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Genug Zeit für kulturellen Austausch

Paläoanthropologie. - Der aus Afrika stammende moderne Mensch hat Europa bis zu 5000 Jahre früher erreicht als gedacht. Das ergab die erneute Analyse zweiter alter Fossilienfunde. Warum die Geschichte von der Besiedlung Europas umgeschrieben werden muss, erklärt die Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich im Gespräch mit Ralf Krauter.

Dagmar Röhrlich im Gespräch mit Ralf Krauter | 03.11.2011
    Krauter: Frau Röhrlich, einen Unterkiefer und zwei Milchzähne haben die Forscher, die heute im Fachmagazin "Nature" schreiben, genauer unter die Lupe genommen. Woher waren diese Funde?

    Röhrlich: Der Unterkiefer stammt aus Kents Cavern in Devon in England und wurde in den 20er-Jahren gefunden. Und die beiden Milchzähne aus der Grotta del Cavallo in Apulien aus den 60er-Jahren, da war dieser Fund dann. Diese Milchzähne, die sind jetzt auf 44.000 Jahre datiert worden und man hat durch CT-Analysen festgestellt, dass sie nicht vom Neandertaler abstammen, wie man bislang gedacht hat, sondern vom modernen Menschen. Und bei dem Unterkiefer ist es so, da hat man gedacht, der ist 35.000 Jahre alt. Und durch moderne Analysen hat man ihn jetzt auf 42.500, das ist Spitzenreiter für Nordwesteuropa, 42.500 Jahre, gebracht sozusagen.

    Krauter: Das heißt, diese Funde waren früher praktisch falsch datiert und auch falsch klassifiziert worden?

    Röhrlich: Genau. Man hat einfach mit den damaligen Methoden sie nicht richtig eingeordnet. 5000 Jahre länger, im Maximum sozusagen, ist die Zeit, in der Neandertaler und moderne Menschen in Europa gelebt haben. Das ist also schon eine ganz ordentliche Überlappungszeit von 200 bis 300 Generationen. Die modernen Menschen sind also nicht in einem leeren Raum gekommen, sondern man kann jetzt mit Fossilien nachweisen, dass es tatsächlich eine Zeit gab, wo man Neandertaler-Funde hat und moderne Menschen. Denn das hatte man bislang nicht. Man wusste, der Neandertaler war noch da, aber es gab keine Fossilien von modernen Menschen, die in dieses Alter zurückreichen.

    Krauter: Das heißt, diese lange Koexistenz, von der man jetzt weiß, von Neandertaler und modernen Menschen, das ist das eigentlich spannende, gar nicht dieser Altersrekord. Als Laie kann man ja sagen: Gut, 5000 Jahre früher oder später, was ändert das eigentlich? Aber diese parallele Koexistenz, das ist das interessante?

    Röhrlich: Ja, diese Überlappungsperiode. Denn damit werden einige Fragen ganz neu aufgeworfen, beziehungsweise, man kann noch einmal ganz neu nach Antworten suchen. Es geht um das Verschwinden der Neandertaler. Man kann jetzt fragen: Haben die sich hier getroffen, sich gegenseitig umgebracht, wie es das gewesen [mit der] Nahrungskonkurrenz? Da kann man jetzt genauer nachschauen. Die kulturelle Entwicklung des Neandertalers kann neu begutachtet werden, denn in seiner Endphase hat er plötzlich andere Werkzeuge als vorher hergestellt. Er hat mehr Pigmente genutzt, man hat auch erstmals Schmuckherstellung gesehen. Als war immer die Frage: Hat er das vom modernen Menschen gelernt, oder aber ist es eine Eigenentwicklung gewesen. Da kann man jetzt auch nachschauen. Man könnte sagen, dass da wirklich das abgeschaut worden ist, das muss man jetzt überprüfen. Und man kann einige Kulturen richtig zuschreiben, beispielsweise in Italien war es so, dass diese Funde, diese Backenzähne, mit verschiedenen Werkzeugen und Schmuckstücken zusammen waren, so dass man gedacht hat, das stammt vom Neandertaler. Aber jetzt weiß man, die stammten vom modernen Menschen.

    Krauter: Es gab also mehr Zeit für kulturellen Austausch. Das könnte erklären, warum der Neandertaler dann doch plötzlich relativ pfiffige Erfindungen mancherorts zustandebrachte. Ist das denn häufig der Fall, dass solche Funde neu interpretiert werden müssen? Man fragt sich ja, wie lange ist dieser Befund jetzt gültig? Also das ein paar Zähne und Kieferknochen dazu führen können, die Dinge so neu zu bewerten, deutet darauf hin, dass die Datenbasis dann doch nicht so dicht ist, dass man da immer präzise Aussagen treffen kann?

    Röhrlich: Also, mit den modernen Methoden gelingt es jetzt auch beispielsweise Neandertaler Funde viel präziser zu datieren. Es ist einfach sehr schwierig, weil das ja über Radiokarbon funktioniert. Und da ist so wenig noch drin in diesen Funden, wenn die älter als 30.000 Jahre sind, dass es einfach wahnsinnig schwierig ist, damit zu arbeiten. Und das war auch ein großer technischer Aufwand jetzt notwendig, man musste Vergleichsstücke hinzuziehen, weil der Unterkiefer beispielsweise mit falschen Chemikalien damals behandelt worden ist, so dass man ihn so eigentlich gar nicht mehr gebrauchen konnte. Das sind sehr aufwändige Methoden, die dazu führen, dass man eine solche Neubewertung machen kann. Und da wird es bestimmt noch einige Überraschungen geben.