Spengler: Teilen Sie Perles Ansicht, dass die UNO versagt hat?
Genscher: Auf gar keinen Fall: Eine Organisation kann nicht besser sein, als ihre Mitglieder ihr erlauben, gut zu sein. Ich bin der Überzeugung, dass die moralische Autorität der Vereinten Nationen nach dieser Entwicklung stärker sein wird, denn es wird sich die Einsicht durchsetzen, dass, gäbe es die UNO nicht, sie jetzt erfunden werden müsste, aber es gibt sie und wir wollen ja eine internationale Rechtsordnung haben und nicht eine internationale Machtordnung.
Spengler: Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob man moralische Autorität hat oder ob man wirklich politische Macht hat?
Genscher: Es gibt eine Weltmeinung, die zunehmend entsteht, die sich hinter die UNO stellt, und wenn wir einmal bedenken, dass der britische Premierminister sich jetzt bei seinem Besuch in den Vereinigten Staaten darum bemüht hat, der UNO zumindest für die Zeit nach den Kampfhandlungen eine Rolle zuzuweisen, liegt darin, natürlich auch die Einsicht, dass es ohne die UNO nicht geht und nicht gehen darf, und interessanterweise hat sich auch der spanische Ministerpräsident Aznar dieser Meinung angeschlossen. Es sieht so aus, als ob die beiden Staaten schon erkennen, dass sie nach Europa zurückkehren müssen, und das heißt auch in die bewährten Institutionen der internationalen Rechtsordnung.
Spengler: Nun fehlt ja dummerweise der Dritte im Bunde: Das sind die Vereinigten Staaten. Teilen Sie die Analyse, dass es im Kern um die Frage geht, ob über den Weltfrieden künftig in den Vereinten Nationen oder im Weißen Haus entschieden wird?
Genscher: Sie haben in Ihrer Anmoderation von dem multipolaren System gesprochen und damit kommen Sie in der Tat auf eine Kernfrage. Die lautet nämlich, ob die bipolare Weltordnung, also die Welt des Kalten Krieges, bestimmt vom Gegensatz der westlichen Demokratien mit den USA und der Sowjetunion mit ihren Zwangsverbündeten, durch eine unipolare, auf Washington konzentrierte und von dort auch dominierte Weltordnung hinausläuft oder auf eine multipolare. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir auf dem Wege in eine multipolare Weltordnung sind, und ich denke, dass jetzt alle Anstrengungen - vor allem auch der Europäer - darauf gerichtet werden müssen, die Vereinigten Staaten davon zu überzeugen, dass nur eine Rechtsordnung, die von der Ebenbürtigkeit und Gleichberechtigung der Staaten - übrigens auch der großen und der kleinen - ausgeht, dauerhaft Frieden und Stabilität in der Welt garantieren könnte. Wir sind als Europäer ja nicht nur Theoretiker auf diesem Gebiet. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, nach schrecklichen europäischen Brüderkriegen und den zwei Weltkriegen, hat gezeigt, dass in dem Augenblick, in dem sich Gleichberechtigte auf gemeinsamen Werten basierend ebenbürtig begegnet sind und die Luxemburger und die Deutschen, die Belgier und die Franzosen zu einer Friedensordnung gekommen sind, das eine gute Weltordnung ist.
Spengler: Das ist wohl war, Herr Genscher, aber das Problem sind und bleiben doch die USA. Die sehen das doch im Augenblick scheinbar nicht so. Was macht Sie so sicher, dass wir auf dem Weg in eine multipolare Welt sind und nicht in eine unipolare, was die meisten Beobachter zur Zeit befürchten?
