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Genozid von Srebrenica
Brisante Fragen auch nach 25 Jahren ungeklärt

Das Massaker an den bosnischen Muslimen gilt als das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa seit 1945. In nur vier Tagen wurden mehr als 8.000 Männer und Jungen ermordet. 25 Jahre nach Srebrenica stellen Hinterbliebene weiter Fragen zur Rolle der internationalen Gemeinschaft.

Von Dirk Auer |
Memorial Center in Potocari, Bosnia and Herzegovina 11.07.2019., Potocari, Bosnia i Herzegovina - Family members grieving at the Memorial Center in Potocari. A few thousand people came to Potocari for the 24th annual commemoration for the victims of Srebrenica genocide. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY ArminxDurgut/PIXSELL
Memorial Center in Potocari: Mehr als 8.000 Männer und Jugendliche wurden umgebracht (imago images / Pixsell)
Es sind beklemmende Szenen, die ein serbisches Kamerateam am 11. Juli 1995 in der ostbosnischen Stadt Srebrenica aufgenommen hat. Von den ursprünglichen Bewohnern ist niemand zu sehen. Auf den Straßen laufen stattdessen euphorisierte Militärs. Glückwünsche und Küsschen werden ausgetauscht.
Dann spricht der Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Armee, Ratko Mladić, direkt in die Kamera: "Hier sind wir, am 11. Juli 1995, im serbischen Srebrenica. Am Vorabend eines anderen großen serbischen Festtages schenken wir dem serbischen Volk diese Stadt, denn endlich ist der Zeitpunkt gekommen, nach dem Aufstand gegen die osmanischen Tyrannen, auf diesem Boden Rache zu nehmen."
Was in den folgenden Tagen geschah, sprengt bis heute jegliche Vorstellungskraft: Innerhalb von nur vier Tagen wurden rund 8.000 bosnische Muslime auf bestialische Weise umgebracht. Es war das schlimmste Massaker auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und all das geschah in einer Schutzzone der Vereinten Nationen, unter der Anwesenheit von niederländischen Blauhelmsoldaten, die nicht in der Lage waren, das Verbrechen zu verhindern.
Angst und Panik unter eingeschlossenen Muslimen
Zur unfreiwilligen Zeugin wurde die deutsche Krankenschwester Christine Schmitz. Am 24. Juni war sie für die Organisation Ärzte ohne Grenzen mit einem australischen Kollegen in Srebrenica eingetroffen. Ihre Aufgabe war es, die völlig entkräfteten bosnisch-muslimischen Ärzte bei der medizinischen Versorgung der Bevölkerung zu unterstützen. Drei Jahre lang hatte die UN-Schutzzone Srebrenica da schon unter Belagerung der bosnisch-serbischen Truppen gestanden.
Die deutsche Krankenschwester Christine Schmitz arbeitete für Ärzte ohne Grenzen in Srebrenica
Die deutsche Krankenschwester Christine Schmitz arbeitete für Ärzte ohne Grenzen in Srebrenica (Deutschlandradio / Dirk Auer)
"Die Situation hatte sich schon sehr verschlechtert. Es gab nur sehr begrenzte Lebensmitteltransporte, die Medikamente wurden reduziert, Sauerstoff zum Beispiel durfte nicht mehr eingeflogen werden. Daniel und ich hatten uns in den ersten Tagen bei dem Commander der Blauhelme angemeldet, um uns vorzustellen, und ich habe ihn nach seiner Einschätzung der Situation gefragt. Und er hat gesagt, nein, es gibt keine Gefährdung."
Doch schon kurz darauf, am 6. Juli 1995, begann das Drina-Korps der bosnisch-serbischen Armee auf die UN-Enklave vorzurücken. Der Kommandant der niederländischen UN-Blauhelme, Thomas Karremans, forderte Luftschläge der NATO an - vergeblich. Unter den eingeschlossenen Muslimen breitete sich Angst und Panik aus.
