Völkermord
Wann ist der Begriff Genozid angebracht und wann nicht?

Ob bei pro-palästinensischen Demonstrationen oder bei Solidaritätskundgebungen für die Ukraine: Der Begriff “Genozid” wird derzeit immer häufiger genutzt. Doch es herrschen weiterhin Missverständnisse darüber, was einen Genozid genau ausmacht.

    Das Bild zeigt die Statue eines Mädchen mit traurigem Blick und ausgezehrtem Gesicht, in der Hand einige Getreidehalme, aus dem ukrainischen Nationalmuseums in Kiew zum Gedenken der Holodomor-Opfer
    Den Holodomor, der Hungertod von bis zu sieben Millionen Ukrainern in den 1930er-Jahren, hat der Bundestag nach 90 Jahre “Mord durch Hunger” und Genozid anerkannt. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Nazar Furyk)
    Wer das Wort "Genozid" sagt, dem wird zugehört. Denn der Schreckensbegriff hat heute nicht nur eine rechtliche Bedeutung, sondern erfüllt auch eine politische Funktion: Opfer systematischer Gewalt nutzen ihn, um auf das Ausmaß ihres Leids hinzuweisen. Dabei ist die juristische Aufarbeitung und Anerkennung eines Völkermordes langwierig und komplex.

    Inhalt

    Was genau bedeutet der Begriff "Genozid"?

    Die Begriffe "Genozid" oder "Völkermord" werden oft irrtümlich als Synonyme für "Massenmord" verwendet oder mit besonders schweren Kriegsverbrechen gleichgesetzt. Die präzise juristische Definition grenzt sich indes deutlich ab.
    Strafrechtsprofessorin Stefanie Bock erklärt: “Rechtlich betrachtet ist Völkermord die Tötung eines Mitglieds einer geschützten Gruppe in der Absicht, die Gruppe als solche auszurotten. Es gibt neben der Tötung auch noch weitere einschlägige Tathandlungen, beispielsweise die bestimmte Zufügung von Leid oder auch die Überführung von Kindern."
    Bock betont, dass dabei allein die Absicht des Täters zählt - auch wenn diese in Strafrechtsverfahren besonders schwer nachzuweisen ist und er nicht zum "Ziel" kommt. Theoretisch sei es denkbar, dass bereits die Tötung eines einzelnen Menschen als Völkermord betrachtet werden könne.

    Herkunft des Begriffs "Genozid"

    Der Begriff "Genozid" wurde im Jahr 1944 von dem polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin geprägt. Für die Vereinten Nationen erarbeitete Lemkin die "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" oder auch UN-Genozid-Konvention. Sie ist eine der ältesten UN-Menschenrechtsabkommen.
    Aus dem altgriechischen "génos" (der Stamm, Herkunft oder das Volk) und dem lateinischen "caedere" (töten, morden, metzeln) setzte Lemkin das Wort "Genozid" zusammen. Damit prägte er nicht nur einen völlig neuen juristischen Begriff, sondern löste eine Revolution des internationalen Strafrechts aus.
    Dass die Konvention im Dezember 1948 als Resolution beschlossen wurde, ist kein Zufall. Sie folgte als Reaktion auf die Gräueltaten der Nationalsozialisten, deren Zeuge Lemkin war. Verbrechen der Art der Shoah sollten in Zukunft strafbar und international verfolgbar werden.

    Wie wirksam ist die Völkermordkonvention aus dem Jahr 1948?

    Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ähnliche Taten gelten durch die Konvention als Verbrechen gegen das Völkerrecht: Ihre Folgen betreffen nicht nur einen einzelnen Staat.
    Die Genozid-Konvention verneint zudem jegliche Form der Immunität. Somit können Staatsoberhäupter, Regierungschefs und andere - auch noch aktive - hohe Amtsträger wegen Völkermords angeklagt und bestraft werden.
    Auf nationaler Ebene ist es oft schwierig, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, insbesondere wenn sie selbst Einfluss auf die Strafverfolgung haben. Daher ist - neben den nationalen Gerichten - auch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (IGH) für diese Verbrechen zuständig.
    Am IGH wurde etwa der Völkermord in Ruanda verhandelt. Kritik entstand jedoch aufgrund der geringen Anzahl der Verfahren im Verhältnis zur Schwere des Verbrechens. Auch das Massaker von Srebrenica wurde am IGH verhandelt.
    Die Völkermorde in Ruanda und Srebrenica konnten allerdings trotz Anwesenheit der Vereinten Nationen nicht verhindert werden.
    Zudem erstreckt sich die Aufarbeitung von Massengewalt oft über Jahrzehnte, wie beim Holodomor, dem Hungertod von drei bis sieben Millionen Ukrainern in den 1930er-Jahren. Hier gibt es keine Verantwortlichen mehr, die zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Doch hat der Bundestag 90 Jahre später den "Mord durch Hunger" als Genozid anerkannt.
    Dabei stand nicht die strafrechtliche Verfolgung im Fokus, sondern das politische Zeichen zur Benennung dieses Menschheitsverbrechens. Diese Anerkennung habe für die betroffene Gesellschaft und ihren Heilungsprozess einen großen Wert, so die Strafrechtsprofessorin Stefanie Bock, die auch Direktorin des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse ist.

    Wer kann des Völkermordes beschuldigt und angeklagt werden?

    Jeder Mensch, der bestimmte Handlungen mit der Absicht begeht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe im Ganzen oder teilweise zu vernichten. Als strafbar gelten dabei der Völkermord selbst, der Versuch, die Verschwörung oder Anstiftung zur Begehung von Völkermord und die Teilnahme am Völkermord.
    Menschen, die des Völkermords verdächtigt werden, können vor einem nationalen Gericht im Tatortland oder einem internationalen Tribunal angeklagt werden. Staaten sind verpflichtet, Verdächtige gemäß nationalen Gesetzen und Verträgen auszuliefern.
    Im Vergleich zu anderen internationalen Verbrechen macht den Völkermord der subjektive Tatbestand, also die Zerstörungsabsicht, besonders komplex: Während etwa die Absicht der Nationalsozialisten, jüdisches Leben auszurotten, durch die Wannsee-Protokolle belegt ist, lassen sich genozidale Intentionen in aktuellen Konflikten nicht immer in Strafrechtsverfahren eindeutig nachweisen.

    Völkermorde in der Vergangenheit

    Völkermorde sind seit der Antike ein trauriges Kapitel der Menschheitsgeschichte. Im Verlauf der Jahrhunderte kam es immer wieder zur Auslöschung ganzer Völker, etwa durch die Kolonialpolitik der Europäer. Aber auch in jüngerer Zeit wurden Völkermorde begangen. Weitere Beispiele:
    Holocaust: Während des Zweiten Weltkriegs versuchte das nationalsozialistische Deutschland, die jüdische Bevölkerung Europas zu vernichten. Sechs Millionen Juden wurden zwischen 1941 und 1945 systematisch ermordet.
    Porajmos: Unter der NS-Herrschaft fand auch der Völkermord an den europäischen Sinti und Roma statt. Die genaue Anzahl der Getöteten ist unbekannt, sie liegt zwischen 220.000 und 500.000. Ähnlich wie beim Holocaust an den Juden gingen die nationalsozialistischen Täter auch beim Porajmos geplant und systematisch vor.
    Genozid an den Armeniern: Das Osmanische Reich führte während des Ersten Weltkriegs, im Wesentlichen in den Jahren 1915 und 1916, den systematischen Mord an der armenischen Bevölkerung durch. Schätzungen zufolge wurden dabei bis zu 1,5 Millionen Armenier getötet.
    Völkermord in Ruanda: In einem Zeitraum von etwa 100 Tagen wurden 1994 in Ruanda rund 800.000 Menschen, hauptsächlich Angehörige der Tutsi-Minderheit, durch die Hutu-Mehrheit ermordet.
    Völkermord an Bosniaken: Im Verlauf des Bosnienkriegs kam es zu Vertreibungen und Massakern, darunter 1995 das Massaker von Srebrenica, bei dem etwa 8.000 Bosniaken (bosnische Muslime) von bosnischen Serben getötet wurden.

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