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Geograf zum Kaschmir-Konflikt
Kriegerische Auseinandersetzung ist unwahrscheinlich

Der Verlust des Sonderstatus würde für Kaschmiris vor allem Nachteile etwa beim Eigentum oder bei Positionen im öffentlichen Dienst bedeuten, sagte der Geograf Hermann Kreutzmann. Zwischenfälle an der Grenze gehörten zum Alltag, Kaschmir sei ein sehr kompliziertes Umfeld.

Hermann Kreutzmann im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
Bewaffnete Soldaten stehen bei einem Armee-Laster auf einer Straße
Indien hat den Sonderstatus von Kaschmir aufgehoben: Soldaten kontrollieren seitdem verstärkt in der Region (AFP/Rakesh Bakshi)
Die indische Regierungspartei wolle, dass keine Provinz einen Sonderstatus für Muslime behalten dürfe, sagt Hermann Kreutzmann von der FU Berlin im Dlf. Besonders im Tal von Kaschmir, was sehr stark von Muslimen dominiert sei, sei die Aufregung groß.
Konkret bedeute der Sonderstatus, dass es Sonderrechte gebe, wie Eigentumsrechte und Positionen im Öffentlichen Dienst oder bei der Stipendienvergabe. Kaschmiris würden befürchten, nicht mehr auf die reservierten Positionen im öffentlichen Dienst zurückgreifen zu können.
Es gebe regelmäßig, tagtäglich Zwischenfälle an der Grenze, sagte Kreutzmann. Er sei aber nicht jemand, der sofort einen Krieg befürchte.

Das komplette Interview zum Nachlesen:
Tobias Armbrüster: Kaschmir, diese Region im Himalaya, genau auf der Grenze zwischen Indien und Pakistan, diese Region gilt seit Jahrzehnten als Krisenherd. Drei Kriege hat es um Kaschmir schon gegeben, jetzt nehmen die Spannungen dort wieder zu. Ausgelöst hat das die indische Regierung mit ihrer Entscheidung gestern, dem indisch kontrollierten Teil der Region den Sonderstatus zu entziehen. Dieser Sonderstatus, der hat die Spannungen in und um Kaschmir seit Jahrzehnten unter Kontrolle gehalten, jetzt könnte dort alles wieder aufbrechen. Wir wollen das etwas eingehender besprechen.
- Am Telefon ist der Asienforscher Hermann Kreutzmann von der Freien Universität Berlin, er verfolgt den Konflikt um die Kaschmirregion seit vielen Jahren. Schönen guten Morgen, Professor Kreutzmann!
Hermann Kreutzmann: Guten Morgen, Herr Armbrüster!
Armbrüster: Herr Kreutzmann, was treibt den indischen Regierungschef bei dieser Entscheidung an?
Kreutzmann: Ja, wir haben es ja in Kaschmir mit einem der längsten Konflikte zu tun, der so alt ist wie Indien und Pakistan. Und Indien hat eine Strategie schon seit vielen Jahren verfolgt, aus diesem internationalen Konflikt, mit dem er 1947 begann, einen bilateralen Konflikt zu machen, das war nach dem Friedensschluss 1972 in Simla. Und jetzt ist es der dritte Schritt, nämlich, aus einem bilateralen Konflikt einen internen Konflikt zu machen oder eine interne Regelung zu machen. Das ist eine alte Forderung der BJP, der Regierungspartei von Premierminister Modi. Und eine Forderung, dass keine Provinz einen Sonderstatus für Muslime behalten soll in Indien.
Es gibt ja andere Sonderstatusgebiete auch im Nordosten, aber das ist die einzige Provinz oder der einzige Unionsstaat in Zukunft, der eine muslimische Mehrheit hat. Und das war der BJP schon lange ein Dorn im Auge. Das Zweite, was dazugehört, ist, dass es die Opposition war, die Kongresspartei, die diesen Ausgleich mit Scheich Abdullah schon 1949 und Pandit Nehru ausgehandelt hatte. Es ist also ein Status, der sehr stark mit der Kongresspartei verbunden ist. Und die BJP hat immer mehr einen Einfluss in den letzten Jahren in Kaschmir gewonnen und möchte das, glaube ich, auch noch verstärken durch die Möglichkeit, dass es Zuzug geben kann.