"Also, wir haben es vor allem mitbekommen bei unserem männlichen nationalen Personal, die sehr panisch waren und nicht wussten wohin. Am 10. Juli abends war auch es so, dass ein großer Teil des medizinischen Personals zu uns in den Bunker gekommen ist, die um Hilfe gebeten und gefleht haben, dass wir sie retten. Sie waren extrem panisch und haben sicher geahnt, was auf sie zukommt."
Der Screenshot vom niederländischen Fernsehen zeigt holländische UN-Soldaten in Potocari, Bosnien-Herzegowina, vor hunderten von moslemischen Zivilisten, die aus dem nahegelegenen Srebrenica vor serbischem Terror geflüchtet waren.
Das Trauma von Srebrenica: Holländische Soldaten erzählen "Warum haben wir nicht gekämpft?", das ist die Frage, die einigen der UN-Blauhelmsoldaten noch immer durch den Kopf geht, wenn sie an das Massaker von Srebrenica denken. Schuldgefühle plagen sie bis heute.
Nach der Einnahme Srebrenicas durch Ratko Mladics Armee blieb den Muslimen nur die Flucht. Etwa 15.000 Menschen, vor allem Männer, versuchten sich durch die Wälder in bosnisch-muslimisch kontrollierte Gebiete durchzuschlagen. Der Rest der Bevölkerung machte sich auf den Weg zur Basis der UN-Blauhelme im Nachbarort Potocari.
"Auf dem Weg, es sind circa fünf Kilometer, ich kann mich sehr gut erinnern, es war brütend heiß, und viele Menschen sind mit ihren wenigen Habseligkeiten, die Kinder auf dem Arm, am Bürgersteig entlanggelaufen Richtung Potocari. Vor uns fuhr ein UN-Lastwagen. Und die Menschen haben versucht voller Panik, da raufzuklettern, manche haben ihr Baby hochgeworfen. Das war schon wirklich furchtbar. Und währenddessen wurde bombardiert, bis wir dann in Potocari ankamen."
Die UN-Blauhelme waren dort im Gebäude einer ehemaligen Batteriefabrik untergebracht. In den folgenden Stunden trafen immer mehr Flüchtlinge aus Srebrenica ein. Bis sich am Abend etwa 25.000 Menschen auf dem Gelände drängten.
"Also im Gebäude der Vereinten Nationen waren circa 5.000 Menschen. Es gab keine sanitären Anlagen, kaum etwas zu essen. Der andere Teil der Bevölkerung, circa 20.000, hat auf dem freien Feld gelegen und gewartet, was passiert. Die Ungewissheit war das Schlimmste, die Bombardierungen ebenso. Und die Panik und die Angst und die Hitze auch."
Die niederländischen UN-Soldaten hatten da schon jegliche Kontrolle verloren. Das Schicksal der Menschen lag in der Hand der bosnischen Serben, die ebenfalls nach Potocari nachgerückt waren.
Als die Männer abgeführt wurden
Gegen 20 Uhr abends kam es zu einem denkwürdigen Zusammentreffen des UN-Kommandanten Karremans mit Ratko Mladić. Die bosnischen Serben hatten ein Fernsehteam mitgebracht, um die historische Stunde der Demütigung für alle Welt zu dokumentieren.
Immer wieder muss der UN-General die Wutausbrüche von Mladić über sich ergehen lassen. Der Niederländer, nervös und unsicher, kämpft zu diesem Zeitpunkt nur noch um sein eigenes Überleben. Am Ende des Treffens fordert Mladić absolute Kooperation.
