daten aus Registern, aus Arztpraxen oder sonstwoher, und wenn Sie das nicht wollen: Widersprechen Sie! Wer von uns wird widersprechen, wenn er es nicht weiß? Oder man wird überlegen: Was muss ich alles auf mich nehmen, um widersprechen zu können?
    Die Engländer haben das so gemacht, dass sie gesagt haben: Forscher sind vertrauenswürdige Leute. Wenn Sie einmal einwilligen, haben Sie in alles eingewilligt. Nichts davon geht. Erst muss gefragt werden, dann darf man. Das ist in der Europäischen Union ein klarer Grundsatz. Eine allgemeine Einwilligung, eine Blanco-Einwilligung, gibt es nicht.

    Meade:
    Einige der Studien, die wir planen, können wir erklären, und die Teilnehmer um ihr Einverständnis bitten. Aber natürlich schreitet die Genforschung schnell voran. In wenigen Jahren werden wir Möglichkeiten haben, die wir heute noch nicht voraussehen können. Über alle zukünftigen Projekte können wir deshalb nicht informieren. Deshalb bitten wir die Leute eher allgemein um ihr Einverständnis. Wir sagen, dass wir ihre Daten für zukünftige medizinische Forschungen brauchen. Was wir genau erforschen werden, können wir zu Beginn des Projektes nicht vorhersagen.

    Simitis:
    Wenn Sie meine Daten haben möchten, dann müssen Sie mir auch sagen: Warum? Dann muss ich wissen, welche Ziele Sie verfolgen. Wer sie möglicherweise bekommen kann, und dann muss ich auch wissen, wie lange Sie diese Daten brauchen. Erst dann kann ich zustimmen.
    Eine einmalige Einwilligung für alle Zeit reicht nicht aus. Deshalb fordert Spiros Simitis ständige Informationen über das Fortschreiten des Projektes für alle Teilnehmer. Allgemeine, aber auch persönliche. Was wird mit meinen Daten erforscht? Wozu dienen die Blutproben?

    Die informierte Einwilligung ist etwas von gestern. Heute brauchen Sie Einwilligungen, die immer wieder informieren und erneuert werden. Damit ich jederzeit weiß: Darf es weitergehen. Oder sage ich: Stopp und nicht mehr weiter!

    Großbritannien 2 019. Seit 15 Jahren ist der 70jährge William Maddox aus Birmingham beim UK-Biobank Projekt dabei. Jedes Jahr lässt er sich gratis durchchecken. Doch diesmal musste er gleich mehrmals wiederkommen. Verdacht auf Darmkrebs. Damit wird er zum wichtigen Forschungsobjekt. Wie hat er sich in den letzten 15 Jahren ernährt? Ist er Raucher? Trägt sein Erbgut mögliche Risikogene? Wer in seiner Verwandtschaft ist ebenfalls gefährdet?
    Ob das estnische oder das britische Biobank-Projekt die versprochenen Erfolge bringen werden, lässt sich noch nicht sagen. Dafür ist es noch zu früh.
    In Island jedoch ist die Zeit gekommen für eine erste Bilanz. Kari Stefansson.

    Wir haben dramatische Fortschritte gemacht bei der Erforschung einer ganzen Reihe von Krankheiten: Wir haben ein Gen für Schizophrenie gefunden, und eines, das beim Hirnschlag eine Rolle spielt. Auch beim das Verständnis von Schlaganfall, Osteopose oder Osteo-Arthritis sind wir weitergekommen. Unser Ansatz hat sich als richtig und zukunftsweisend erwiesen. Zu unserer Zufriedenheit und zur Zufriedenheit unserer Geschäftspartner.
    Auch der Forschungsdirektor von Hofmann La Roche, dem größten Geldgeber der Isländer, stimmt ein in die Erfolgsbilanz. Jonathan Knowles:

    Wir haben eine ganze Reihe von neuen genetischen Risikofaktoren gefunden. Insgesamt für zehn oder noch mehr weit verbreitete Krankheiten. Alles keine rein genetischen Krankheiten, sondern Krankheiten, bei denen Erbanlagen und Umweltfaktoren zusammenspielen. Und wir kennen jetzt Risikofaktoren, die deren Entstehung begünstigen.
    Allerdings löst ein entdecktes und verstandenes Gen längst nicht mehr die gleiche Begeisterung aus wie noch vor einigen Jahren.
    Je mehr Gene gefunden wurden, um so kleiner wurde die Bedeutung einzelner Gene: für das Verständnis der Biologie aber auch für die Medizin.
    Hier findet ein grundsätzliches Umdenken statt, so der Anthropologe Paul Rabinow. Er beschäftigt sich an der der Universität von Kalifornien in Berkeley mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Genomforschung.