"Muslime sind besonders in Aufregung"
Armbrüster: Dann müssen wir uns die Lage dort in diesem indisch kontrollierten Teil von Kaschmir genauer ansehen. Das ist eine Region, Sie haben es gesagt, in der leben mehrheitlich Muslime, dort gibt es eine muslimische Mehrheit. Im Rest von Indien natürlich eine hinduistische, eine Hindu-Mehrheit. Was befürchten jetzt die Muslime in Kaschmir, nachdem die indische Regierung gesagt hat, dieser Sonderstatus wird aufgehoben?
Kreutzmann: Ja, der indisch verwaltete Bereich von Kaschmir ist eigentlich ein dreigeteilter Bereich. Es gibt das hinduistisch dominierte Jammu, es gibt das Tal von Kaschmir, in dem die Muslime die Mehrheit haben, das sind 68 Prozent der Bevölkerung, und dann haben wir dieses kleine Gebiet von Ladakh, in dem es mehrheitlich Buddhisten und Muslime gibt. Und ungefähr 28 Prozent der Bevölkerung sind Hindus in Kaschmir. Das heißt also, die Befürchtung, die am stärksten ausgeprägt ist, ist im Tal von Kaschmir, das sehr stark von Muslimen dominiert ist, und die sind besonders in Aufregung im Moment. Jammu, das ja an die hinduistischen Provinzen angrenzt, das würde davon profitieren. Und da gibt es sehr viel Unterstützung eigentlich für diese Gesetzesänderung, die den Zuzug von Hindus ermöglicht.
Armbrüster: Also konkret gibt es da die Befürchtung unter den Muslimen, dass diese Region, dieser indisch kontrollierte Teil der Region jetzt komplett von Hindus übernommen wird, dass die dort einwandern, Jobs möglicherweise wegnehmen, Immobilien und Grundstücke kaufen?
Kreutzmann: Ja, das wäre eben der längerfristige Prozess. Sonderstatus bedeutet ja immer, gerade in Indien, aber auch in Pakistan, dass es diese Sonderrechte gibt, die Sie schon angesprochen haben. Das bezieht sich darauf, wie Eigentumsverhältnisse geregelt sind, aber es bezieht sich auch auf Positionen im öffentlichen Dienst, es bezieht sich auf die Stipendienvergabe. Es gibt immer sogenannte "reserved seats" in Indien, die reservierte Posten beinhalten für diejenigen, die aus einer bestimmten Provinz kommen. Und wenn sich jetzt diese Bürgerrechte ändern, dass Leute sich auch registrieren lassen können in Kaschmir, befürchten viele Leute, dadurch verlieren sie die Möglichkeit, auf diese reservierten Positionen im indischen öffentlichen Dienst zurückgreifen zu können.
Armbrüster: Herr Kreutzmann, wir stellen diese Frage vielen Experten in diesen Tagen, mit denen wir über Kaschmir sprechen, deshalb auch an Sie die Frage: Ist das eine, de facto, Annektierung durch Indien von Kaschmir?
"In einem sehr komplizierten Umfeld"
Kreutzmann: Wir sind in Kaschmir in einem sehr komplizierten Umfeld. Wir haben in Indien und Pakistan ähnliche Regelungen. Beide Teile Kaschmirs, Azat-Kaschmir in Pakistan und Jammu und Kaschmir in Indien, haben eine eigene Verfassung, waren also außerhalb der indischen und der pakistanischen Verfassung. Und das war eigentlich gedacht, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, weil beide Länder den Anspruch auf den jeweils anderen Teil nicht aufgeben wollten.
Jetzt, wenn diese Regelung aufgehoben wird, ist das nicht nur eine Destabilisierung des Verhältnisses, so wie der Ministerpräsident von Azat-Kaschmir ja auch sehr kämpferisch gerade verkündet hat in Ihrem Beitrag, sondern es geht auch darum, dass die Verwaltungsrechte geändert werden. In Pakistan gibt es ein Gebiet, das heißt Gilgit-Baltistan, das dazugehört, das seit Langem verlangt, dass es den Status bekommen sollte, den jetzt das indische Jammu und Kaschmir bekommt.