Potocari: General Ratko Mladic (links) stößt mit dem niederländischen Offizier Thomas Karremans an (ganz rechts) (12. Juli 1995)
General Ratko Mladic (links) stößt mit dem niederländischen Offizier Thomas Karremans an (12. Juli 1995) (AP Photo)
Währenddessen spitzte sich die Situation vor der UN-Basis zu. In der Nacht mischten sich immer wieder einzelne serbische Soldaten unter die entkräfteten Flüchtlinge. Einzelne Menschen werden herausgezogen, es kam zu Vergewaltigungen und ersten Morden. Der bosnische Muslim Hasan Nuhanovic hat damals für die UN als Übersetzer gearbeitet und erinnert sich an die alles entscheidenden Stunden.
"Wir haben gefordert, dass wenn wir schon nicht auf der UN-Basis bleiben können, dass die Evakuierung ausschließlich von den Vereinten Nationen selbst durchgeführt werden sollte. Aber die niederländischen Blauhelm-Soldaten haben die Leute aufgefordert, dass sie das Gelände verlassen sollten.
"Ich denke, dass war der Moment, in dem die Leute realisiert haben, was wirklich passiert." Draußen steht Ratko Mladic und lässt sich filmen, wie er den Flüchtlingen eine sichere Ausreise verspricht. Busse und Lkw rollen vor. Doch dann dürfen nur Frauen und Kinder einsteigen. Die Männer werden abgeführt.
"Es gibt eine Situation, die für mich symbolhaft für diese Trennung der Väter von ihren Kindern, der Männer von ihren Frauen war. Ein junger, sehr verzweifelter, schwitzender bosnischer Mann kommt auf mich zu, auf dem Arm ein kleines Mädchen, sie hieß Irma. Und er bittet mich, das Kind zu nehmen, weil er weiß, dass er umgebracht werden wird. Er weiß nicht, wo die Mutter des Kindes ist. So nehme ich das Kind. Und er wird tatsächlich später in einem Massengrab gefunden. Das war für mich eine der schlimmsten Szenen."
Niederländische UN-Blauhelm-Soldaten sitzen auf einem Panzer in der Nähe des Dorfes Potocari am 13. Juli 1995. Vor ihnen bosnische Flüchtlinge
Aus dem Archiv: Ein Tag vor der Einnahme Srebrenicas
Seit 1992 herrscht Krieg in Bosnien – im Juli 1995 verschärft sich die Lage in Srebrenica dramatisch. In der UN-Schutzzone befinden sich Zehntausende Zivilisten und die bosnisch-serbische Armee rückt immer näher. Gustav Chalupa berichtet am 10. Juli 1995 in der Dlf-Sendung "Das war der Tag".
Morde binnen weniger Stunden
Der Dolmetscher Hasan Nuhanovic darf als UN-Angestellter bleiben. Auch seine Eltern und seinen Bruder hatte er im UN-Stützpunkt untergebracht. Dort hatte er sie eigentlich in Sicherheit geglaubt.
"Meine Familie war unter den letzten Flüchtlingen, die die Anordnung bekamen, die Basis zu verlassen. Es war etwa 18 Uhr, als drei niederländische Soldaten mit Gewehren kamen und ihnen sagten, dass sie gehen sollen. Das war der schlimmste Moment meines Lebens: Ich wurde getrennt von meinem Bruder und meinen Eltern. Und diese Entscheidung wurde von der UN getroffen, von den Niederländern."
Es war das letzte Mal, dass Hasan Nuhanovic seine Familie gesehen hat. Was in den folgenden vier Tagen an mehreren Orten rund um Srebrenica geschah, ist heute - nach der Aushebung der Massengräber, forensischen Untersuchungen und Zeugenaussagen - gut erforscht. Der Soldat Drazen Erdemovic hat sich als einer der wenigen Angeklagten vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag für schuldig erklärt. Stockend erzählt er, wie er, damals 23 Jahre alt, mit seiner Einheit zu einem Bauernhof bei Pilice geschickt wurde, etwa 70 Kilometer von Srebrenica entfernt.