Genscher: Es werden, ohne Zweifel, in der gegenwärtigen Administration - ich würde nicht von den Vereinigten Staaten und den Amerikanern sprechen - sehr beachtliche Stimmen in den Vereinigten Staaten auch laut, die durchaus dafür eintreten, die UNO in ihrer Vollwirksamkeit zur Geltung kommen zu lassen. Darauf muss man setzen. Ich sage das übrigens nicht nur für die UNO, sondern ich sage das auch für die NATO. Das was Herr Perle von sich gegeben hat, stellt das bewährteste Instrument transatlantischer Zusammenarbeit und auch globaler Stabilität, nämlich die NATO, in Frage. Das ist eine gefährliche Entwicklung, und die Tatsache, dass er zurückgetreten ist, macht uns noch nicht von der Sorge um die NATO frei, denn er ist aus anderen Gründen als aus dem Grunde der Meinungsverschiedenheit zurückgetreten.
Spengler: Die NATO funktioniert aber nur, wenn das Prinzip der Partnerschaft funktioniert...
Genscher: Dafür plädiere ich ja auch und wenn Sie bedenken, mit welchem Erfolg dieses Prinzip der Partnerschaft es vermocht hat, in der Zeit des Kalten Krieges die westliche Sicherheit zu garantieren und darüber hinaus, durch eine gemeinsame Politik die Spaltung Europas, Deutschlands und im Grunde der ganzen Welt friedlich zu überwinden, dann sollte man Bewährtes nicht zur Seite legen und man sollte die Union nicht zur Seite legen, die sich bewährt hat und die gerade erst nach dem Ende des Kalten Krieges die Chance bekam, voll wirksam zu werden.
Spengler: Aber wie holt man die Amerikaner wieder zurück? Müsste man ihnen entgegen kommen, zum Beispiel über eine Neuordnung der UNO und des Abstimmungsprozederes nachdenken?
Genscher: Wenn man über solche Fragen zu reden hat, glaube ich aber nicht, dass das das Grundproblem ist. Natürlich muss man Organisationen fortentwickeln. Darüber gibt es keinen Zweifel.
Spengler: Welches ist denn das Grundproblem?
Genscher: Es geht um die Frage: Stellt man die UNO in Frage? Ich habe auch keine konkreten Vorstellungen, die in diese Richtung vorangebracht werden, sondern hier geht es wirklich um das Primat der internationalen Rechtsordnung. Ich sage das mit besonderer Betonung deshalb, weil ich am 12. September 1990 den Zwei-Plus-Vier-Vertrag für Deutschland unterzeichnet habe, wo sich das vereinte Deutschland verpflichtet hat, seine Waffen nicht zu erheben, es sei denn in Übereinstimmung mit unserer Verfassung und mit der Satzung der Vereinten Nationen. Die anderen Unterzeichner waren die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich, England und die damals noch bestehende Sowjetunion. Ich denke, dass das auch von den anderen Unterzeichnern akzeptiert werden muss, nämlich dass die Vereinten Nationen ihre Rolle zu erfüllen haben und wir werden jetzt einen Test bekommen, wenn es darum geht, die Nachkriegsordnung für den Irak zu bestimmen und wenn es darum geht, auch dazu beizutragen, dass die Kernfrage des Nahen Ostens, nämlich der palästinensisch-israelischen Konflikt friedlich überwunden wird.
Spengler: Herr Genscher, ich habe immer noch nicht ganz verstanden, wie wir die Amerikaner Ihrer Ansicht nach wieder zurückholen können?
Genscher: Jedenfalls nicht dadurch, dass wir uns gegenseitig über den Atlantik beschimpfen, sondern in bewährter Partnerschaft einen dichten Dialog aufnehmen. Das ist die große Verantwortung. Diese Zusammenarbeit zwischen Europa und Amerika hat sich in der Vergangenheit bewährt. Wir haben auch Probleme gehabt, und nicht zu wenig und ganz sicher nicht geringe. Es soll jetzt darauf ankommen, dass wir hier einen dringlich gewordenen transatlantischen Dialog über diese Fragen eröffnet. Ich bin in dieser Frage immer zuversichtlich und werfe nicht die Flinte ins Korn.
Spengler: Hoffen wir, dass Ihre Zuversicht berechtigt ist. Das war der ehemalige Bundesaußenminister, Hans-Dietrich Genscher.
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