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Genossenschaften werden Weltkulturerbe
"Einer für alle und alle für einen"

Genossenschaften haben in der Landwirtschaft oder auch im Wohnungsbau Tradition. Die UNESCO will sie nun als immaterielles Kulturerbe anerkennen. Dadurch würden sich wieder mehr Menschen mit dieser solidarischen Idee auseinandersetzen, sagte der Historiker Holger Martens im DLF. Es könnten neue gesellschaftliche Impulse daraus entstehen.

Holger Martens im Gespräch mit Dörte Hinrichs |
    DDR-Plattenbaugebiet Grünau in Leipzig (Sachsen) mit dem Schild "Unitas Wohnungsgenossenschaft".
    Genossenschaften gibt es in vielen Bereichen der Gesellschaft. (dpa / picture-alliance / Jan Woitas )
    Dörte Hinrichs: "Einer für alle, und alle für einen", so lautet das Motto der Genossenschaften. Ein Motto, das neuen Auftrieb bekommen hat, seitdem die UNESCO Ende letzten Jahres beschlossen hat, die Genossenschaftsidee als immaterielles Weltkulturerbe anzuerkennen. Eine weltumspannende Idee, denn es gibt 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder in über hundert Ländern.
    In Deutschland ist die Idee mit den Namen Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich-Wilhelm Raiffeisen verbunden. Ihr Wirken und ihre Denkmale sind Teil unserer Erinnerungskultur. Kurz vor der Sendung habe ich mit dem Genossenschaftshistoriker Dr. Holger Martens gesprochen. Er ist Gründer und im Vorstand der Historikergenossenschaft und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Ihn habe ich zunächst gefragt, was denn eigentlich hinter der Genossenschaftsidee steckt?
    Holger Martens: Die Genossenschaftsidee steht für Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Die Aktivitäten einer Genossenschaft werden also von den Beteiligten in Eigenregie geplant, gestaltet und ausgeübt zum Nutzen aller Mitglieder. Damit ist die Genossenschaftsidee zu einem Lösungsmodell für Aufgaben und Probleme geworden, die ein Einzelner für sich nicht lösen kann, die in einer solidarischen Gemeinschaft aber sehr gut bewältigt werden können.
    Dafür steht dann auch der Ausspruch "Einer für alle, und alle für einen". Und dieses Modell ist im Laufe der Geschichte sehr stark angewendet worden und ist auch in den Entwicklungsländern sehr stark zum Tragen gekommen.
    "Daraus werden neue Ideen und Initiativen entstehen"
    Hinrichs: Was hat das denn jetzt für Folgen, wenn diese Genossenschaftsidee als Immaterielles Weltkulturerbe anerkannt worden ist?
    Martens: Ich gehe davon aus, dass die Genossenschaftsidee damit noch stärker in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht, dass man sich wieder verstärkt mit dieser alten Idee beschäftigt und dass daraus auch neue Ideen und Initiativen entstehen, die sich der Genossenschaftsidee zuwenden und damit auch für unsere Gesellschaft neue Impulse geben.
    Hinrichs: Was macht denn die Genossenschaftsidee aus heutiger Sicht attraktiv?
    Martens: Wenn wir uns mal umschauen, die Wohnungssituation. Das ist auch ein altes Genossenschaftsmodell, also die Wohnungsbaugenossenschaften, dass sich Menschen zusammengetan haben, die ein Wohnungsproblem haben und die eben nicht auf andere warten wollen, sondern zur Eigeninitiative greifen, und damit auch ihr Lebensumfeld selbst bestimmen wollen.
    Hinrichs: Gibt es noch andere Felder, wo die Genossenschaftsidee ihre Spuren hinterlassen hat?
    Martens: Ja, auf jeden Fall. Beginnen wir mal bei Hermann Schulze-Delitzsch, der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seiner Genossenschaftsidee begonnen hat. Er hat Volksbanken gegründet. Das war damals ein besonders schwieriges Gebiet, die Finanzierung, also die Kreditbeschaffung, und er hat damit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die wirtschaftliche Entwicklung in kleinen und mittleren Städten gesorgt.
    Anschließend hat Friedrich-Wilhelm Raiffeisen die Landwirtschaftlichen Genossenschaften vorangebracht, und da ging es darum, die rückständige Landwirtschaft zu modernisieren. Ein klassisches Beispiel ist die Gründung der Molkereigenossenschaften. Und dann, so etwa vor hundert Jahren, eben die Gründung einer Vielzahl von Baugenossenschaften, die eben damals der Wohnreformbewegung zum Durchbruch verholfen haben, dass man auch für die Arbeiterschicht bezahlbaren Wohnraum bauen kann, der zudem auch noch modernen Anforderungen wie Licht und Luft entsprochen haben.