"Sie sagten uns, dass Busse mit Zivilisten aus Srebrenica kommen würden. Dann fuhren nacheinander die Busse vor. Sie haben die Leute in Zehnergruppen herausgeholt und zu einer Wiese gebracht. Und da haben wir dann die Leute erschossen." Allein auf der Wiese wurden bei Pilice innerhalb von nur fünf Stunden über 1.000 bosnische Muslime ermordet.
Grabsteine der Potocari Gedenkstätte für den Völkermord in Srebrenica. Rund 8.000 männliche Muslime wurden im Juli.1995 in Srebrenica von bosnisch-serbischen Truppen ermordet, obwohl die Stadt UN-Schutzzone war. 
Massaker von Srebrenica: Blick in menschliche Abgründe
Finanziert von der Reemtsma-Stiftung hat der Journalist Matthias Fink ein umfangreiches Buch über das Kriegsverbrechen in Srebrenica geschrieben. Das Werk basiert größtenteils auf auf Geheimdienstinformationen.
Am 21. Juli 1995 zieht das niederländische UN-Bataillon aus Srebrenica ab. Zur Verabschiedung erscheint Ratko Mladić persönlich. Die Stimmung ist heiter, gelöst. Mladić wünscht den Blauhelmen eine sichere Heimreise und überreicht dem niederländischen UN-General ein Geschenk. Ist das für meine Frau, fragt Karremans. Für Sie und ihre Frau, antwortet Mladic. Dann wird noch einmal mit Schnaps angestoßen. Auf den Frieden, prostet Mladić dem UN-General zu und bedankt sich für die Unterstützung.
Es sind Bilder, die einen auch heute noch erschaudern lassen. Auch wenn den UN-Blauhelmen zu dieser Zeit vielleicht noch nicht das ganze Ausmaß des Verbrechens klar war - sie hatten genug gesehen und gehört, dass sie wenigstens eine Ahnung haben konnten.
Jahre später wird ein Richter des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Den Haag den stellvertretenden Blauhelm-Kommandanten, Major Franken, mit der unangenehmen Tatsache konfrontieren: "Sie haben die Männer an ihre Schlächter übergeben." Und der Major antwortet: "Das ist korrekt Sir, ich hatte diese Befürchtung."
Niederländische Mitschuld an dem Verbrechen
Die Rolle des niederländischen UN-Bataillons sollte ein juristisches Nachspiel bekommen: 2014 urteilte das Landgericht in Den Haag, dass der niederländische Staat zivilrechtlich eine Mitschuld an dem Verbrechen trage - zwar nicht am Tod aller rund 8.000 Opfer, aber sehr wohl für jene etwa 350 Männer, die sich in direkter Obhut der niederländischen Soldaten im UN-Hauptquartier befanden. Bereits ein Jahr zuvor war ein ähnliches Urteil ergangen. Hasan Nuhanović hatte die Niederlande wegen unterlassener Hilfeleistung verklagt: Die niederländischen Blauhelme hätten nichts unternommen, um seine Familie vor der Ermordung durch die bosnischen Serben zu schützen.
"Was wir die Niederländer fragten, war, dass sie uns erlauben auf der Basis zu bleiben. Wenn wir dort für ein paar Tage oder eine Woche geblieben wären, dann hätte die Welt von unserer Situation erfahren, und die UN hätte einen Konvoj geschickt, um die Leute sicher zu evakuieren. Aber die Niederländer wollten nicht, dass wir bleiben. Und so haben die Serben dann ihre eigenen Lkw und Busse geholt und die Leute deportiert."
