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Geoffroy de Lagasnerie: "Die Kunst der Revolte"
"Die Demokratie befindet sich in einer Einbahnstraße"

Die Whistleblower Edward Snowden und Julian Assange leben beide im Exil. Für den französischen Intellektuellen Geoffroy de Lagasnerie ist das eine neue, unkonventionelle Form des Widerstands gegen die Staatsgewalt. In Anbetracht der Massenüberwachung durch demokratische Staaten brauche es solch radikalen Ideen, meint er.

Von Stephanie Rohde |
    Edward Snowden bei einer Videokonferenz im Juni 2014.
    Der Whistleblower Edward Snowden bei einer Videokonferenz. Für Geoffroy de Lagasnerie ein Vorbild für neues politisches Handeln. (FREDERICK FLORIN / AFP)
    Etwas Grundlegendes hat sich verändert – nur wir haben es noch nicht bemerkt. Und zwar,
    "…dass wir im Umfeld der Figuren von Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning gegenwärtig das Auftauchen von etwas Neuem erleben.”
    Von einer historisch beispiellosen Form des Protests, die Geoffroy de Lagasnerie meint entdeckt zu haben. Whistleblower wie Edward Snowden würden vorschnell als "Feiglinge" oder "Verräter" abgetan. Das aber verstelle den Blick auf das Neue, das in ihrem Handeln aufblitze: Das Nicht-Erscheinen und Sich-Entziehen. Der Charme des Denkens des französischen Philosophen und Soziologen liegt in der Umdeutung bekannter Deutungen. Für ihn zeigt sich in der Anonymität und der Flucht nicht etwa die Schwäche von Snowden, Assange oder Manning, sondern deren wahre Radikalität.
    "Diese drei Persönlichkeiten stellen nicht nur das in Frage, was sich auf der politischen Bühne abspielt, und die Art und Weise, wie es sich abspielt: Sie stellen die politische Bühne selbst in Frage.”
    Sie hätten eben keine konventionelle dialogische Auseinandersetzung mit dem Staat auf der politischen Bühne gesucht. Sie leisteten Widerstand gegen einen demokratischen Staat, der nichtdemokratisch handelt, wenn er Bürger anlasslos massenhaft überwacht. Klassischer ziviler Ungehorsam, könnte man meinen. Aber:
    "Ungehorsam kann man nur gegenüber einem Gesetz sein, das man als seines anerkennt.”
    "Die Demokratie befindet sich in einer Einbahnstraße"
    Genau das aber hätten Assange und Snowden nicht getan, sie wollten nicht zur Verantwortung gezogen werden von einem Staat, der selbst nicht zur Verantwortung gezogen werden will. Damit hätten sie gezeigt, dass konventioneller Widerstand überholt sei. De Lagasnerie erklärt:
    "Wir brauchen diese neuen Dissidenten, weil die Demokratie befindet sich wirklich in einer Einbahnstraße, in einer ritualisierten, kodifizierten Einbahnstraße, und in diese Einbahnstraße gehört auch der ritualisierte Protest, Demonstrationen, ziviler Ungehorsam, Memoranden. Die ganze traditionelle Art sich zu wehren, sind Teil des Systems, sie sind nicht nur reproduzierbar, sondern sie werden vom Staat letztendlich auch erwartet und haben dadurch ihren subversiven Charakter vollständig verloren.”
    Das Subversive der drei Figuren liegt laut dem Philosophen darin, dass sie politisches Handeln des Einzelnen neu denken.
    "Ihre Existenz fordert uns auf, uns andere Möglichkeiten vorzustellen, wie wir uns zum Gesetz, zur Nation, zur Staatsbürgerschaft verhalten können.”
