Mascha Drost: Ein Engelskuss hat den Schweizer Autor Lukas Bärfuss heute getroffen. Als Engelskuss bezeichnete er die wichtigste literarische Auszeichnung, den Georg-Büchner-Preis, der ihm heute zuerkannt wurde.
Als einen Schriftsteller mit distinkter und rätselhafter Bildersprache, der die Welt mit furchtlos prüfendem, verwundertem und anerkennenden Blick begleitet, ehrt in die Jury.
Lukas Bärfuss ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Theaterautoren. Er verhandelt Sterbehilfe, Selbstmord und Genozid auf der Bühne aber auch in Erzählungen, Essays und Romanen.
In der Jurybegründung heißt es, Bärfuss betreibe "Gesellschaftsanalyse am Einzelfall". Ich habe den Deutschlandfunk-Literaturredakteur Hubert Winkels gefragt: Wen oder was genau analysiert er? Welche Themen interessieren ihn?
Hubert Winkels: Ja, das ist sozusagen der falsche Weg in sein Werk oder zu ihm. Tatsächlich hält er sich sowohl in Theaterstück wie auch im Roman an einzelne Szenen, an einzelne Personen. Und die werden dann in einen Kontext gestellt, oder es entwickelt sich langsam, der eine politische Dimension offenbart. Das Politische ist nie das Vordringliche. Er hat mal schön geschrieben: Es gibt in der deutschsprachigen Literatur eine Angst vor dem Heinrich-Böll-Syndrom; dass man als politischer Gutmensch – ich glaube, er hat sogar den Ausdruck benutzt – identifiziert wird und ab da als Schriftsteller nur noch sekundär wahrgenommen wird. Und dann, sagt er, sagen viele, dann lieber ein schlechter Mensch sein als das.
"Bärfuss hat verschiedene Ausdrucksformen zur Verfügung"
Drost: Er möchte also kein Aktivist sein, kein literarischer Aktivist. Was für eine Sprache findet er denn für seine Werke?
Winkels: Das Schwierige beim Beurteilen von Lukas Bärfuss ist eigentlich die Vielfalt seiner Stile. Er schreibt ja in verschiedenen Genres, was ja auch besonders ist, dass jemand als Theaterautor so bekannt ist wie als Romanautor und als Essayist. Wenn ich das einfügen darf, glaube ich auch, dass die Wahl auf ihn gefallen ist, weil wieder einmal ein Theaterautor ausgezeichnet werden musste. Wir hatten Lyriker gelegentlich in den letzten Jahren, aber ich glaube, die letzte Theaterautorin war Elfriede Jelinek vor 20 Jahren. Und davor lange nichts. Ich glaube, das war schon ganz wichtig. Und er hat also verschiedene Ausdrucksformen zur Verfügung. Aber auch innerhalb seiner Prosa oder seiner Theaterstücke sucht er auch immer nach anderen und unterschiedlichen Wegen. Oftmals hat er so eine mittelkomplizierte Erzählkonstruktion; also der Ich-Erzähler kennt meist einen, der dann auch erzählt als Ich-Figur und das dann weitergibt. So eine kleine Fluchtbewegung in der Erzählkonstruktion.
Was mir von seiner gesamten dramaturgischen Anlage der Texte oder "großen" Romane – so umfangreich sind sie ja nicht – eigentlich am besten gefällt, ist, dass er anfängt mit einem bestimmten Thema – das kann auch politisch sein: ein Industrieller, der sich zu Tode schuftet und selbstoptimierend tätig ist, und der eine Frau sieht, vor allem die Schuhe dieser Frau, die Farbe der Schuhe, die sind taubenblau. Und dann kippt dieser Roman vollkommen von der psychosozialen Charakterisierung dieses Typus in eine Begehrensschleife, die ins Nichts führt oder in den Tod, wenn man so will. Er kommt nie mehr ab von den Schuhen, von diesen taubenblauen Schuhen. Denn es ist natürlich hinreißend, wenn wir diesen Weg verfolgen, den Weg des Begehrens. Und auch darüber hat er in Essays relativ steile Thesen verbreitet, über "Krieg und Liebe", dass er sagte – sehr zugespitzt: Wenn man die patriarchalen Formen des Begehrens auflöst, ist der Preis dafür das Begehren selber. Das ist natürlich ein ungeheurer Satz, wenn man ihn ganz, ganz ernst nimmt.
Was man aber bei ihm auch nicht immer kann, weil er einer der wenigen ironischen Autoren ist, der ganze essayistische Seiten schreiben kann, die in uneigentlicher Rede sind, aber man es eigentlich nicht merkt. Also, man muss bei ihm sehr vorsichtig sein. Die Sache kann komplett kippen. Er hat auch schon mal alle Leser beschimpft: Dass, während sie das tun, irgendwo anders schwerste Verbrechen passieren, sie sich nicht um Krankheiten auf diesem Planeten kümmern, dass sie verdruckste Flüchtlinge vor den Wirklichkeiten des Lebens sind, also alle Leser schöngeistiger Literatur.
"Auf keinen Fall einfach einzuordnen"
Drost: Also, er hält den Leuten auch den Spiegel vor.
Winkels: Ja, zieht ihn dann aber auch wieder weg. Er ist einer der wenigen Autoren, der - bei aller Ernsthaftigkeit der Themen, und er kann auch und soll ernst genommen werden – doch immer zeigt, dass es eine andere Perspektive gibt. Und das ergibt oft einen gewissen Humor seiner Texte oder manchmal auch eine totale Irritation. Er arbeitet mit Ambivalenzen. Und das ist schon mal ganz wichtig und groß. Und das beantwortet ein bisschen Ihre erste Frage, warum er kein politische Autor im eigentlichen Sinne sein will.
Drost: Und ist er ein würdiger Büchner-Preisträger?
Winkels: Ja. Erstens aus den genannten Gründen, weil er Theaterstücke schreibt und in verschiedenen Genres tätig ist. Und weil er als Typus quasi politisch-literarisch unterwegs ist, aber in keiner Weise mehr dem Bild eines klassischen politisch engagierten Autors entspricht. Sondern es ist wirklich etwas Anderes daraus geworden, eine andere Verbindung dieser beiden Formen, die Welt zu sehen. Und die ist schwer, als "bärfussig" auszumachen, aber sie ist auf keinen Fall einfach einzunorden. Und das ist schon viel wert.