    Die Defintion des Begriffs "Gen" ändert sich gerade. Neuerdings wissen wir: Gene sind keine alleinstehenden Informationseinheiten, die alles steuern, die den Aufbau und das Wesen eines Organismus bestimmen. Die Ära von Mendel ist vorbei. Ein Gen ist nicht mehr nur eine Region auf einem Chromosom, die nach festen Regeln vererbt wird. Alles ist viel komplizierter. Wir haben weniger Gene als wir dachten und die Wechselwirkungen sind viel wichtiger als wir lange Zeit annahmen. Jetzt geht es darum, die Komplexität biologischer Systeme zu verstehen.
    Vielleicht ist auch das ein Grund, warum die Gensuche für die Pharmaindustrie unwichtiger geworden ist.
    Sie war immer nur ein erster Schritt, sagt Klaus Lindpaintner.

    Letztendlich ist ja unsere Aufgabe nicht, sämtliche Krankheitsgene und Genvarianten zu identifizieren, sondern unsere Aufgabe ist es, neue Wirkstoffe, neue Medikamente für kranke Menschen zu finden. Dafür brauchen wir natürlich ein gewisses Verständnis für Mechanismen. Aber wenn wir jetzt einige neue Mechanismen kennen, dann ist es jetzt natürlich angezeigt, primär unsere Aktivitäten darauf zu konzentrieren, dass wir jetzt mit diesen Mechanismen versuchen, neue Medikamente zu finden.
    Hofmann La Roche hat die alte Zusammenarbeit mit Decode Genetics beendet, um mit einer neuen zu beginnen. Statt um die Suche nach Krankheits- und Risikogenen, gehe es jetzt um die Entwicklung von Strategien zur Wirkstoffentwicklung.

    Das sind erfahrende Biologen. Die können nicht nur nach neuen Genen suchen. Die können genausogut Gene weiter untersuchen, weiter charakterisieren, Wechselwirkungen aufdecken. / Das heißt: es gibt hier sehr viel Arbeit zu tun, um hier zunächst einmal zu verstehen: Wie hängt jetzt dieses Gen mit der Erkrankung zusammen.
    Die Biobank spielt bei dieser Forschung kaum noch eine Rolle. Für Decode war sie ein Sprungbrett. Eine Eintrittskarte in die weltweite Biotechnologie-Szene.
    Aber in Zukunft könnten die Datenbanken wieder wichtig werden: Als Hilfsmittel bei der Durchführung klinischer Studien: zum Beispiel beim Test von neuen Medikamenten.
    Jonathan Knowles, Forschungsdirektor von Hofmann La Roche in Basel:

    Am Anfang haben wir in Zusammenarbeit mit den Isländern nach Fehlern oder Abweichungen im menschlichen Uhrwerk gesucht. Veränderungen in bestimmten Genen. Im nächsten Schritt geht es darum, klinische Studien mit Patienten zu machen, von denen man weiß, dass sie bestimmte genetische Übereinstimmungen aufweisen, weil sie das gleiche molekulare Uhrwerk in sich tragen.
    Schon wieder Post für Inga und ihre Geschwister. Ein neuer Wirkstoff aus den USA soll die Entstehung von Alzheimer verhindern oder zumindest hinauszögern. Sie werden gebeten, an einer Studie teilzunehmen, in der der neue Wirkstoff an so genannten Risikopersonen erprobt wird.

    Und wenn der Patient nicht das Wissen um diese Risikofaktoren hoch einschätzt, dass er es gewinnen will, dann soll man ihn um Gottes Willen nicht dazu zwingen.
    Statt nur mit Roche arbeitet Decode inzwischen mit vielen Unternehmen zusammen: darunter IBM, Merck und Pharmazia. Trotz finanzieller Schwierigkeiten, wie sie viele Biotechnologie-Unternehmen nach dem Einbruch der Technologie-Börsen erlebten, scheint Decode Genetics nicht bedroht. Die Umsätze wachsen sogar wieder.
    Der Anthropologe Paul Rabinow.

    Wenn man sich vor ein paar Jahren die Ethik-Debatte über das isländische Genomprojekt ansah und anhörte, konnte man glauben, dass in Island alle Fragen der Genetik beantwortet werden könnten. Auf der anderen Seite befürchtete man, dass der absolute Überwachungsstaat drohte – die Rückkehr des Nationalsozialismus. Natürlich ist nichts davon eingetreten: nur ein paar kleine Erfolge in der Genforschung, aber die Nazis sind auch nicht zurückgekommen.