    Hinrichs: Bezahlbarer Wohnraum ist ja auch heute ein seltenes Gut. Dann könnte man noch denken, diese Genossenschaftsidee gerade im Wohnungsbereich müsste Auftrieb bekommen.
    Martens: Ja, auf jeden Fall. Man muss allerdings sehen, dass ja gerade Wohnraum im sozialen Wohnungsbau erforderlich ist. Es geht ja sehr häufig um die geringen Einkommen. Da können natürlich auch die Baugenossenschaften nur bedingt einen Lösungsansatz bieten. Sie können zwar ihre Mitglieder oder Interessierte zusammenführen, um dann Wohnungsbau zu betreiben, aber der soziale Wohnungsbau ist, denke ich mal, trotzdem unbedingt erforderlich.
    Und man muss vielleicht auch noch sagen, dass im Wohnungsbau ja auch ganz häufig die Grundstückspreise eine große Rolle spielen. Und wenn nach dem Höchstgebotsverfahren Bauplätze vergeben werden, dann ist es eben auch für die Baugenossenschaften natürlich schwierig, kostengünstigen Wohnraum zu erstellen.
    "Kernwerte sind Solidarität, Gerechtigkeit und Freiwilligkeit"
    Hinrichs: Wie sieht das jetzt in der Praxis aus, wenn jemand überlegt, ich möchte einer Genossenschaft beitreten, auf welcher Ebene auch immer?
    Martens: Die Genossenschaftler regeln ihre Angelegenheiten alle selbst. Es besteht das demokratische Prinzip: Eine Person, eine Stimme. Also alle sind gleichberechtigt. Die Solidarität, die Gerechtigkeit, die Freiwilligkeit, das sind Kernwerte der Genossenschaftsidee.
    Hinrichs: Und jeder macht eine finanzielle Einlage.
    Martens: Jeder beteiligt sich mit einem Anteil an der Genossenschaft.
    Hinrichs: Jetzt hat es ja in unserer Gesellschaft einen Auftrieb der Sharing Economy gegeben in den letzten Jahren. Viele boomende Ebenen, wo Menschen sich etwas teilen, sei es Autos, Wohnungen, Gärten – ist es etwas, was in diesem Kontext auch sich abgrenzt oder die genossenschaftliche Idee fördert?
    Martens: Sicherlich, der Gedanke der Solidarität geht da in die gleiche Richtung. Aber ich würde da doch noch mal unterscheiden. Auch in der Genossenschaftsbewegung gibt es den Bereich des bürgerschaftlichen Engagements. Wenn zum Beispiel in einem kleinen Ort kein Einkaufsladen mehr vorhanden ist, dass man sich dann zusammenschließt, um etwa einen Dorfladen zu betreiben, um die örtliche Versorgung sicherzustellen.
    Es gibt auch andere Beispiele, wo Genossenschaften örtliche Schwimmbäder übernommen haben, weil diese nicht mehr von der Stadt betrieben werden können. Dort sehe ich durchaus Ähnlichkeiten. Versorgungsnetze ist ja zum Beispiel auch ein großes Thema, also Energiegenossenschaften, die sich gründen, um in Regionen oder Städten die Versorgung sicherzustellen, dass man das nicht anonymen Großkonzernen überlassen will.
    Und dann würde ich auch einen dritten Bereich noch nennen: Derzeit sind sehr stark Ärztegenossenschaften zum Beispiel im Kommen, wo sich also Ärzte zusammenschließen, die dann ihre Abrechnung über eine Genossenschaft machen.
    "Auch in der Wissenschaft ist ein verstärktes Interesse festzustellen"
    Hinrichs: Welche Rolle spielen die Genossenschaften eigentlich in der Wissenschaft? Sind sie da Gegenstand der Forschung?
    Martens: Ja, auf jeden Fall. Es gibt eine ganze Reihe von genossenschaftswissenschaftlichen Instituten auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften, auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften, auch im Bereich der Landwirtschaft spielen diese Institute eine große Rolle. Wir stellen eben auch in der Wissenschaft fest, dass in den letzten Jahren wieder verstärkt ein Interesse an der Genossenschaftsidee bei den Studierenden festzustellen ist.
    Hinrichs: Vielen Dank! Doktor Holger Martens war das, Genossenschaftshistoriker, über die Geschichte und möglicherweise Renaissance der Genossenschaftsidee, die neuerdings zum Weltkulturerbe gehört.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.