    Das von ihm als "neu” gefeierte Phänomen des Nicht-Erscheinens findet sich schon beim italienischen Philosophen Giorgio Agamben. In "Die kommende Gemeinschaft” schlägt er vor, politische Sichtbarkeit aufzulösen in eine Beliebigkeit des Subjekts. De Lagasnerie lotet aus, was diese Unsichtbarkeit theoretisch bedeuten würde. Sie würde die Möglichkeit eröffnen "das Rederecht umzuverteilen, indem die Kosten der Politik gesenkt werden – mehr noch, indem die Idee aufgelöst wird, der zufolge die Politik die Handelnden etwas kosten müsse.”
    De Lagasnerie lobt die Anonymität des Protests zu vorschnell
    Konkret heißt das: Als anonym Handelnder muss sein Leben nicht mehr aufs Spiel setzen, wenn man den außerhalb des Rechts agierenden Staat zu mehr Rechtsstaatlichkeit bringen oder zwingen will. Dieser Gedanke ist theoretisch spannend, leuchtet allerdings praktisch nicht ein, wenn man bedenkt, dass Manning zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde, gerade weil sie sich anonym einem Hacker anvertraut hat, der sie verraten hat. Zudem muss de Lagasnerie einräumen:
    "Snowden und Assange treten im öffentlichen Raum auf. Sie bekennen sich zu ihren Handlungen, und man kennt ihre Namen. "
    Sie haben also bewusst nicht anonym gehandelt. Der Philosoph muss sich also den Vorwurf gefallen lassen, die Realität der Protestierenden zu vernachlässigen zugunsten des theoretischen Arguments über den Protest.
    Doch auch theoretisch scheint de Lagasnerie die Anonymität des Protests etwas vorschnell zu feiern. So vermisst man eine Reflexion darüber, inwiefern absolute Anonymität in sozialen Räumen, also auch dem Internet, überhaupt möglich ist und inwiefern es nicht schon immer Formen des anonymen politischen Handelns gegeben hat, da Anonymität lediglich die fehlende Zuordnung einer Handlung zu einer Person ist.
    Bemerkenswert ist, dass die politische Forderung nach Anonymität und Abschaffung der alten Protestformen nicht neu ist: Man kennt sie vom anonym veröffentlichenden "Comité invisible" und seinem revolutionär-militanten Manifest "Der kommende Aufstand". Hier dient Anonymität allerdings nur als Mittel zum Zweck, um den Staat mit Sabotageakten zu bekämpfen. De Lagasnerie kommt zu einem ganz anderen Schluss: Wer raus will aus der politischen Ohnmacht, muss das Politische neu denken. Und der Staat muss politisch Handelnde neu denken, wenn er sich selbst weiter legitimieren will.
    "Meine Reflexion ist keinesfalls anarchistisch", sagt de Lagasnerie.
    "Ich bin ja nicht dafür, dass man den Staat abschafft, dass man Rechte abschafft, das ist ja nicht das, was ich sage, ich versuche nur zu analysieren, dass wir eine neue Politik brauchen, wir brauchen neue juristische Strukturen, wir brauchen neue Gesetze, die eben auch das Individuum schützen und nicht nur die Interessen von Nationalstaaten vertreten."
    De Lagasnerie schweben dabei idealistische Konzepte vor, wie das von den Weltbürgern, die sich ihre Zugehörigkeit nicht mehr von Nationalstaaten vorschreiben lassen, und überraschende Protestformen wie das anonyme Whistleblowing nutzen, um den Staat zu destabilisieren.
    Ob die Protestform des Whistleblowings nun neu ist oder nicht, ist letztlich irrelevant. Im Kern geht es in "Die Kunst der Revolte” nämlich um die alte Frage, wie Bürger sich der Willkür des Staats entziehen können – und in Anbetracht der Massenüberwachung durch demokratische Staaten werden radikale Gedankenanstöße wie die von de Lagasnerie dringend gebraucht.
    Geoffroy de Lagasnerie: Die Kunst der Revolte - Snowden, Assange, Manning. 158 Seiten, Suhrkamp, 19,90 Euro.