A woman walks past a graffiti representing former Bosnian Serb leader Radovan Karadzic (shown here as Doctor Dabic from the time he was in hiding) on the wall of a tavern in Belgrade on March 20, 2019. - Former Bosnian Serb leader Radovan Karadzic will spend the rest of his life in jail for the "sheer scale and systematic cruelty" of his crimes in the war that tore his country apart a quarter of a century ago, UN judges said on March 20, 2019. Karadzic, 73, stood motionless and grim-faced in the dock as judges in The Hague said they had upheld his 2016 convictions for genocide in the Srebrenica massacre and war crimes in the 1990s. (Photo by Andrej ISAKOVIC / AFP)
Graffiti mit dem Bild des früheren bosnischen Serbenführers Radovan Karadzic in Belgrad (AFP)
Brisant bleibt auch die Frage nach den Gründen für die ausgebliebene NATO-Luftunterstützung. Westliche Geheimdienste hatten schon Wochen vor dem Massaker die Information, dass die bosnisch-serbische Armee die UN-Schutzzone angreifen wollten. Warum wurde die Information nicht weitergegeben? Gab es heimliche Absprachen über einen Gebietsaustausch zur Schaffung ethnischer homogener Regionen, um damit den Friedensschluss zu erleichtern? Egal, wie man diese Fragen beantwortet: Unter den Angehörigen und Überlebenden des Massakers hat das internationale Versagen zu nachhaltiger Verbitterung geführt.
Hasan Nuhanovic: "Die ganze Zeit wurde uns versprochen, dass die UN-Sicherheitszone geschützt wird. Und bis zum allerletzten Moment, bis zum 11. Juli, hatten wir auf die UN gehofft, dass sie uns helfen. Aber wir waren betrogen von der ganzen Welt. Die Holländer, die UN, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen: Sie waren Mittäter in diesem Verbrechen."
Die eigentlichen Täter immerhin, die Generäle und Soldaten der bosnisch-serbischen Armee, haben sich vor Gericht verantworten müssen. Das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und bosnische Gerichte haben bislang 40 Angeklagte für das Massaker von Srebrenica verurteilt. Darunter Radovan Karadzic und Ratko Mladić. Sie bekamen 2017 und 2019 eine lebenslängliche Haftstrafe.
Juristisch haben viele Opfer dadurch Gerechtigkeit erfahren, aber das reicht nicht aus, betont die Juristin Lejla Gacanica aus Sarajevo: "Das Tribunal in Den Haag hatte tatsächlich eine wichtige Funktion: Zeugen haben ausgesagt, die Fakten wurden benannt. Aber wir haben ein Problem mit der Anerkennung der Fakten, wie sie in den Gerichtsverfahren zweifelsfrei festgestellt wurden - und nicht nur mit der Anerkennung, sondern sogar ihrem aktiven Leugnen."
Moschee in einem Stadtteil von Sarajevo (dt. auch Sarajewo), Hauptstadt und Regierungssitz von Bosnien und Herzegowina. 
Muslime in Bosnien: Die verkannten Europäer
Bosnien-Herzegowina besteht aus zwei selbständigen Landesteilen: In der Föderation bilden Muslime die Mehrheit, in der Republika Srpska wird die muslimische Minderheit zur Zielscheibe anti-islamischer Propaganda. Die Aufnahme in die EU soll die politischen und religiösen Konflikte entschärfen.
25 Jahre nach Kriegsende werden in Bosnien-Herzegowina auch von Politikern viele Kriegsverbrechen immer noch geleugnet und relativiert. Mehr noch: Verurteilte Kriegsverbrecher werden sogar als Helden gefeiert. In der Kleinstadt Pale etwa, während des Kriegs ein Zentrum der bosnisch-serbischen Nationalisten, ist ein Studentenwohnheim nach dem verurteilten Kriegsverbrecher Radovan Karadzic benannt. Insbesondere für die Überlebenden und Angehörigen der Ermordeten ist so etwas unerträglich. Lejla Gacanica beteiligt sich deshalb an einer zivilgesellschaftlichen Initiative, die sich für ein Gesetz gegen die Leugnung von Kriegsverbrechen einsetzt.
"Nachdem unsere Gesellschaft es nicht geschafft hat, sich selbst die notwendigen Grenzen zu setzen und jede Empathie mit den Opfern fehlt, denke ich, dass eine gesetzliche Regulierung tatsächlich ein notwendiger Schritt ist. Wenn wir ein solches Gesetz hätten, könnte man nicht mehr einfach öffentlich sagen, dass zum Beispiel der Genozid in Srebrenica nicht stattgefunden hat. Es würde unter Strafe stehen."