Also es gibt Leute, die sind sehr stark daran interessiert, in den Nationalstaat integriert zu werden mit allen Rechten und allen Pflichten, die dieser Nationalstaat zu bieten hat. Und es gibt diejenigen, die als Kämpfer sich für eine kaschmirische Sache einsetzen, die ein einheitliches Kaschmir wollen. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die Kaschmiris als politische Bevölkerungsgruppe, dass diese Kaschmiris daran sehr stark interessiert sind, vielleicht auch eine dritte Lösung zu favorisieren, nämlich eine Lösung unabhängig von Indien und Pakistan. Und das ist deren Verhandlungspfund sozusagen.
Armbrüster: Das heißt, die Bewohner in dieser Region, egal, ob sie nun in einer Region leben, die von Indien oder von Pakistan kontrolliert wird, die könnten sich, sagen Sie, untereinander verständigen, dass sie eigentlich mit keinem von beiden Ländern wirklich so eng verbunden sein wollen?
Kreutzmann: Ja, das ist ja die Situation, die wir in Jammu und Kaschmir, im indisch verwalteten Gebiet, schon seit Jahrzehnten jetzt haben. Wir haben ja zigtausende von Toten, die von indischen Sicherheitskräften umgebracht worden sind, weil es interne Unruhen gibt. Die indische Regierung möchte gerne Pakistan immer dafür verantwortlich machen. Pakistan ist sicher auch für einzelne Dinge verantwortlich zu machen, aber nicht für das grundsätzliche Problem, das in Kaschmir herrscht. Nicht umsonst sitzen die beiden ehemaligen Ministerpräsidenten Kaschmirs unter Hausarrest jetzt, nachdem gestern diese Regelung verkündet worden ist. Denn sie stehen durchaus in der Opposition zu der Zentralregierung in Delhi.
"Tagtäglich gibt es an der Grenze Zwischenfälle"
Armbrüster: Was ist dann, Herr Kreutzmann, Ihre Vorhersage für das Szenario, was wir jetzt erleben werden in der Region? Was könnte da in den kommenden Wochen passieren?
Kreutzmann: Also es gibt verschiedene Szenarien, die man sich vorstellen kann. Es ist erst einmal überraschend gewesen, dass diese Verfassungsänderung, die ja auch unter legalistischen Prinzipien sehr umstritten ist und auch für Indien eine große Herausforderung an die Demokratietreue darstellt und sicher ein innenpolitisches Thema für lange Zeit bleiben wird. Das ist so ein Zweig, den wir erleben werden.
Wir werden jetzt sehr viel Aufregung hören in den nächsten Wochen und Monaten, denn etwas, was sozusagen wie ein Status Quo sich seit 1972 entlang der Grenze als der Line of Control, wie sie heißt, als faktische Staatsgrenze abgebildet hat, ist jetzt ein bisschen infrage gestellt worden. Es gibt Eskalationspotenzial, aber ich bin eigentlich derjenige, der nicht gleich das Kriegsszenario, auch heute nicht, am Hiroshima-Tag, an die Wand malen möchte, dass die beiden Atommächte dieses sozusagen als einen Anlass für eine neue kriegerische Auseinandersetzung sehen würden.
Wir haben das im Februar gesehen dieses Jahres, als es den ersten Zwischenfall gab mit dem abgeschossenen Jetfighter und dem Piloten, der dann ausgetauscht worden ist zwischen Indien und Pakistan, dass es Eskalationen gibt. Es gibt regelmäßig, tagtäglich gibt es an der Grenze Zwischenfälle. Nicht umsonst ist die UNO-Truppe da seit 1949 und kontrolliert beide Seiten der Grenze, was übrigens ein Hinweis darauf ist, dass es weiterhin ein internationaler Konflikt seitens der Vereinten Nationen ist und nicht ein internes Problem Indiens, wie Herr Modi uns gerne wissen lassen möchte. Es kann vieles passieren an Eskalationen in dem Sinne, dass politisch sehr stark gestritten wird. Aber ich vermute nicht, dass es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommen wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.