Seit 2003 eine Gedenkstätte für die Opfer des Genozids
Die Chance, dass in Bosnien-Herzegowina eine solches Gesetz in absehbarer Zeit verabschiedet wird, ist jedoch denkbar gering. Anfang des Jahres wurde eine entsprechende Initiative durch ein Veto des serbisch dominierten Landesteils Republika Srpska niedergeschmettert. Doch das Gesetz wäre ohnehin nur ein Baustein. Eine verantwortungsvolle Erinnerungskultur müsse etabliert werden, betont Lejla Gacanica - in allen gesellschaftlichen Bereichen: in der Bildung, der Kultur und den Medien.
"Das Problem ist, dass es inzwischen eine Generation von jungen Leuten gibt, die den Krieg überhaupt nicht erlebt hat. Alles, was sie davon wissen, wissen sie durch die Schule, die Medien und von den politischen Parteien; sie übernehmen einfach, was ihnen vorgesetzt wird. Wenn wir aber weiterhin Straßen nach Kriegsverbrechen benennen und alle diese problematischen Denkmäler haben, wenn wir weiterhin die Verbrechen leugnen oder sogar glorifizieren, dann sind wir auf einem wirklich gefährlichen Weg.
Mitarbeiterin Internationale Kommission für vermisste Personen, Identifizierung von Opfern aus Srebrenica.
Mitarbeiterin der Internationalen Kommission für vermisste Personen bei der Identifizierung von Opfern aus Srebrenica (imago images / i Images)
Immerhin: In Srebrenica gibt es seit 2003 eine Gedenkstätte für die Opfer des Genozids von 1995. Sie liegt direkt gegenüber der stillgelegten Batteriefabrik, wo sich während des Kriegs die niederländischen Uno-Soldaten eingerichtet hatten. Um die Gedenkstätte herum erstreckt sich der Friedhof mit bislang 6.600 Gräbern. Und jedes Jahr, am 11. Juli, kommen neue dazu, wenn die sterblichen Überreste jener Ermordeten begraben werden, die in den vergangenen zwölf Monaten neu entdeckt und identifiziert wurden. Für die Angehörigen endlich ein Abschluss. Auch Hasan Nuhanovic hat viele Jahre warten müssen, bis er endgültige Gewissheit über das Schicksal seiner Familie hatte.
"Nach Srebrenica bin ich sofort nach Tuzla gegangen. Ich hatte gehofft, dass ich dort Informationen über den Verbleib meiner Familie bekäme. Ich wollte wissen, ob es vielleicht jemanden gab, der überlebt hat. Du verlierst nie die Hoffnung. Du hast erst dann Sicherheit, wenn Dich eine Organisation informiert, dass es bei einer gefundenen Leiche eine DNA-Übereinstimmung gegeben hat. Und das ist bei mir im Fall meines Vaters zehn Jahre später passiert. Und bei meiner Mutter und meinem Bruder 15 Jahre später."
Das Europaparlament hat den 11. Juli zum Gedenktag erklärt. An diesem Tag treffen jedes Jahr, seit 2005, auch die Teilnehmer des "Marsch des Friedens" in Srebrenica ein. Der Marsch ist eine viertägige Wanderung, mit der an den Fluchtversuch jener 10.000 Muslime erinnert wird, die im Juli 1995 versucht hatten, sich durch die Wälder in das 50 Kilometer entfernte Tuzla durchzuschlagen. Auch die Krankenschwester Christine Schmitz haben die Erlebnisse in Srebrenica nicht losgelassen. Sie hat im Prozess gegen Ratko Mladić aussagt, und schon bald ist sie auch wieder nach Srebrenica zurückgekehrt. Auch an dem Friedensmarsch hat sie schon mehrere Male teilgenommen.